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Anthony Giddens

AutorJörn Lamla
VerlagCampus Verlag
Erscheinungsjahr2003
Seitenanzahl172 Seiten
ISBN9783593400426
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis16,99 EUR
Anthony Giddens ist einer der wichtigsten Soziologen der Gegenwart. Seine Theorie der Strukturierung steht gleichrangig neben großen soziologischen Entwürfen wie der Systemtheorie. Zugleich gilt er als scharfsinniger Analytiker der Spätmoderne und als Theoretiker der englischen Sozialdemokratie, vor allem mit seinen Überlegungen zur Politik des »Dritten Weges«. Seine zeitdiagnostischen und politischen Texte bieten zahlreiche Anregungen in aktuellen Debatten - von G wie Globalisierung bis S wie Sexualität.

Jörn Lamla, Dr. phil., ist wissenschaftlicher Assistent am Institut für Soziologie der Justus-Liebig-Universität Gießen. Bei Campus erschien von ihm Grüne Politik zwischen Macht und Moral (2002).

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Leseprobe

|22|1 Die Strukturierung sozialer  Ungleichheit


Wo sich soziale Ungleichheiten zwischen Individuen oder Gruppen dauerhaft reproduzieren, spricht die Soziologie von der Verfestigung einer sozialen Struktur. An diesem exemplarischen Gegenstand lässt sich die Theorie der Strukturierung von Giddens gut veranschaulichen: Deren Grundgedanke, soziale Strukturen auf die laufende Strukturierung und Re-Strukturierung individuellen Handelns zurückzuführen und nicht auf gesellschaftliche Verhältnisse oder Funktionen zu reduzieren, taucht schon in Giddens’ früher Analyse zur Klassenstruktur fortgeschrittener Gesellschaften auf und wird später an Paul Willis’ berühmter Fallstudie zur Bildungsbenachteiligung von Arbeiterkindern von ihm vertieft.

Nachdem Anthony Giddens Ende der 1960er und Anfang der 1970er Jahre seine intensiven Auseinandersetzungen mit den Werken soziologischer Klassiker – insbesondere von Karl Marx, Max Weber und Emile Durkheim – zu ersten Buchveröffentlichungen und zahlreichen Aufsätzen verarbeitet hatte, realisierte er sein erstes theoretisch und zeitdiagnostisch ausgerichtetes Projekt: Seine 1973 veröffentlichte Studie Klassenstruktur |23|fortgeschrittener Gesellschaften (KStr) zielt auf eine Revision der älteren Klassentheorien und versucht, die Frage nach der Relevanz sozialer Klassen in den kapitalistischen und staatssozialistischen Gesellschaften zu beantworten. Diese Frage wirkt aus heutiger Sicht etwas anachronistisch, doch ist die dahinter stehende »Frage der sozialen Ungleichheit« (vgl. TWC) brandaktuell. Hier ist vor allem die Tatsache von Interesse, dass Giddens bereits in diesem Buch eine Analyseperspektive einführt, die wichtige Einsichten seiner Sozialtheorie vorwegnimmt: Die »wichtigeren Probleme in der Klassentheorie«, so heißt es an zentraler Stelle, betreffen das, »was ich in Ermangelung eines besseren Wortes die Strukturierung von Klassenbeziehungen nennen werde« (KStr 127).

In soziologischen Analysen sozialer Ungleichheiten und speziell sozialer Klassen hat der Begriff der Struktur einen festen Platz. Während empirische Sozialstrukturanalysen Individuen oder Haushalte mit Schichtmerkmalen wie Einkommen etc. oftmals nur beschreibend klassifizieren, wird in Klassentheorien dem Strukturbegriff auch Erklärungskraft zugesprochen. So zeichnet sich eine Klassengesellschaft »nicht nur dadurch aus, dass es in ihr Klassen gibt, sondern dadurch, dass die Klassenverhältnisse von primärer Bedeutung für die Erklärung und Einschätzung weiter Bereiche menschlichen Verhaltens sind« (KStr 162). Wo die soziale Mobilität innerhalb und zwischen den Generationen so weit eingeschränkt ist, dass die Lebenswege der Individuen maßgeblich durch ihre Klassenzugehörigkeit vorgezeichnet sind, werden Klassen zum bestimmenden »Wesenszug der sozialen Struktur als Ganzer« (ebd.). Mit Klassen sind dann Faktoren verbunden, die eine Schließung von Gruppengrenzen bewirken und Ausbeutungsverhältnisse installieren und die von einer Seite verteidigt, von der anderen abzuschaffen versucht werden. Die These aus dem 1848 erstmals veröffentlichten »Kommunistischen Manifest«, wonach die Geschichte eine »Geschichte von Klassenkämpfen« sei, gibt hierfür |24|eine strukturelle Erklärung: Für Marx und Engels (1972, S. 416) folgt aus den ungleichen ökonomischen Eigentumsverhältnissen einer Gesellschaft, dass sich zwei Klassen mit antagonistischen Interessen bekämpfen.

In der Marxschen Unterscheidung von »Klasse an sich« und »Klasse für sich« steckt allerdings das offene Problem, inwiefern die handelnden Akteure auch ein historisches Bewusstsein von den Klassenverhältnissen ausbilden müssen, damit diese tatsächlich strukturentscheidend für die gesellschaftliche Entwicklung werden. Einerseits hatte Marx mit Blick auf die Produktionsweise und den Stand der Produktivkraftentwicklung eine allgemeine ökonomische Gesetzmäßigkeit postuliert. Andererseits lief seine konkrete historische Erklärung über den politischen Machtkampf. Vorausgesetzt war also, dass ökonomische Verhältnisse zu politischen Kämpfen führen, in denen sich die Klassen zu schlagkräftigen Kollektiven zusammenfinden und politisch organisieren. Marx’ Theorie schien hier eine objektive Klassenkampfmechanik zu unterstellen.

Dies hat Max Weber (vgl. [1922] 1980, S. 177ff., 531ff.) kritisiert und vorgeschlagen, die Dichotomie von Klassenverhältnissen zugunsten eines differenzierteren Modells von Klassenlagen, das auch Mittelklassen kennt, fallen zu lassen. Das Konzept der »sozialen Klasse« bezeichnet bei Weber ([1922] 1980, S. 177, 180; KStr 54f.) ein empirisch abgrenzbares »Bündel von Klassenlagen«, innerhalb dessen Mobilität – sei es innerhalb einer Biografie oder zwischen den Generationen – relativ normal ist, über dessen Grenzen hinaus Auf- oder Abstieg aber unwahrscheinlich wird. Über diese formale Bestimmung hinaus bleibt sein Konzept jedoch unscharf. Hier setzt Giddens (vgl. KStr 94f.) an und fordert, genauer die verschiedenen Mechanismen zu analysieren, die bei der Herausbildung sozialer Klassen zusammenkommen müssen. Im Gegensatz zur theoretischen Fundierung der Klassen in politischen Herrschaftsverhältnissen |25|bei Ralf Dahrendorf (1959)1 sieht Giddens mit Marx und Weber weiterhin ökonomische Markt- und Machtverhältnisse als zentrale Größe der Klassenstruktur im Kapitalismus an. Aber diese Faktoren allein liefern keine Erklärung, solange nicht geklärt ist, wie »›ökonomische‹ Beziehungen in ›nicht-ökonomische‹ soziale Strukturen übersetzt werden« (KStr 127), das heißt, inwiefern etwa der unterschiedliche Besitz von Geld oder Produktionsmitteln den Alltag und das Selbstverständnis der Individuen prägen.

Unter welchen Voraussetzungen wird also aus dem latenten Merkmalskomplex ökonomischer Ungleichheiten im Kapitalismus eine historische dynamische Kraft, die das soziale Leben maßgeblich gestaltet? Diese Frage wendet den Blick von der abstrakten Struktur in Richtung der konkreten Strukturierung sozialer Klassen: »(Eines) der spezifischen Ziele der Klassenanalyse empirischer Gesellschaften besteht notwendigerweise darin zu bestimmen, wie stark in irgendeinem gegebenen Fall sich das ›Klassenprinzip‹ als eine Strukturierungsweise durchgesetzt hat« (KStr 133). Mit dieser empirischen und historisch offenen Ausrichtung steht Giddens’ Klassenanalyse exemplarisch für sein später ausgearbeitetes Verständnis von Struktur und Strukturierung. Aus diesem Grund soll seine klassentheoretische Argumentation hier etwas weiter verfolgt werden (vgl. auch Müller 1992, S. 196ff.).

Klassen (und allgemein: Strukturen) werden bei Giddens nicht als soziale Entitäten aufgefasst, die wie Organisationen |26|oder Großsubjekte von selbst handeln oder kollektive Identitäten ausbilden können. Aber Klassen werden auch nicht auf rein nominale Merkmalskategorien oder Skalenordnungen reduziert, wie es in der soziologischen Schichtungsanalyse geschieht. Sie haben reale Kraft und Bedeutung, ohne schon die ganze soziale Realität auszumachen. Entscheidend sind nach Giddens die Instanzen und Mechanismen, die eine latente Klassenstruktur in das ›wirkliche Leben‹ übertragen. Solange ein solches Wirksammachen in der sozialen Praxis nicht tatsächlich vonstatten geht, bleibt ihre Reproduktion ungewiss. Ob Klassenstrukturen im Verlauf der Geschichte reproduziert werden oder nicht, hängt also davon ab, in welcher Weise Faktoren, die in die Institutionen und hier vor allem in ökonomische Marktbeziehungen eingelagert sind, mit solchen Faktoren zusammenspielen, die das soziale Leben auf direktere Weise lenken: Giddens trennt zwischen der mittelbaren und der unmittelbaren Strukturierung von Klassenverhältnissen. »Klassen als unterscheidbare Formationen« gibt es nur »in dem Ausmaß, in dem die verschiedenen Ursachen der mittelbaren und unmittelbaren Klassenstrukturierungen sich überschneiden« (KStr 133). Gegen deterministische Vorstellungen gerichtet, schreibt er ökonomischen Verhältnissen und Strukturen also nur mittelbare Wirkungen zu – ohne deshalb die Aspekte der institutionellen Infrastruktur gering zu schätzen.

Unter mittelbaren Faktoren, deren Existenz als notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung differenzierter Klassenformationen angesehen werden kann, versteht Giddens in erster Linie Machtverteilungen in den ökonomischen Marktbeziehungen. Diese strukturellen Ungleichheiten der Marktmacht können eine soziale Schließung von Mobilitätschancen fundieren und sind im Kapitalismus vor allem durch drei Faktoren bedingt: »Eigentum an Produktionsmitteln; Verfügung über Ausbildungs- oder technische Qualifikationen; und Verfügung über manuelle Arbeitskraft« (KStr 130). Weitere Strukturgrundlagen |27|dieser ungleichen Marktkapazitäten sind staatliche und rechtliche Institutionen, die eine Sphäre marktförmiger...

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