Auszüge aus dem Erstling „Das zweite Leben“ von Marceline Selm

Wieder jemand, der über seine Krankheit schreibt…..

Ja, das stimmt. Nur möchte ich keine negativen Erfahrungsberichte weitergeben.

Ich will mit meiner eigenen Geschichte und der ein paar anderer Menschen dem  Schreckgespenst Krebs die Macht der Negativität  nehmen und aufzeigen, wie betroffene Menschen mit dieser Krankheit umgegangen sind oder eventuell immer noch umgehen. Es scheint mir dabei wichtig, nicht die Krankheit in den absoluten Vordergrund zu stellen. Die Lebensgeschichten der betroffenen Personen sind für mich genauso wichtig, wie die Krankheiten an sich.

Krebs muss heute keinesfalls Tod bedeuten. Krebs kann sehr gut und erfolgreich behandelt werden. Wir müssen nur etwas umdenken und die alten Muster und Suggestionen loslassen und uns mit mehr Vertrauen dem medizinischen und ebenfalls dem komplementären Fortschritt öffnen.

Zugegeben, dies ist leichter gesagt als getan. Deshalb scheint es mir wichtig Betroffenen und Angehörigen mit meinen Berichten Mut zu machen. Richtig, Angehörige. Denn alle sprechen meist vom Patienten. Aber sind nicht auch der Partner, die Kinder, die Eltern und viele mehr betroffen? Meist sehen diese „Randbetroffenen“ leidend zu und sind oft mit der Situation überfordert. Niemand denkt daran,  wie auch diese Menschen leiden.

Vielleicht lernen wir irgendwann, wenn das Vertrauen grösser geworden ist, dass Krebs oft heilbar ist.  Es gibt ja auch Menschen, die an einer Grippe sterben und es gibt halt Menschen, die an Krebs sterben. An irgendetwas muss der Mensch sterben, ob uns das nun passt oder nicht. Natürlich gibt es sehr tragische Umstände, wenn die betroffenen Menschen mitten im Leben stehen und ihren Verantwortungen noch einige Jahre nachkommen sollten …

Ich habe früher (vor meiner Krebserkrankung) gedacht, dass es  jemand, der plötzlich und unerwartet stirbt, viel besser hat als ein Krebspatient. Die betroffene Person weiss ja dann nichts von ihrem Schicksal. Krebspatienten sah ich immer mit der einen Hälfte des Sarges umhergehen, im Ungewissen, wann die zweite Hälfte hinzukommt. Heute sehe ich es anders. Wir Krebspatienten bekommen die Chance den Tag ganz bewusst zu leben. So als wären da nur noch wenige Zeiten. Wir dürfen uns ganz bewusst mehr zuliebe tun, haben sozusagen ein Alibi dafür.

Man sollte jedenfalls die Krankheit nutzen und nicht einfach so weiter machen wie vorher. Das Leben ist schliesslich einmalig, man kann es nicht einfach wiederholen, wie eine Klasse oder dergleichen. Wenn es vorbei ist, dann ist es vorbei. Endgültig, es gibt kein Wiederholen.

Aber niemand weiss mit absoluter Gewissheit, wie viel an Leben noch bleibt. Nicht einmal der behandelnde Arzt. Es gibt natürlich Statistiken, die Prognosen aufzeigen, doch jeder Mensch ist individuell, einmalig. Deshalb passiert es des Öfteren, dass jemand mit einer relativ guten Prognose nur kurze Zeit weiter lebt, nachdem Krebs diagnostiziert wurde. Eine andere Person, die man vielleicht bereits aufgegeben hat, aber trotz der widrigen Umstände überlebt und sehr alt wird.  Es gibt also immer Ausnahmen. Wer sagt uns, wer eine Ausnahme ist und wer nicht? Niemand, weil es niemand im Vorfeld wissen kann. Unser mangelndes Vertrauen hindert uns daran zu glauben, dass gerade wir, die Krebspatienten, eine Ausnahme sind. Schliesslich sind Ausnahmen ja selten, was ja dieses Wort bereits aussagt. Vielleicht kennen wir auch andere Menschen, die mit der gleichen Krebsart nicht oder nicht lange überlebt haben. Vielleicht hat uns auch der behandelnde Arzt oder die behandelnde Ärztin mit einer Prognose konfrontiert. Vielleicht wollten wir auch lieber an den bevorstehenden Tod statt an das Leben glauben…..

Zu diesen negativen Einstellungen stehen die Betroffenen natürlich vordergründig nicht. Man gibt sich nach aussen optimistisch, man leugnet seine Angst und seine Gefühle, man ist ja schliesslich stark!

Viele Krebspatienten ziehen sich nach der niederschmetternden Diagnose zurück. Die Öffentlichkeit wird gemieden, man geht nur noch selten aus dem Haus.

Bestimmt ist die aufzuwendende Kraft, nach einer so niederschmetternden Diagnose wie Krebs, weiter zu leben keinesfalls zu unterschätzen. Wir dürfen zuerst schockiert, ohnmächtig, wütend und natürlich traurig sein. Wir sollten aber vor allem die Angst zu lassen und diese Angst auch benennen. Denn angst ist immer dabei.

Sicher dürfen wir uns zunächst zurückziehen, um als Erstes einmal alleine mit dem Ganzen ein kleines bisschen fertig zu werden.

Schliesslich kommen bei den meisten bald unweigerlich Gedanken an den Tod. Das ist völlig normal und legitim. Der Tod betrifft ja immer die anderen, nicht aber uns selber oder jemanden mit dem wir verwandt oder bekannt sind! Doch mit der Diagnose Krebs hat der Tod an unsere persönliche Türe geklopft. Wir können ihn hereinlassen, draussen stehen lassen oder wir können ihn uns ansehen. Sehen wir den Tod wie einen Hausierer. Ist er uns im Grossen und Ganzen willkommen, so lassen wir ihn wohl in unser Haus. Macht er uns aber keinen guten Eindruck, verabschieden wir uns freundlich aber bestimmt von ihm, mit dem Hinweis, dass wir im Moment keinen Bedarf an den gebotenen Dingen haben.

Wir alle wissen wohl, dass das Leben begrenzt ist und wir eines Tages sterben müssen. Nur sehen wir diese Grenze nicht. Sie ist für gesunde Menschen unsichtbar, unwirklich und fern.

Bekommt jemand aber die Diagnose Krebs, so wird diese unsichtbare und unwirkliche Grenze mit einem Male für die Betroffenen vermeintlich sichtbar. Ein Krebspatient glaubt die Grenze zu sehen und überlegt sich, wie viel Zeit ihm wohl noch bleibt, bis er zu dieser Grenze gelangt. Er fragt sich, wie die Zeit bis zur Ankunft an diese Grenze wohl sein wird. Leidvoll, schmerzhaft und kurz? Oder leidvoll, schmerzhaft und lang, vielleicht qualvoll lang?

Leider hat ja wohl jeder von uns schon diese schrecklichen Geschichten über Krebspatienten und ihre Behandlungen gehört…. Erfolgreiche Behandlungen werden komischerweise weniger oft weiter erzählt, als Behandlungen, die dem Tod keinen Einhalt gebieten konnten. Ich glaube sogar, dass die meisten von uns eine Krebsgenesung nicht wirklich für wahr haben wollen. Insgeheim erwarten die Menschen, dass der Krebspatient dann schon noch am Krebs stirbt. Wahrscheinlich dauert es halt jetzt bei dem „Genesenden“ etwas länger, bis ihn der Tod einholt.

Mit meinen Lebensberichten von Krebspatienten, die den Krebs hinter sich gelassen haben, möchte ich den Leser in erster Linie positiv unterhalten. Man kann über Krebs eigentlich ganz locker sprechen, er ist ja keine Seuche oder so etwas. Es ist mir aber auch wichtig Hoffnung zu geben, denn wirklich niemand weiss, wie eine Sache aus geht.

Die erste Chemotherapie dauerte etwa drei Stunden. Nach circa einer Stunde ist es mir irgendwie komisch geworden. Keine Übelkeit, einfach nur komisch. Vielleicht kann man dieses Gefühl am besten mit leichtem Angetrunkensein vergleichen. Man steht irgendwie neben den eigenen Schuhen. Dieses Gefühl war aber nicht weiter schlimm.

Endlich waren alle Infusionsflüssigkeiten in meinem Körper verschwunden. Ich durfte heim. Mein Mann war wieder die ganze Zeit bei mir und das werde ich ihm nie vergessen. Mein Wohlbefinden hatte bei ihm oberste Priorität. Er wollte einfach immer bei mir sein und das war auch gut so.

Daheim legte ich mich sofort hin, denn etwas „kaputt“ fühlte ich mich schon. Trotzdem kam ein warmes Glücksgefühl in mir hoch. Ich   d  u r f t e  diese Behandlung machen. Ich hatte diese Möglichkeit bekommen meinen Körper eventuell vom Krebs zu heilen. Noch vor wenigen Jahrzehnten mussten Menschen mit dieser, meiner, Krankheit einfach sterben. Meistens hat man gar nicht herausgefunden, was die Menschen eigentlich gehabt hatten. Sie wurden schwächer und schwächer, bis sie schliesslich starben. So gesehen hatte ich unheimliches Glück, das war ich mir in diesem Moment bewusst. Ich spürte eine tiefe Dankbarkeit gegenüber dem Fortschritt. Eine grosse Zufriedenheit stellte sich in meinem Geist ein. Es fiel mir plötzlich ganz leicht mich meiner Abgeschlagenheit hin zu geben, sie zu akzeptieren, als Teil meiner möglichen Heilung. Ich war für den Notfall mit den richtigen Medikamenten versorgt und die Natelnummer meiner Ärztin hatte ich ebenfalls. Mit dieser Gewissheit ging ich schlussendlich ins Bett und es störte mich nur wenig, dass der Schlaf nach drei Stunden vorbei war. Ich war zufrieden, denn ich hatte erwartet, überhaupt keinen Schlaf zu finden. Nun schaute ich einfach ein bisschen fern. So in der Nacht, das war auch neu für mich. Zum Lesen fehlte mir die Energie.

Das Glas ist halb voll oder halb leer? Ich versuche meistens ein halb volles Glas zu haben, es lebt sich besser damit.

Meine Ärztin informierte mich bezüglich der Chemotherapie in etwa so: „Die erste Woche wird es ihnen wahrscheinlich nicht so toll gehen, in der zweiten Woche wird es besser und in der dritten sollte so ziemlich ein normales, gutes Befinden sein.“ Diese Aussage brachte mir folgendes Bild: Eine Woche bin ich festgenagelt und wenig zu gebrauchen. Ich darf und muss mich schonen. In der zweiten Woche beginnen langsam meine Ferien und in der dritten Woche sind diese voll da!

Der nächste Tag war ein Freitag. Es war ein wunderschöner und sonniger Tag. Nachmittags wollte ich zu Fuss nach Wittenbach laufen. Diese Strecke misst ca. 4,5 Kilometer und eignet sich hervorragend für einen etwas längeren Marsch. Ich machte mich also am frühen Nachmittag auf den Weg, weil ich die herbstlichen Sonnenstrahlen geniessen wollte. Als ich so ganz alleine unterwegs war und mich wieder einmal mit meinem Haarverlust geistig auseinander setzte, kam mir ein rettender Gedanke. Was sollte ich mich grämen wegen den blöden Haaren. Wer hat denn im Leben schon die Möglichkeit sich bis auf die Haarwurzeln zu erneuern?! Genau das war es. Ich durfte mich zellmässig erneuern. Das war doch eigentlich ganz toll. Dieser Gedanke liess mich froh und zufrieden sein und es sollten bezüglich Haarverlust keine tristen Gedanken mehr Platz finden in meinem Kopf.

Manchmal habe ich mir die Frage gestellt, ob das wirklich ich bin, die diese Krankheit  hat. Nein hatte. Ich versuche das Ganze als hinter mir liegend zu sehen, was natürlich nicht immer gelingt. Oft kam mir das Ganze einfach irgendwie unwirklich vor, so als ob es nicht mich betreffen würde. Dann wiederum sind dunklere Gedanken am Horizont aufgestiegen. Zukunftsängste und viele Fragezeichen: Wird mich die Antikörperbehandlung vor einem Rückfall bewahren? Es gibt niemanden, der einem diese Ängste restlos nehmen kann und die Fragezeichen bleiben Fragezeichen. Von irgendwelchen Sprüchen wie: Man kann ja nie wissen, ob man morgen einem tödlichen Autounfall erliegt….. halte ich wenig, da dieser Vergleich einfach hinkt.

Das Leben hat wunderschöne Seiten, das Leben hat tieftraurige Momente. Es führt aber kein Weg an diesem ganz persönlichen und einzigartigen Leben vorbei. Jeder für sich muss es schlussendlich selber bestreiten.

Lassen wir also das Glas immer halb voll sein.

Marceline Selm
Dorfstrasse 13
9305 Berg (Schweiz)

http://www.marcelineselm.ch/