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E-Book

1968

Drei Generationen - eine Geschichte

AutorClaus Koch
VerlagGütersloher Verlagshaus
Erscheinungsjahr2018
Seitenanzahl288 Seiten
ISBN9783641225414
FormatePUB
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
»Es ist nun an unseren Kindern, die Kämpfe für eine gerechtere Welt auszutragen.« (Claus Koch)
»Die Eltern legten das Land in Schutt und Asche. Dann bauten sie es wieder auf, bis ihre Kinder 1968 in Berlin und anderswo es noch einmal anzünden wollten. Um damit die Vergangenheit endlich zum Schweigen zu bringen. Und ihre Kinder? Können sie, jenseits von Stillstand und trügerischer Ruhe das Land noch einmal zu neuem Leben erwecken?«
Revolte mit Langzeitwirkung: »1968« ist die Geschichte dreier Generationen, die sich in allem unterscheiden und doch so ähnlich sind. Rasant erzählt wie ein Roadmovie, das in den 1950er-Jahren seinen Ausgangspunkt findet. Claus Koch, selbst 68er, nimmt seine Leser mit durch die wilden 60er-Jahre bis zu den Kindern und Enkeln der 68er.
  • Der Mythos 68 und seine Folgen
  • Das Erbe der 68er verstehen
  • Das politische Projekt des Aufbegehrens - und was das heute bedeutet
  • Was 1968 und 2018 generationsübergreifend miteinander zu tun haben


Claus Koch, Dr. phil., geboren 1950, Diplompsychologe, Studium der Philosophie und Psychologie; bis 2015 Verlagsleitung im Bereich Sachbuch im Beltz Verlag, Weinheim. U.a. Lehrauftrag an der Universität Bielefeld; zahlreiche Vorträge, Buchveröffentlichungen und Artikel in (Fach-)Zeitschriften. Mitgründung des Pädagogischen Instituts in Berlin (PIB).

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Leseprobe

EINLEITUNG

Rückblick – 1968: Als ich das Zimmer nach 50 Jahren wiedersehe, bin ich überrascht, wie klein es ist, zwei mal drei Meter vielleicht. Liegt es daran, dass einem die Räume weiter und ihre Begrenzungen weniger eng vorkommen, wenn man jung ist? Auch Kinder sehen die Welt und ihre Gegenstände schließlich größer als später die Erwachsenen. Aber 1968 waren wir keine Kinder mehr. Wir waren 18, 20 oder 25 Jahre alt und gerade dabei, die Welt um uns herum gründlich zu verändern.

Das Zimmer. Ein schmales Sofa, auf dem wir schliefen, wenn wir zu zweit waren und J. nicht in Paris. An der gegenüberliegenden Wand, neben der Tür, eine Gasheizung, in die wir Münzen einwerfen mussten, wenn uns kalt wurde. Über dem Sofa ein Brett, auf dem ein kleines Radio stand und ein Plattenspieler. Das Radio gehörte J., der Plattenspieler mir. Der Plattenspieler war eines der wenigen Dinge, die ich von zu Hause mitgebracht hatte. Das Radio von J. empfing keine Sender mehr, aber die Platten konnten wir damit hören. John Coltrane, Albert Ayler, Stones, Velvet Underground, Doors. Die Stimmen von Bob Dylan, Joan Baez, Donovan und den anderen Folk- und Protestsängern waren leiser geworden. Man hörte ihre Lieder nur noch, wenn man allein war. Die helle Zeit, als das Meer zu leuchten anfing und sich das Leben so weich anfühlte, dass man hineinfiel, dieses Leben, das schon hinter uns lag und doch immer noch greifbar schien, war dabei, sich langsam von uns zurückzuziehen.

Das Zimmer war immer stockdunkel, obwohl es ein sehr großes Fenster hatte, in dem man sogar stehen konnte. Aber im Abstand von knapp einem Meter befand sich schon die Wand des Nachbarhauses. Vor diesem großen dunklen Fenster stand ein kleiner Tisch. Darauf eine winzige selbstgemachte Blumenvase von J., in die sie aber nie Blumen steckte. Daneben ein Becher mit Tee oder Kaffee, dazu Zigarettenpackungen, aus Frankreich mitgebracht, weil sie dort billig waren, ein selbstgemaltes Bild mit einem silbernen Mond über einem Berg vor einem nachtblauen Himmel von der Schwester von J., die hier auch manchmal wohnte. Auf dem Tisch lagen unsere Bücher, die wir gerade lasen. Die von Paul Nizan, den Sartre uns empfohlen hatte, »Aden Arabie«, »Das trojanische Pferd« und »Antoine Bloyé«, über den Vater, der seine Herkunft verriet. »Die sexuelle Revolution« und »Massenpsychologie des Faschismus« von Wilhelm Reich. Dazwischen, ein wenig verstreut, »Nadja« von André Breton, »Minima Moralia« von Adorno, »Le dieu caché« von Lucien Goldmann, Gedichte von Dylan Thomas, übersetzt von Erich Fried. Und dann waren da noch »Das Kapital« von Marx, »Was tun?« von Lenin und ein bisschen Mao, Vorboten der »dunklen Jahre«.

Wenn man das Zimmer nach draußen in die Gassen der Altstadt verließ, brauchte man einige Zeit, die Welt in ihrer Helligkeit wiederzuerkennen. Menschen, die so taten, als wäre nichts, gingen an einem vorbei. Sie lachten und freuten sich über die Sonne, als sähen sie nicht die roten Fahnen, die aus unseren Fenstern hingen, entzifferten nicht unsere Parolen an den Wänden, hörten nicht unsere Rufe, sie zu befreien. Das gleißende Licht schmerzte dann noch lange in den Augen, wenn wir später ins Zimmer zurückkamen, und eines Tages meinte N., sie fahre morgen nach Paris, da ist es anders als hier, ich werde dir schreiben. J. änderte oft ihren Vornamen. Sie fand in der Welt für sich kein Zuhause mehr, und der Marxismus-Leninismus konnte ihr dabei auch nicht weiterhelfen.

.....

Was hat uns die Chiffre 68 über diese und ähnliche Erinnerungen hinaus heute noch zu sagen, das ist eine der Fragen, mit denen sich dieses Buch beschäftigt. Sie stellt sich weniger uns, den Akteuren von einst, sondern den jungen Leuten heute. Denn auch ihr Leben hat mit unserer verlorenen Schlacht vor 50 Jahren zu tun. Weil seitdem die Allianz utopischen Denkens mit einem revolutionären Projekt zerbrochen ist. Weil unsere Kinder, wenn auch anders als wir bei unseren eigenen Eltern, an uns das süße Gift einer totalitären Ideologie kennengelernt haben. Manche von ihnen hat das hoffnungslos gemacht. Dabei ist die Welt heute keinesfalls besser als die vor 50 Jahren. Niemand behaupte, sie habe ihr Antlitz seitdem einer schöneren Zukunft zugewandt, von der wir damals träumten und manchmal glaubten, sie schon fast in unseren Händen zu halten.

Aber das revolutionäre Experiment unserer Generation ist gescheitert. Und sein Scheitern empfanden viele von uns als ebenso grandios wie vorher die hochfliegenden Träume. Und so hinterließ unser späterer Rückzug eine Lücke in der Geschichte, einen Spalt, den unsere Kinder immer noch dabei sind aufzufüllen, um den Blick wieder freizubekommen. Wie werden sie sich von der herrschenden Apologetik vollendeter Tatsachen befreien, die alles so glatt und vollendet erscheinen lassen, wie können sie aus dem »Alternativlosen« herausfinden, sich der werbelärmenden Belästigung im postfaktischen Zeitalter widersetzen, um eine Welt zu schaffen, die sie freundlich aufnimmt, die ihre Träume respektiert und annimmt, die sie, ihre Kinder und Enkel überleben lässt? Damit sie nicht länger blind wie Fledermäuse hin und her fliegen müssen?1 Sich an Dystopien und apokalyptischen Perspektiven zu berauschen, ist keine so gute Idee. Den resignierten, aber vor Armut geschützten Clochard zu spielen, ebenso wenig,2 wie eine Schneeflocke zu sein, die in der warmen Frühlingsluft sanft dahinschmilzt3.

Dieses Buch betrachtet die mitunter zum Mythos geronnene Chiffre 1968 aus der Perspektive von mindestens drei Generationen, unseren Eltern, uns selbst und der unserer erwachsenen Kinder bzw. der Generation, die ihnen gerade folgt.

Was unsere eigenen Eltern betrifft, waren sie an den Geschehnissen von damals mitbeteiligt. Sie waren es, die uns ihre unheimlichen Visionen, endgültig zerbrochen und inmitten einer Trümmerlandschaft gigantischen Ausmaßes als bittere Mitgift unserer Revolte beigaben. Aber das verstanden sie nicht und wollten es auch nicht verstehen. Gaben sich nach außen wie uneinsichtige Kinder, die mit den Füßen auf dem Boden aufstampfen, erst toben und dann trotzig schweigen. Sicherlich: Unser Aufstand war politisch motiviert, zumindest haben das später viele von uns behauptet. Unseren Feind glaubten wir genau zu kennen. Aber als unser Protest in den 60er Jahren begann, waren wir mit unseren Gedanken und unserem Herzen näher an Paul Nizan, dem französischen Schriftsteller der 1930er Jahre, als an der proletarischen Revolution. Hatte der doch in seinem Fluchtroman »Aden« geschrieben: »Wir wissen ja, wie unsere Eltern lebten. Ungeschickt, unglücklich wie Katzen, die Fieber haben, wie Ziegen, die seekrank sind.«4 Und: »Ich war zwanzig. Niemand soll sagen, das sei die schönste Zeit des Lebens. Alles droht einen zu vernichten: die Liebe, die Ideen, der Verlust der Familie, der Eintritt in die Welt der Erwachsenen. Es ist schwer, seinen Part in der Welt zu finden.«5

Um das, was uns die Generation unserer Mütter und Väter mit auf den Weg gab, und die Folgen geht es am Anfang des Buches. Um etwas, das uns, die wir während oder nach dem Krieg geboren wurden, wie ein Stein um den Hals hing und unter Wasser zog, sodass wir kaum Luft zum Atmen bekamen. Ein Erbe, das abscheulicher nicht hätte sein können, außerhalb unserer Vorstellung liegend, ein Menschheitsverbrechen, von der Elterngeneration gemeinschaftlich begangen und uns nach dem Krieg in ihrem störrischen Schweigen zugeschoben. Und als wir anfingen, uns dagegen zur Wehr zu setzen und ihnen mit einigen Versprengten aus ihrer eigenen Generation die Frage stellten, wie das alles denn hatte geschehen können, gaben sie uns zur Antwort: »Macht aus unseren Verbrechen, was ihr wollt, aber lasst uns endlich damit in Ruhe.« Und so liefen wir in diese Welt hinein: Noch mit Nazimethoden erzogen, ohne Bindung, ohne Vorbilder, aus einer unendlichen Leere hinaus ins eigene Leben.

Wohin sollten wir gehen, womit diese innere Leere füllen, ohne gültigen Kompass, ohne Orientierung? Was anfangen mit unseren Bedürfnissen nach Liebe und Anerkennung in einer Welt, die uns feindlich gesonnen war? Also fingen wir, älter geworden, an, uns gegen das, was man uns aufgebürdet hatte, zu wehren und aufzulehnen. Probten den Aufstand gegen die, die uns so übel mitgespielt hatten. Entdeckten dabei Schönheit und Wildes inmitten dieser tödlichen Erstarrung, auch mitten in uns selbst. Und kamen schließlich auf die Idee, den morschen Ast, auf den man uns gesetzt hatte, einfach abzusägen! Suchten uns neue Vorbilder, neue Väter, zunächst in Frank­reich, dann die, die aus dem Exil zu uns zurückgekommen waren. Wir lasen und lasen und unterstrichen jeden ihrer Sätze zweimal. Das Leben gefiel uns, mit einem Bein in den Büchern, mit dem anderen draußen, wo es von den Protesten gegen den Vietnamkrieg und gleichzeitig vom Kampf für die Befreiung unserer Sexualität bestimmt war. Und dann fielen die ersten Schüsse.

Aus Berlin ereilte uns zuerst die Nachricht und kurz darauf folgend die dringende Botschaft, erst den Aufstand und dann die Revolution zu wagen. Jetzt müsse der Feind mit allen Mitteln besiegt werden. Der Feind, das waren immer die anderen. Die Verbündeten waren wir selbst. Militanz und Offensive! Ein Jahr später, nach dem Attentat auf Rudi Dutschke, loderten schließlich die Feuer von Barrikaden und an die Wände geschleuderten Brandsätzen. Sechs Monate später sangen die Rolling Stones aus dem Off »Street Fighting Man« für uns. Für einen Augenblick fühlten wir uns...

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