Sie sind hier
E-Book

Astrid Lindgren

AutorSybil Gräfin Schönfeldt
VerlagRowohlt Verlag GmbH
Erscheinungsjahr2014
Seitenanzahl176 Seiten
ISBN9783644517110
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis3,99 EUR
Rowohlt E-Book Monographie Astrid Lindgren wäre am 14. November 2007 hundert Jahre alt geworden - und doch haben ihre Heldinnen und Helden an Frische und Faszination nichts eingebüßt. Die Abenteuer von Pippi Langstrumpf und Kalle Blomquist, Karlsson und Ronja Räubertochter sind unsterbliche Klassiker der Kinder- und Jugendliteratur. In dieser kurzen Biographie erfährt der Leser alles Wichtige über Leben und Werk einer in vieler Hinsicht außergewöhnlichen Autorin. Das Bildmaterial der Printausgabe ist in diesem E-Book nicht enthalten.

Sybil Schlepegrell, geborene Gräfin Schönfeldt, (1927-2022) lebte in Hamburg. Sie studierte Germanstik, Kunstgeschichte und Englisch in Göttingen, Hamburg und Wien und schrieb eine Dissertation «über Formprobleme in der Lyrik Josef Weinhebers». Sie wurde Redakteurin und arbeitete nach der Geburt ihrer Söhne als freie Journalistin, Schriftstellerin und Übersetzerin für Zeitungen, Zeitschriften, Buchverlage, Funk und Fernsehen.

Kaufen Sie hier:

Horizontale Tabs

Leseprobe

Die Schulzeit


Das Städtchen Vimmerby lernte die sechsjährige Astrid Ericsson allmählich kennen, als sie in die Schule kam. Sie war ein Kind, das die Schule mochte, die beiden Jahre in der Småskolan ebenso wie das in der Folkskolan, die in Vimmerby beide in einem Schulkomplex lagen. Trotzdem gab es am ersten Schultag Tränen. Alle angemeldeten Kinder standen zusammen und wurden namentlich aufgerufen und vom Lehrer mit Handschlag begrüßt. Natürlich waren alle aufgeregt, und neben Astrid stand ein Zwillingspaar, das sich in die Hosen pinkelte. Das steckte Astrid sofort an, und als ihr Name erklang, da heulte ich auch! Der gute Mann sah wohl meine Angst und sagte beschwichtigend: Du kannst ja zurück zu deinen Eltern![39], aber das wollte sie erst recht nicht.

Trotz all dieser Aufregungen kam dann der erste richtige Schultag, und wieder gab es Tränen. Astrid Ericsson war viel zu früh aufgestanden und zur Schule gerannt, um mit einem Freund zu spielen, aber der hatte sich schon mit anderen Jungen verabredet, und Astrid stand allein daneben und musste zuschauen, Stunde um Stunde, wie es ihr vorkam, und sie dachte, sie hätte nun alles versäumt, ich weinte bitterlich. Zum Glück kamen ein paar größere Mädchen vorbei und fragten freundlich: «Warum weinst du denn so?», trösteten Astrid und nahmen sie mit ins Schulhaus. Astrid aber hatte die Erfahrung mit dem älteren Bruder gemacht, die damals kaum einem kleinen Mädchen erspart blieb: Gunnar hat sich überhaupt nicht um mich gekümmert!

Der Schulweg war nicht lang, und Astrid ging ihn meist allein. Der Unterricht dauerte bis zum späten Mittag, und das Schulfrühstück, belegte Butterbrote und eine Flasche Milch, futterten die Kinder auf der Bank im Korridor. In der höheren Schule war die Pause länger, da liefen wir heim und aßen dort etwas.

Wir, das waren die Geschwister, die Nachbarskinder und die neuen Schulfreunde. Zu den drei Kindern des Stallknechts auf Näs, Nachfolger von Kuhgöbbe, also zu Anna, Fridolf und Greta Karlsson, gesellten sich vor allem Freundinnen: Anna-Marie Hansson, die Enkelin des Pfarrers, und Anne Marie Ingeström, Tochter des Bankdirektors in Vimmerby, von ihren Tanten Madicken genannt, die später das Vorbild für Madita wurde. Sie war meine beste Freundin, sagt Astrid Lindgren, und je enger diese Freundschaft wurde, desto mehr plagte Stina, Astrids Schwester, die Eifersucht. Sie litt unter der Konkurrenz, und sie schlüpfte in die Rolle der Hexe, sodass die beiden Mädchen kreischten und vor ihr davonliefen.

Gunnar, ein Jahr vor Astrid eingeschult, wollte in dieser Zeit nicht mehr viel mit den kleinen Mädchen zu tun haben, das spürte Astrid nun bei jeder Gelegenheit, und er war in Astrids erstem Schuljahr der Anlass, dass sie zum ersten Mal begriff, was moralische Forderungen bedeuten und wie man leiden kann, wenn man nicht imstande ist, sie zu erfüllen. Ältere Schüler hatten Gunnar gefangen, an einen Baum gefesselt und sprangen um ihn herum, wobei sie schrien: «Jesus, Jesus, hier kommt kein Barabbas, um dich zu befreien!» Astrid Ericsson aber, sieben Jahre alt, stand stumm dabei. Sie spürte, sie hätte dagegen schreien und drohen müssen, aber sie traute sich nicht, sie lief weg, stieß jedoch auf den Vater, der zufällig mit dem Pferdewagen vorbeifuhr, und jammerte laut: Oh oh oh – sie quälen Gunnar zu Tode! Da packte der Vater die Peitsche, die er sonst nur zum Schnalzen nahm, und kam wie Barabbas, befreite seinen Sohn und brachte den Knaben gewisse Wahrheiten bei. Im Nachhinein war ihr klar, dass es der Bruder natürlich überhaupt nicht gerne gesehen hätte, wenn die kleine Schwester für ihn eingetreten wäre, aber es blieb ihr im Gedächtnis: Da war ich das erste Mal feige.

Im selben Jahr bekamen die Pächter in Näs Elektrizität. Als der Vater zum ersten Mal das Licht anknipste, rief er: «Es lebe die Elektrizität!» Astrid hätte gerne in den Jubel eingestimmt, damit der Vater nicht so allein dastand, aber sie fand den Überschwang merkwürdig. Es war nur ein kränkliches, dummes, schreckliches Licht, auch nicht in jeder Stube – das, fand sie, lohnte den Jubel nicht. Mehr als dieses Funzellicht bewirkte die Elektrizität ohnehin noch nicht. Es gab keine landwirtschaftlichen oder Haushaltsgeräte, die man hätte anschließen können. Die einzige nicht von Pferden oder Menschen betriebene Maschine auf dem Hof war eine Dreschmaschine, und die wurde von einem Dampfmotor angetrieben.

Im selben Jahr schloss sich der Vater der Delegation von 30000 Bauern an, die im Februar 1914 einen sogenannten Bauernzug zum König Gustav V. nach Stockholm unternahmen, um diesem schrecklichen Staaff einen Nasenstüber zu versetzen: Der liberale Politiker Karl Staaff missbilligte die Politik des Königs, der die Forderungen der Bauern nach einer Stärkung der Landesverteidigung unterstützte, und trat 1914 als Ministerpräsident zurück. Die Erinnerung an diesen Zug war für Astrid mit Schnupftüchern verknüpft, die der Vater den drei Kindern aus Stockholm mitbrachte und die Bilder von der Königsfamilie zeigten.

Die Erinnerung an den Ersten Weltkrieg blieb schattenhafter. Als der Erste Weltkrieg ausbrach, war ich erst ein Kind und lernte gerade lesen, aber obgleich ich nicht viel davon verstand, erregte mich der Gedanke an den Krieg ganz ungemein. Ich sah die armen Soldaten vor mir, wie sie durch den Schlamm stapften. Ich hatte immer dasselbe Bild der regennassen, aufgewühlten und trostlosen Wege vor mir, auf denen die Soldaten marschierten, und manchmal hielt ich abends meine jüngere Schwester mit langen und schaurigen Kriegsschilderungen wach, von denen ich ja eigentlich gar keine Ahnung hatte.[40] Im Übrigen fand dieser Krieg in der Ferne statt, griff nicht in den Alltag der Kinder ein, und keine Trauer oder Verluste hinderten sie daran, das zu tun, was ihr Herzensvergnügen war.

Denn draußen auf Näs gab es die besten Spielplätze[41], und deshalb kamen die Schulkameraden von Gunnar und den Mädchen in Riesenmengen aus der Stadt. Warum? Warum ausgerechnet nach Näs? Im Grunde genommen gab es das, was Astrid Lindgren immer wieder in ihren Romanen, Interviews und Artikeln aufzählte und beschrieb, fast überall auf dem Lande: die Weitläufigkeit und Ruhe trotz aller Pflichten ohnehin, die Freiheit von den Gefahren, die späteren Kindergenerationen von der technisierten und industrialisierten Umwelt drohen, erst recht. Dazu Schuppen und Hausdächer und Bäume zum Klettern, den Heuboden vom Schaf-, Kuh- und Pferdestall, die Hagen, das Zirkusspielen und die haarsträubenden Sprünge von den Dächern, die der Leser in den verschiedensten Variationen in den Geschichten wiederfinden wird. Dabei handelte es sich nicht um Mutproben. Auf dem Dachfirst zu laufen, sich fast wie ein Vogel zu fühlen, machte dem Kind ein Vergnügen, das wie eine äußerste Steigerung der Lebenslust erschien. Madita und ich sind mit einer Leiter aufs Hausdach geklettert. Dort gab es zwei Schornsteine, also zwei Chancen, sich festzuhalten. Madita wurde schwindelig. Sie war kurzsichtig, sie mochte das auch nicht und wollte kein zweites Mal auf ein Dach! Astrid aber gefiel es, und sie ging fröhlich auf dem Dachfirst hin und her.

Diese Vorübungen erlaubten es ihr, in der Schule bisher unbekannte Künste vorzuführen. Die Turnhalle hatte eine Empore, zu der Astrid ohne viel Umstände hinaufkletterte, und dann an Heizungs- und Wasserrohren entlang weiter. Unten standen alle mit offenem Munde. Auch das wird im Zeitalter des Leistungssports und der Rekordsucht vielleicht nicht als ungewöhnlich beurteilt. Es muss also auch an Astrid und den Menschen, die sie in Näs umgaben, gelegen haben, dass diese einfachen Spiele, Vergnügungen und Übermütigkeiten eine Anziehungskraft besaßen, ehe sie von einer aus dieser Gruppe, nämlich Astrid Lindgren, in Literatur verwandelt wurden. Das Geheimnis des Einfachen.

Später sagte Astrid Lindgren einmal, sie habe die deutsche Redensart «Kein Mensch muss müssen» so gerne. In ihrer Kindheit gab es jedoch das unerbittliche Muss, nur: Sie und die anderen Kinder begriffen, dass die Arbeit in Haus und Hof einfach erledigt werden musste, wenn man essen und leben wollte. Und die zweite Pflicht, die Arbeit für die Schule, bereitete Astrid keine Mühe, sondern stillte nur ihre Neugier und ihren Wissensdurst.

Um die Hausaufgaben kümmerten sich die Eltern nie. Sie setzten voraus, dass sie ordentlich und pünktlich erledigt wurden. Eine Pflicht unter anderen, dazu eine freiwillig übernommene, denn Astrid Ericsson besuchte nach Vor- und Volksschule auch die sogenannte Samrealskolan, was damals in Vimmerby nicht selbstverständlich und auch nicht üblich war. Arbeiter- und Bauernkinder gingen nicht auf die höhere Schule, weil sie Geld kostete. Freiplätze gab es nur für einige wenige Schüler, und wenn man etwa über zehn Kilometer von der Schule entfernt wohnte, wurde der Schulweg – stets zu Fuß – als zu weit betrachtet. Die Kinder mussten also in der Stadt in Pension gegeben werden, und das kostete erst recht Geld. Wir waren ja nur Bauernkinder, die Samskolan gehörte nur den Auserwählten.

Doch Madita-Madicken mit dem einflussreichen Vater, der zu den Honoratioren von Vimmerby gehörte, bestand einfach darauf, dass ihre Freundin sie nicht verließ, sondern weiter mit ihr in die Schule ging. So einigten sich die Mütter über diese Sache, denn meine Eltern waren sehr geachtet und berühmt für ihre Weisheit und Klugheit. Die Entscheidung wurde jedoch nicht...

Blick ins Buch

Weitere E-Books zum Thema: Biografie - Autobiografie

Klartext.

E-Book Klartext.
Für Deutschland Format: ePUB/PDF

Streitbarer Querulant, umstrittener Politiker, Nervensäge, wandelndes Medienereignis - all das und mehr ist Jürgen Möllemann. Nach langem Schweigen redet das Enfant terrible der deutschen Politik zum…

Klartext.

E-Book Klartext.
Für Deutschland Format: ePUB/PDF

Streitbarer Querulant, umstrittener Politiker, Nervensäge, wandelndes Medienereignis - all das und mehr ist Jürgen Möllemann. Nach langem Schweigen redet das Enfant terrible der deutschen Politik zum…

Klartext.

E-Book Klartext.
Für Deutschland Format: ePUB/PDF

Streitbarer Querulant, umstrittener Politiker, Nervensäge, wandelndes Medienereignis - all das und mehr ist Jürgen Möllemann. Nach langem Schweigen redet das Enfant terrible der deutschen Politik zum…

Klartext.

E-Book Klartext.
Für Deutschland Format: ePUB/PDF

Streitbarer Querulant, umstrittener Politiker, Nervensäge, wandelndes Medienereignis - all das und mehr ist Jürgen Möllemann. Nach langem Schweigen redet das Enfant terrible der deutschen Politik zum…

Klartext.

E-Book Klartext.
Für Deutschland Format: ePUB/PDF

Streitbarer Querulant, umstrittener Politiker, Nervensäge, wandelndes Medienereignis - all das und mehr ist Jürgen Möllemann. Nach langem Schweigen redet das Enfant terrible der deutschen Politik zum…

Klartext.

E-Book Klartext.
Für Deutschland Format: ePUB/PDF

Streitbarer Querulant, umstrittener Politiker, Nervensäge, wandelndes Medienereignis - all das und mehr ist Jürgen Möllemann. Nach langem Schweigen redet das Enfant terrible der deutschen Politik zum…

Sigmund Freud

E-Book Sigmund Freud
Format: PDF

Wer war Sigmund Freud wirklich? Wie war der Mann, der in seiner Ordination in der Wiener Berggasse der Seele des Menschen auf die Spur kam? Und welche Rolle spielte dabei die weltberühmte Couch…

Sigmund Freud

E-Book Sigmund Freud
Format: PDF

Wer war Sigmund Freud wirklich? Wie war der Mann, der in seiner Ordination in der Wiener Berggasse der Seele des Menschen auf die Spur kam? Und welche Rolle spielte dabei die weltberühmte Couch…

Sigmund Freud

E-Book Sigmund Freud
Format: PDF

Wer war Sigmund Freud wirklich? Wie war der Mann, der in seiner Ordination in der Wiener Berggasse der Seele des Menschen auf die Spur kam? Und welche Rolle spielte dabei die weltberühmte Couch…

Weitere Zeitschriften

Archiv und Wirtschaft

Archiv und Wirtschaft

"Archiv und Wirtschaft" ist die viermal jährlich erscheinende Verbandszeitschrift der Vereinigung der Wirtschaftsarchivarinnen und Wirtschaftsarchivare e. V. (VdW), in der seit 1967 rund 2.500 ...

BEHINDERTEPÄDAGOGIK

BEHINDERTEPÄDAGOGIK

Für diese Fachzeitschrift arbeiten namhafte Persönlichkeiten aus den verschiedenen Fotschungs-, Lehr- und Praxisbereichen zusammen. Zu ihren Aufgaben gehören Prävention, Früherkennung, ...

Correo

Correo

 La Revista de Bayer CropScience para la Agricultura ModernaPflanzenschutzmagazin für den Landwirt, landwirtschaftlichen Berater, Händler und am Thema Interessierten mit umfassender ...

filmdienst#de

filmdienst#de

filmdienst.de führt die Tradition der 1947 gegründeten Zeitschrift FILMDIENST im digitalen Zeitalter fort. Wir begleiten seit 1947 Filme in allen ihren Ausprägungen und Erscheinungsformen.  ...