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E-Book

Briefe an Obama

Das Porträt einer Nation

AutorJeanne Marie Laskas
VerlagGoldmann
Erscheinungsjahr2019
Seitenanzahl544 Seiten
ISBN9783641224202
FormatePUB
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis11,99 EUR
Zeitgeschichte in Briefen
Was tut ein US-Präsident, wenn er wissen will, wie es um sein Land steht? Er liest. Während seiner Amtszeit gingen täglich Zehntausende Briefe im Oval Office ein. Jeden Abend las Barack Obama zehn ausgewählte Schreiben, einige beantwortete er persönlich. Zu Wort kommen Obama-Anhänger ebenso wie politische Gegner, vom Schulkind bis zum Kriegsveteranen. Was sie bewegt: die Folgen der Finanzkrise, die geplante Gesundheitsreform, soziale Gerechtigkeit, Bildungschancen und Start-up-Ideen, das Schicksal der Soldaten im Auslandseinsatz oder schlicht Schulaufgaben. »Briefe an Obama« spiegelt die Lage der Nation in einer Zeit großen Wandels.

Jeanne Marie Laskas ist Journalistin und Autorin mehrerer Sachbücher. Sie schreibt regelmäßig für The New York Times Magazine und GQ und veröffentlicht Beiträge u.a. in The New Yorker, The Atlantic und Esquire. Laskas ist Professorin für Englisch und Gründungsvorstand des Center of Creativity an der Universität von Pittsburgh. Sie lebt mit ihrem Mann und zwei Kindern auf einer Farm in Pennsylvania.

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Leseprobe

KAPITEL 1
Die Briefe

Es klang beinahe wie ein Geheimnis, als Shailagh mir von den Briefen erzählte. Ich sollte begreifen, wie wichtig sie waren, und sie wirkte frustriert oder vielleicht auch nur erschöpft, wie ein Soldat, der in einem letzten Akt der Kapitulation die Schlüssel zum Königreich wegwirft, kurz bevor das Dorf in die Luft fliegt.

Das war im Oktober 2016. Der Hurrikan Matthew war gerade wieder aufs Meer hinausgezogen, Samsung-Handys fingen unversehens Feuer, der republikanische Präsidentschaftskandidat Donald Trump twitterte – »Mit keiner dieser Frauen ist je etwas gewesen. Alles Unsinn, der erfunden wurde, um uns die Wahl zu stehlen. Niemand respektiert Frauen mehr als ich!« –, und ich vermute, Shailagh war ebenso wehmütig gestimmt wie alle anderen, die sich mehr und mehr des radikalen kulturellen Wandels in den Vereinigten Staaten bewusst wurden.

Seit sechs Jahren arbeitete sie für die Regierung Obama, in den beiden letzten Jahren als hochrangige Beraterin, und wir saßen in ihrem Büro im Westflügel des Weißen Hauses. Sie griff in ein Regal, das mit dicken Aktenordnern gefüllt war. Diese Ordner enthielten Briefe an Obama, von denen die ersten noch aus den Anfängen seiner Regierungszeit stammten. Die Absender waren Wähler. Ganz gewöhnliche Amerikaner, die ihrem Präsidenten schrieben. »Mit der Zeit sind sie hier zu einer Art Leben spendender Kraft geworden«, sagte Shailagh. Sie hatte ihre Schuhe ausgezogen und sich einen Wollpullover um die Schultern gelegt, und mit ihrer rauen Stimme und ihrer bodenständigen irischen Art würde man diese Frau eher hinter der Theke eines Dubliner Pubs erwarten als in einem bequemen Büro gleich gegenüber dem Oval Office.

Zu diesem Zeitpunkt hatte Hillary Clinton in den landesweiten Umfragen noch einen zweistelligen Vorsprung vor ihrem Konkurrenten, und das Undenkbare war nach wie vor undenkbar. Doch während Clintons Wahlkampfmitarbeiter sich für einen Posten in der sich abzeichnenden neuen Regierung in Stellung brachten, hegte Shailagh keinerlei Absicht, ein Teil davon zu werden – zwei Amtszeiten im Weißen Haus waren genug. Ihre Aufgabe in der Kommunikationsstrategie der Regierung bestand darin, als Türwächterin zwischen Obama und den Journalisten zu fungieren, die über ihn schrieben, und diese Arbeit schien ihren Tribut gefordert zu haben. »Ich werde die Jungs nicht vermissen«, sagte sie. Wenige Monate vor dem Ende von Obamas zweiter Amtszeit kannte die Dreistigkeit der Reporter keine Grenzen mehr. Sie wollten Abschiedsinterviews, sie wollten sie jetzt, jeder wollte der Erste, der Größte, der Lauteste sein. Shailagh war diese aufgeblasenen Egos leid, die immer gleichen Fragen, die Fantasielosigkeit. Und Trump twitterte, und es schien, als drehte die Welt allmählich durch.

Die Briefe böten ihr eine Atempause in dem ganzen Trubel, sagte sie und fragte, ob ich ein paar davon lesen wolle. Sie entschied sich für einen marineblauen Ordner, zog ihn aus dem Regal, öffnete ihn und blätterte in den Briefen. Manche davon waren in Schreibschrift auf persönlichem Briefpapier geschrieben, andere in Blockbuchstaben auf Notizzetteln und mit Stickern verziert; es gab Geschäftsbriefe, E-Mails, Faxe und Schnappschüsse von Familien, Soldaten und Haustieren. »Die Leute haben keine Ahnung von diesem Dialog, den er mit dem Land führt, weißt du«, sagte sie und meinte damit Obamas acht Jahre währende Gewohnheit, per Brief mit der amerikanischen Öffentlichkeit zu kommunizieren. »Zusammengenommen ergeben diese Briefe praktisch ein Gesamtbild der amerikanischen Gesellschaft.«

Bei seinem Amtsantritt hatte Obama sich vorgenommen, jeden Tag zehn Briefe zu lesen, wodurch er zum ersten Präsidenten wurde, der sich derart bewusst mit den Briefen seiner Wähler auseinandersetzte. Jeden Nachmittag wurde gegen siebzehn Uhr eine Auswahl aus dem Lektüreraum ins Oval Office geschickt. Die »10LADs«, wie sie mit der Zeit genannt wurden – für ten letters a day oder »zehn Briefe pro Tag« –, machten unter hochrangigen Mitarbeitern die Runde, bis der Stapel schließlich hinten in die Briefing-Mappe gelegt wurde, die der Präsident jeden Abend mit in seine Privaträume nahm. Einige der Briefe beantwortete er handschriftlich selbst, auf andere notierte er Anweisungen für das Schreibteam, das sie beantworten sollte, und auf manche kritzelte er »AUFBEWAHREN«.

Alle leitenden Mitarbeiter des Präsidenten wussten um die Bedeutung der Briefe, aber Shailagh interessierte sich vor allem für das große Panorama, für das, was sie in ihrer Gesamtheit über das Land und ihren Chef aussagten. Manchmal, erzählte sie mir, lege sie einfach die Füße hoch und vertiefe sich in die Briefe, als seien sie Teil eines Geschichtsprojekts und sie eine Studentin, die sich einen Überblick über das Thema verschaffen wollte.

»Der hier ist vom 23. Januar 2009, gleich nach Obamas Amtsantritt«, sagte sie, wobei sie aufs Geratewohl einen Brief aus dem Ordner nahm. »Ich bin dreiundsiebzig Jahre alt und Inhaberin eines Fabrikationsbetriebes. Mein Mann und ich haben mit nichts angefangen … jeden Cent wieder in das Geschäft gesteckt. Seit drei Monaten hatten wir keine Bestellungen oder Anfragen mehr … immer noch nicht wieder ganz auf den Beinen nach einer Operation am offenen Herzen … Wir haben ein Haus. Die Kreditrate beträgt neunhundertneunundsiebzig Dollar und einundsiebzig Cent. Wir haben immer noch einhundertzwanzigtausend Dollar Schulden. Was sollen wir tun? … Das meine ich«, fuhr sie fort. »Diese ersten Anzeichen. Denn damals war es ja noch nicht so offensichtlich. Der Abbau von Arbeitsplätzen hatte noch nicht in dem Maße eingesetzt. In diesen Briefen findest du unzählige Menschen, die ihrem Ärger über die Großbanken Luft machen. Und das ist der andere Aspekt, weißt du? Du siehst die Wut. Die Angst. Die Verwundbarkeit dieser Menschen, die weit über das hinausging, was die allgemeine Stimmung zu jener Zeit erkennen ließ. Und so hörte Obama gleich nach seinem Einzug ins Weiße Haus schon alle möglichen Stimmen – er hörte Leute wie Larry Summers zum Beispiel, den Vorsitzenden seines Nationalen Wirtschaftsrats, und dann, weißt du, hörte er direkt im Anschluss Francis und seine Frau Collette aus Idaho. Es ist so eine Art ununterbrochener Dialog mit dem amerikanischen Volk, weißt du?«

»Weißt du?« Shailagh sagte es beinahe beschwörend, als wollte sie, dass ich wirklich begriff, was sie meinte.

Ja, das täte ich, antwortete ich, zumindest versuchte ich es.

»Habe ich dir schon von diesem Brief von dem Mann aus Mississippi erzählt?«, fragte sie.

Nein, hatte sie nicht.

»O mein Gott …«

Sie stand auf, ging zurück an das Bücherregal und nahm einen anderen Ordner heraus. »Warte, bis du den gelesen hast.«

Im Lauf der Jahre haben die verschiedenen Präsidenten ihren jeweils eigenen Umgang mit der Wählerpost entwickelt. Anfangs war alles noch recht einfach: George Washington öffnete seine Briefe und beantwortete sie. Damals wurde die Post noch zu Fuß, auf dem Pferderücken oder per Postkutsche befördert, und er erhielt etwa fünf Briefe pro Tag – nicht gerade gewaltige Mengen. Dann kamen die Dampfschiffe, danach die Eisenbahn und ein modernisiertes Postsystem, und am Ende des neunzehnten Jahrhunderts schließlich sah sich Präsident William McKinley außerstande, der Flut noch Herr zu werden. Einhundert Briefe pro Tag? Er stellte jemanden ein, der ihm dabei helfen sollte, diesen Ansturm zu bewältigen, und das war der Ursprung des Office of Presidential Correspondence, der Korrespondenzabteilung des Präsidenten. Doch erst während der großen Depression lief die Sache wirklich aus dem Ruder. Mit seinen Radioansprachen, den sogenannten »Kamingesprächen«, begründete Franklin D. Roosevelt die Tradition, sich direkt an die Bevölkerung zu wenden, und er forderte die Menschen auf, ihm zu schreiben und ihm von ihren Problemen zu berichten. Innerhalb einer Woche trafen etwa eine halbe Million Briefe ein, und in der Poststelle des Weißen Hauses herrschte akute Brandgefahr. Seit jener Zeit schwoll der Umfang der Wählerpost kontinuierlich an, und jeder Präsident pflegte eine andere Beziehung dazu. Nixon beispielsweise weigerte sich am Ende seiner Präsidentschaft, irgendetwas Negatives über sich zu lesen. Reagan beantwortete an den Wochenenden Dutzende Schreiben, schaute hin und wieder in der Poststelle vorbei und las gern die Briefe von Kindern. Clinton ließ sich alle paar Wochen eine repräsentative Auswahl zeigen. Und George W. Bush legte man gelegentlich einen Stapel mit zehn bereits beantworteten Schreiben vor. Doch das sind bloß Anekdoten, Erinnerungen von ehemaligen Mitarbeitern des Weißen Hauses. Es gibt kaum belastbare Informationen über den Umgang früherer Regierungen mit der Wählerpost. Historiker interessieren sich nicht dafür, Präsidentenbibliotheken sammeln sie nicht, und der weitaus größte Teil davon wurde längst vernichtet.

Obama war der erste Präsident, der systematisch zehn Briefe pro Tag lesen wollte. Wann immer er zu Hause im Weißen Haus war, las er Wählerbriefe (auf Reisen sah er keine Post durch), jeder wusste das, und es wurden Mechanismen geschaffen, um sicherzustellen, dass sie ihn tatsächlich erreichten. Die Briefe zirkulierten unter den Mitarbeitern. Einige nannten sie »das konspirative Briefnetzwerk«. Ab 2010 wurden alle per Post eingegangenen Schreiben eingescannt und gespeichert. Ab 2011 floss jedes Wort aus jeder E-Mail in die Erstellung einer täglichen Schlagwort-Wolke ein, die anschließend im Weißen Haus verteilt wurde, sodass politische Entscheider und Mitarbeiter anhand dieser Darstellung eine Vorstellung davon bekamen, welche Themen und Gedanken die Bürger bewegten....

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