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E-Book

Bruchzone

Krisenreportagen

AutorWolfgang Bauer
VerlagSuhrkamp
Erscheinungsjahr2018
Seitenanzahl180 Seiten
ISBN9783518759981
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis17,99 EUR
Das Jahr 2018. Während wir in Europa weiterhin in einer Art Komfortzone leben, toben in anderen Weltregionen Kriege, zerfallen staatliche Institutionen, leiden Millionen Menschen Hunger. Der Zeit-Journalist Wolfgang Bauer erkundet diese Bruchzone seit Jahren. Für sein neues Buch hat er einige seiner eindringlichsten Reportagen zusammengestellt: über nordkoreanische Geisterschiffe, die an der japanischen Westküste angeschwemmt werden, über den »Maniak«, einen Serienmörder, der in der russischen Wolgaregion sein Unwesen treibt, oder über die Odyssee pakistanischer Seeleute, die am Horn von Afrika Piraten in die Hände fallen. Der Band enthält aber auch hoffnungsvolle Geschichten, etwa die eines IT-Beraters aus Minnesota, der in seine somalische Heimat zurückkehrt, um dort einen Staat aufzubauen.

Bauers Reportagen zeigen die politische und soziale Wirklichkeit aus der Nähe und in ihrer ganzen Komplexität. Anhand konkreter Einzelschicksale entfaltet er virtuos die sozialen und historischen Hintergründe regionaler Konflikte. Dabei gelingt ihm stets die delikate Gratwanderung: Hoffnung ohne Naivität, Mitgefühl ohne Kitsch.

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Wolfgang Bauer, geboren 1970, arbeitet f&uuml;r die Wochenzeitung <em>Die Zeit</em>. F&uuml;r seine Reportagen wurde er u. a. mit dem Theodor-Wolff-Preis und dem Prix Bayeux-Calvados des Correspondants de Guerre ausgezeichnet. Sein Buch <em>&Uuml;ber das Meer</em> war ein Bestseller und wurde in zehn Sprachen &uuml;bersetzt.

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Leseprobe

15Das Versprechen


Afghanistan, 2011/12

»Denk nicht einmal daran«, sagte der ältere Bruder zu Rafi, als er ihm seinen Plan verriet. »Du bist ein Träumer«, erklärte der Onkel, der Rafi nur mit halbem Ohr zuhörte. Der verrückte Plan eines Kindes, dachte er bei sich. Die Mutter schaute ihrem Sohn lange in die Augen. Mit 17 Jahren ist Rafi ihr Jüngster. »Mein Junge, du wirst uns alle ins Unglück stürzen.«

Der Tag, an dem die Welt in Jabreel, einem Vorort von Herat, Afghanistan, aus ihrer Ordnung bricht, ist der 6. Juli 2011, ein Mittwoch. An diesem Tag entschließen sich Rafi Mohammed und Halima Mohammedi, ihren Plan umzusetzen. Der Plan ist ein denkbar schlichter, und zunächst scheint er aufzugehen.

Halima, deren Familie die Beziehung zu Rafi ablehnt, verlässt am Nachmittag das Haus ihrer älteren Schwester, in der Hand das Handy, das sie ihr gestohlen hat. Die 17-Jährige tritt auf die Straße und wartet auf den Jungen, der zur vereinbarten Uhrzeit mit einem Wagen kommen soll. Doch Rafi verspätet sich. Im Stau der Stadt kommt er nur langsam voran. Sie ruft ihn an, aufgeregt, bald, sagt sie, wird ihre Schwester ihre Abwesenheit bemerken. Halima redet mit viel zu lauter Stimme. So erfahren die Umstehenden von ihrem Plan. Es sind vor allem junge Rikscha-Fahrer, die hier auf Kundschaft warten und nun hören, dass ein Mädchen aus Jabreel ohne Erlaubnis der Familie mit einem Jungen davonlaufen will ‒ noch dazu einem Jungen, der aus einem anderen Viertel kommt.

16Als Rafi endlich vorfährt und Halima einsteigt, blockieren plötzlich ein halbes Dutzend Rikschas den Weg. Hunderte aufgebrachter Menschen umringen den Wagen. Hände greifen ins Innere des Toyota, zerren an Rafi, kratzen ihm blutige Wunden, er wehrt sich, doch immer mehr Hände drängen durch die Wagentür, reißen ihn schließlich heraus, in den Staub der Straße. Während sich seine Ohren mit warmem Blut füllen, hört er die Rufe der Menge.

»Hängt sie auf! Tötet sie!«

Fäuste schlagen auf ihn ein, Füße treten ihn, in den Bauch, die Rippen, auf den Kopf. Rafis Nase bricht, die Augen schwellen zu, er windet sich schreiend. Die Masse der Schläger füllt die Straßenkreuzung. »Sie hätten die beiden umgebracht«, erinnert sich später der Polizeikommandeur von Jabreel. Seine Männer sind es, die das Paar schließlich dem Mob entreißen.

Hastig werden Rafi und Halima ins Gebäude der Wache gebracht. Doch die wütende Menge drängt nach. Eine Wand aus Körpern drückt gegen das Metalltor der Polizeistation. Alles gerät binnen Minuten außer Kontrolle. In den Straßen von Jabreel wird jetzt geschossen. Unter die Demonstranten mischen sich auch Soldaten der afghanischen Streitkräfte auf Heimaturlaub, sie schleudern Handgranaten auf die Wache. Längst kämpfen die acht Polizisten, die sich im Gebäude verschanzt haben, nicht mehr nur um das Leben des unglücklichen Paares, sondern auch um das eigene. Als alles vorbei ist, Halima und Rafi knapp mit dem Leben davongekommen sind, haben Polizisten versehentlich einen 19-jährigen Schüler erschossen. Sie haben Dutzende verhaftet, Dutzende verletzt. Aus den Straßen von Jabreel steigen Rauchsäulen auf.

»Was wird dann aus uns werden?«, hat Halima am Vorabend Rafi am Telefon gefragt, und er hat ihr versprochen: »Es wird alles gut. Irgendwann werden sie uns verzeihen.« 17Knapp zwei Jahre lang hatten Rafi und Halima an ihrer Flucht gefeilt, sie in nächtelangen Telefonaten besprochen, darüber gelacht, geweint, verschiedene Varianten diskutiert und wieder verworfen. Beide sind 17 Jahre jung, er ein Tadschike und damit Sunnit, sie eine Hazara und damit Schiitin ‒ Angehörige zweier Ethnien, die seit Jahrzehnten miteinander verfeindet sind. Aber sie haben in sich etwas entdeckt, was sie von fast allen ihren Verwandten unterscheidet, das die meisten Afghanen nie kannten und viele sogar fürchten wie einen bösen Fluch. Die Liebe.

Nie zuvor war Afghanistan in so großer Umwälzung. In immer größeren Bereichen des Alltags lösen sich die alten Werte auf. Die Mobiltelefone machen jeden für jeden erreichbar, über alle Lehmmauern hinweg. Die Leute sehen Filme aus Indien mit ungeheuerlichen Bildern, auf denen Menschen einander küssen, sich zärtlich berühren. Männer und Frauen begegnen sich zu Zehntausenden in den Universitäten und in Fabriken, die an den Stadträndern gebaut werden. Menschen lernen sich kennen, die sich nach den Konventionen nie hätten kennenlernen dürfen. Ein Teil der Jugend definiert sein Lebensglück neu. Den Ehepartner wollen sie selber wählen dürfen, den Beruf oder auch nur die Art, die Haare zu frisieren.

Andere Jugendliche klammern sich an das Althergebrachte, kämpfen gegen den Bruch mit den Traditionen, sie tun es mit Worten, mit Stöcken, mit Messern, mit Gewehren. »Wir erleben gerade ein schockierendes Anwachsen der Gewalt«, klagt Suraya Subhrang, die Sprecherin der Unabhängigen Afghanischen Menschenrechtskommission. Es ist Krieg in Afghanistan, aber nicht nur der gegen die Taliban, von dem die ganze Welt weiß. Ein zweiter, stiller Krieg tobt in den Familien. Die Fronten verlaufen im Privaten und werden selten öffentlich. Ein Ende ist nicht absehbar. Dieser Krieg hat erst begonnen.

18»Du hast nicht auf mich gehört«, sagt Rafis älterer Bruder. Die beiden sitzen mit gesenkten Schultern auf dem betonierten Gefängnishof in Herat. Rafi meidet den Blick des Älteren. Er sieht über die Mauerkrone, wo am Himmel Nato-Flugzeuge Kondensstreifen ziehen. »Mutter weint jede Nacht. Sie faucht deine kleinen Schwestern wegen jeder Kleinigkeit an.«

Der Plan, mit dem Rafi und Halima sich die Freiheit erzwingen wollten, hat sie hinter die Mauern der Besserungsanstalt für Jugendliche gebracht. Es ist jetzt Ende Oktober. Vier Monate sind vergangen, seit das Paar in Jabreel vom Mob gestoppt wurde. Dieselben Polizisten, die sie gerettet haben, führten sie später in Handschellen und Fußketten hierher. »Ihr habt das Gesetz gebrochen«, sagten sie ihnen. Die Anklage lautete auf »versuchten vorehelichen Geschlechtsverkehr« nach Paragraf 29 des Strafgesetzbuchs. Rafi und Halima leben seither im selben Gebäude, aber in unterschiedlichen Trakten, nur von einer Wand getrennt. Seit ihrer Festnahme haben sie sich nicht mehr gesehen.

Am Vortag hat das Berufungsgericht in Herat die Haftstrafe für beide von einem halben Jahr auf ein ganzes erhöht. Das Vergehen des Paares sei besonders schwer, da es sich bereits zwei Jahre lang heimlich getroffen habe. »Glaubst du, sie weiß schon davon?«, fragt Rafi seinen Bruder. »Ich habe Angst, wie sie darauf reagieren wird.«

»Es wäre doch das Beste, ich wäre tot«, flüstert Halima im Mädchentrakt, 50 Meter von Rafi entfernt. Sie schaut auf die Spitzen ihrer Finger, die Hände liegen in ihrem Schoß. Heute Morgen hat sie vom Urteil erfahren. »Sie sagen, wir sind Verbrecher. Aber wir sind keine Verbrecher.« Im Zellengang hinter ihr hallt das Brüllen der anderen Mädchen. 34 sind hier mit ihr eingesperrt. Ständig gibt es Streit. Zusammengepfercht auf engstem Raum ziehen sie einander kreischend an den Haaren, schlagen sich ins Gesicht, rangeln mit der Ge19fängniswärterin. »Huren«, rufen die Wärterinnen. Die meisten Insassinnen haben ähnliche Verbrechen begangen wie Rafi und Halima. Sie haben sich in den Falschen verliebt.

Da ist die 15-Jährige, die einen 50-Jährigen heiraten musste und sich dann in einen gleichaltrigen Jungen verguckte. Eine andere wurde von ihrem Vater dabei erwischt, wie sie Textnachrichten mit einem Freund austauschte. Was den Richtern genügte, um sie für ein Jahr einzusperren. Die Jungs, mit denen die Mädchen Kontakt hatten, sind oft ebenfalls in der Besserungsanstalt, doch unter dem Druck der Familien haben sie sich alle von ihren Freundinnen losgesagt. Alle ‒ bis auf Rafi. Rafi sagt immer noch: »Ich liebe sie, aber sie liebt mich zehnmal mehr.« Das hält Halima am Leben.

Rafi und Halima sahen sich das erste Mal vor über zwei Jahren in einer Eiscremefabrik, in der sie beide arbeiteten.

»Seine Augen«, sagt sie.

»Ihr Witz«, sagt er.

Halima kommt aus einer armen Familie, ihre Mutter starb, da war sie sieben. Das Unglück verbindet sie mit Rafi. Sein Vater ist vor acht Jahren ermordet worden, da war Rafi noch keine zehn. Halimas Vater heiratete erneut, doch die...

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