»Bruder Tod« ist ein merkwürdiger Titel für ein Buch über das Ende des Lebens, das doch viele Menschen eher beängstigt. Es ist die deutsche Übersetzung von »Sorella Morte«. Der Tod ist im Italienischen weiblich und »Sorella Morte« klingt schon fast zärtlich. Wie kann man zärtlich über den Tod reden?
Franz von Assisi konnte das, denn aus seinem berühmten Sonnengesang stammt das Zitat. Franz von Assisi ist ein volkstümlicher Heiliger, über den viele Geschichten erzählt werden, aber der Poverello, das kleine arme Männlein aus Umbrien, war zugleich ein ganz Großer der Menschheitsgeschichte. Mit Franz von Assisi beginnt die Neuzeit. Bis zu ihm war der Blick der Künstler vor allem aufs Jenseits gerichtet. Auf Goldgrund sah man verklärt blickende Heilige. Man malte absichtlich nicht perspektivisch mit räumlicher Tiefe, man malte flächig, denn das Diesseits sollte nicht ablenken vom Paradies, nach dem man sich sehnte und auf das man alle Gedanken, Gefühle und Fantasien lenkte. Niemand interessierte sich für die Natur, deswegen malte man sie nicht und deswegen erforschte man sie auch nicht. Noch steckte vielen die unchristliche »Heidenangst« in den Knochen vor dieser unheimlichen Welt, in der beständig überwältigende Gefahren lauerten. Doch Franz von Assisi hatte keine Angst. Er sah in der Natur die gute Schöpfung des guten Gottes, und so entdeckte er das Diesseits wieder. Drastisch setzt er sich der Realität aus, indem er sich zwingt, einen Aussätzigen zu küssen. Er teilt die Not der Menschen, indem er sich entschließt, völlig ohne Geld wie der Ärmste der Armen zu leben. Mit besonderer Liebe wendet er sich den Leidenden und Sterbenden zu, aber er preist in seinem Sonnengesang auch die Natur als göttliche Schöpfung. Und unzählige junge Leute tun es ihm massenhaft nach. Dass er den Vögeln predigt, wie erzählt wird, ist programmatisch, denn er liebt mit frohem Gemüt nicht nur die Menschen, sondern alle Geschöpfe Gottes. Was für uns Heutige ganz »normal« wirkt, das war es damals mitnichten. Franz von Assisi war eine Revolution.
Und so beginnen die Künstler erstmals wieder die Realität darzustellen, die wirkliche Natur, realistische Landschaften, farbenfrohe Pflanzen, lebendige Tiere und berührende Menschen in perspektivisch dargestellten Gebäuden. Kein Wunder, dass Giotto ausgerechnet in der Grabeskirche des heiligen Franz sein Hauptwerk schaffen sollte, Giotto, in dem Michelangelo, Raffael und die anderen Großen der Renaissance den Gründervater der neuen Malerei sehen werden. Und noch im 14. Jahrhundert sollte es Francesco Petrarca seinem Namenspatron verdanken, dass er bei seiner berühmten Besteigung des Mont Ventoux in der Provence die erste schriftliche Naturschilderung seit wohl tausend Jahren lieferte. Auch die moderne Naturwissenschaft entsteht damals, ermutigt von der positiven franziskanischen Sicht der Schöpfung. Albert der Große ist der erste wissenschaftlich arbeitende Biologe. Endlich hat man keine »Heidenangst« mehr vor der Natur, man erforscht sie frohgemut.
Doch der Sonnengesang des heiligen Franz, der Gesang der Kreaturen, wie er auf Italienisch heißt, schließt nicht bloß Schwester Sonne und Bruder Mond, Schwester Wasser und Bruder Feuer, Bruder Wind und unsere Schwester, die Mutter Erde, in seinen Lobpreis ein, sondern auch die letzte irdische Realität, unseren Bruder, den leiblichen Tod. Kaum je hat bis dahin jemand gewagt, zärtlich über den Tod zu reden, ganz ohne ihn beschleunigen oder verzögern zu wollen. Franz von Assisi nimmt die Wirklichkeit radikal so wahr, wie sie ist, und das in der felsenfesten Überzeugung, dass diese Wirklichkeit von Gott geschaffen, getragen und beschützt wird und dass es deswegen eine gute Wirklichkeit ist, und zu dieser guten Wirklichkeit gehört für ihn ganz selbstverständlich auch »Bruder Tod«. Nur deswegen kann er so zärtlich von diesem Bruder reden, der alle Menschen verbindet. Als der heilige Franz sein Ende nahen fühlte, ließ er sich nackt auf die Erde legen und noch einmal den Sonnengesang vorsingen. Als er verschied, sollen Lerchen zu einer ganz ungewöhnlichen Zeit aufgeflogen sein.
Auch Vincenzo Paglia ist an die Ränder der Gesellschaft gegangen. Er ist Mitbegründer der geistlichen Gemeinschaft Sant’Egidio, und diese Gemeinschaft verdankt ganz vieles dem Weg des heiligen Franz. Als 1968 in aller Welt junge Menschen auf die Straße gingen und gegen Krieg, Wohlstandsgesellschaft und allgemeines Spießertum protestierten, da taten sich in Rom einige ungeduldige junge Leute zusammen, denen es zu wenig war, bloß zu protestieren. Sie wollten etwas tun, und zwar sofort. So gingen sie in die Borgate, die Slums von Rom, und halfen dort ganz praktisch, engagierten sich in der Kinder- und Altenbetreuung, sorgten sich um Kranke und Behinderte, halfen denen, denen keiner half. Jeden Abend trafen sie sich nach getaner Arbeit in einem kleinen, etwas heruntergekommenen Kirchlein im römischen Stadtviertel Trastevere und beteten zusammen. Das war alles. Es gab keine großartigen Theorien, es gab nur Praxis, ganz viel Praxis. Schnell gab es viele andere, die nicht nur reden, sondern handeln wollten, und die »Comunità di Sant’Egidio« wuchs immer weiter an. Heute zählt sie in über 70 Ländern der Welt über 70.000 Mitglieder. Die Gemeinschaft gibt es überall da, wo es Arme gibt. Und man engagierte sich auch aktiv gegen den Krieg. Man kann diese großartigen Initiativen hier gar nicht alle erwähnen. Es muss genügen, darauf hinzuweisen, dass der Frieden am Ende des blutigen Krieges zwischen den verschiedenen Befreiungsbewegungen in Mozambik von der Gemeinschaft Sant’Egidio vermittelt wurde, im Kosovo war es vor allem Vincenzo Paglia, der zum Frieden beitrug, was ihm den »Ibrahim Rugova«-Preis der kosovarischen Regierung eintrug. Papst Franziskus schätzt die Gemeinschaft Sant’Egidio außerordentlich, denn sie tut seit 50 Jahren bereits das, was der Papst unermüdlich fordert: an die Ränder gehen. Und Papst Franziskus war es dann auch, der Vincenzo Paglia, der zuvor Bischof von Terni und dann Präsident des Päpstlichen Rates für die Familie geworden war, zum Präsidenten der Päpstlichen Akademie für das Leben ernannte. Dort soll er dafür sorgen, dass nicht bloß akademische Debatten geführt werden, sondern dass all das, was in so einer internationalen Akademie gedacht wird, auch wirklich den Menschen zugutekommen kann.
Genau diesem Anliegen dient auch dieses Buch. Es traf in Italien auf eine lebhafte Debatte über den ärztlich assistierten Suizid und ganz generell über die Euthanasie. Die Fälle von Piergiorgio Welby 2006 und zuletzt noch 2017 dem Diskjockey Fabio Antoniani haben auch international Aufsehen erregt, und da trafen jeweils vor allem festgefügte ideologische Meinungen aufeinander. Es gab kaum neue Gesichtspunkte, die Argumente waren schon unzählige Male ausgetauscht, die Debatte wurde und wird beherrscht von Polemik und Überzeichnungen.
Da ist auf der einen Seite die Partei derjenigen, die angesichts des Todes vor allem von Selbstbestimmung sprechen – und diese Selbstbestimmung schließe auch die vollständige Bestimmung über den eigenen Tod ein, so erklären sie. Der Staat müsse sich in den Dienst der Selbstbestimmung seiner Bürger stellen und deswegen nicht nur den ärztlich assistierten Suizid, sondern auch die Tötung von Menschen erlauben und ermöglichen, die das selber wünschen. Die Gegner werden nicht selten als ewiggestrige Dunkelmänner diffamiert; man sieht den Kampf um den selbstbestimmten Tod als letzten Kampf um die Emanzipation, vor allem die Emanzipation von religiösen Befangenheiten.
Auch auf der anderen Seite gibt es ideologische Vereinfacher. Da ist dann nur noch davon die Rede, dass Euthanasie in jedem Fall Mord sei, dass finstere Mächte sich verschworen hätten, Alte und Behinderte zu töten.
Zwischen solchen Positionen kann es natürlich kein wirkliches Gespräch geben. So bleibt am Ende oft nur das mediale und politische Kräftemessen. Mit in unterschiedlichen Ländern ganz unterschiedlichen Ergebnissen.
In diese geradezu kriegerische Situation kommt nun das Buch von Vincenzo Paglia. Er weicht diesen Debatten nicht aus, legt aber den Schwerpunkt eindeutig auf die Wirklichkeit der sterbenden Menschen. Und diese Wirklichkeit ist nicht einfach schwarz oder weiß und sie ist vor allem weit weniger einheitlich, als die öffentlichen Debatten mitunter glauben machen wollen. Vincenzo Paglia ist Seelsorger, das merkt man dem Buch an, und so erzählt er von berührenden Geschichten, die er mit berührenden Menschen erlebt hat. Es sind die wirklichen sterbenden Menschen, die Vincenzo Paglia bewegen. Und er bemüht die Dichter und Denker aller Völker und aller Zeiten, um sich behutsam der allgemeinmenschlichen Wirklichkeit von »Bruder Tod« zu nähern. Da erfährt man dann vom letzten Kampf des französischen Präsidenten François Mitterrand und vielen anderen historischen Persönlichkeiten, die doch im Sterben Menschen werden wie alle anderen auch. So ist dieses Buch keine neue Propagandaschrift, sondern das Zeugnis eines lebensweisen,...