Prolog
Von den Babyboomern bis zur Generation Golf: Die Wohlstandskinder geraten unter Druck
Wir waren immer viele – in der Klasse, im Hörsaal und später im Beruf. Die Geburtenrate stieg in den Sechzigerjahren steil an, der Höhepunkt wurde 1964 erreicht. Nie zuvor und auch nie mehr danach kamen in der Bundesrepublik so viele Kinder zur Welt. Wir Sechziger und später auch die Siebziger wurden jahrelang in Containerbauten unterrichtet, weil man mit dem Neubau von Schulen nicht nachkam. Vierzig und mehr Schüler in einem Klassenraum waren keine Ausnahme, sondern die Regel. Es war laut, eng und stickig. Wir lernten, uns im Gedränge zurechtzufinden und auch durchzusetzen.
Als wir erwachsen wurden, stapelten sich unsere Bewerbungsmappen in Wäschekörben, aber das war egal, denn irgendwie hat fast jeder aus der Generation der »Babyboomer« und der nachfolgenden Jahrgänge seinen Platz gefunden. Wir besuchten gute öffentliche Schulen, studierten kostenfrei an funktionierenden Universitäten oder erlernten wie unsere Väter und Mütter einen Beruf, der uns ernähren und die Ausbildung unserer Kinder sichern sollte. Irgendwann erfüllte sich vielleicht sogar der Traum vom Häuschen im Grünen oder von der eigenen Wohnung in der Stadt. Für unsere Gesundheit wurde gesorgt, wir konnten wochenlang in Urlaub fahren, und die Rente war sicher.
Wenn Ihnen das bekannt vorkommt, dann sind Sie vermutlich 40 Jahre oder älter, stammen aus der breiten deutschen Mittelschicht und merken seit Längerem, dass Ihnen dieses so erfolgreiche und vertraute Lebensmodell immer mehr abhandenkommt. Sie hören zwar von den riesigen Chancen der Globalisierung und lesen viel über den Segen der digitalen Zukunft; aber Sie sehen auch die wachsende Kluft zwischen den kühnen Visionen der Start-up-Philosophen und Ihren eigenen Berufserfahrungen. Sie horchen auf, weil in den Talkshows immer häufiger das Wort disruption geraunt wird. Und Sie vermuten völlig zu Recht, dass Politiker und Wirtschaftsführer uns über das wirkliche Ausmaß dieser angekündigten »Zerstörung« bewusst im Unklaren lassen.
Eigentlich wollen Sie sich von diesen Debatten nicht verunsichern lassen, denn Ihr Leben ist in den vergangenen zwanzig Jahren schon anstrengend genug geworden. Vielleicht hatten Sie im Stillen sogar einmal auf eine Atempause von der Globalisierung gehofft. Aber die rasanten Veränderungen an Ihrem Arbeitsplatz und der Blick in unsere Nachbarländer belehren Sie eines Besseren. Tief drinnen wissen Sie, dass wir trotz des bisherigen Wandels gerade erst am Anfang eines neuen Zeitalters stehen. Und Sie ahnen, dass zwischen Ihrer beginnenden Verunsicherung und der wachsenden Enttäuschung, Angst und Wut vieler Mitbürger ein Zusammenhang bestehen könnte.
Dabei ist vieles von dem, was uns in den kommenden zwanzig Jahren noch bevorsteht, schon von kritischen Wissenschaftlern, engagierten Managern und weitsichtigen Politikern erkannt und aufgeschrieben worden. Meist geschieht das aber nur isoliert und in einzelnen Sektoren. Die einen erforschen die umwälzenden Veränderungen der Arbeit und den ersatzlosen Wegfall ganzer Berufsbilder. Andere wiederum analysieren, ob und wie weit unsere auf Maschinen, Anlagen und Autos beruhende Industrie in der digitalen Revolution überleben kann. Wenn ein Mercedes künftig nur noch ein großes Handy mit Batterie und Rädern ist, werden die Deutschen nicht mehr viel daran verdienen.
Genauso drängend sind die Fragen nach den Konsequenzen dieser ökonomischen Umwälzungen für unsere Sozialsysteme. Diese beruhen vollständig auf dem nunmehr bedrohten Lebensmodell der Mittelschicht – dem jahrzehntelangen Dauerarbeitsverhältnis in Festanstellung. Biografische Brüche, Jobverlust oder Zeiten von Selbstständigkeit, Weiterbildung und beruflicher Neuorientierung sind im deutschen Sozialsystem eigentlich nicht vorgesehen. Sie werden bei der Rentenversicherung rein technisch als »Ausfallzeiten« betrachtet, weil in solchen Phasen keine regelmäßigen Beiträge gezahlt werden können. Auch der Schutz vor Lebensrisiken wie Krankheit oder Arbeitslosigkeit beruht auf regelmäßigen Beiträgen und ist für den ganz überwiegenden Teil der Berufstätigen nur finanzierbar, wenn sich Arbeitgeber und Arbeitnehmer die ständig steigenden Kosten teilen. Wie aber können diese Solidarsysteme überleben, wenn die klassische Festanstellung nicht mehr der Normalfall ist, sondern nur eine von vielen Beschäftigungsformen?
Hinzu kommt das bekannte, aber in absehbarer Zeit trotzdem kaum lösbare demografische Problem unserer überalterten Gesellschaft. Renten- und Lebensversicherungen sind jetzt schon unter starken Druck geraten. Und natürlich fragen sich jenseits von Rentenberechnungen und Versicherungsstatistiken viele Sozial- und Politikwissenschaftler mit wachsender Sorge, wie dieser massive Wandel der Arbeitswelten auf unser Zusammenleben und auf unsere Demokratie einwirkt.
Nicht zuletzt müssen wir künftig mit einer massiven Einschränkung unserer bürgerlichen Freiheit leben. Sie ist bereits in vollem Gange und geschieht schrittweise, fast unbemerkt. Doch es ist nicht der Staat, der unsere Freiheitsräume beschneidet. Das von Liberalen und Linken lange gepflegte Feindbild der übermächtigen Staatsmacht ist zumindest in Deutschland überholt. Heute sind es die großen Internetkonzerne, die unsere Selbstbestimmung bedrohen, die uns immer mehr erfassen, analysieren und manipulieren. Das Schlimme ist, dass wir das alles irgendwie wissen und trotzdem täglich an unserer digitalen Entmündigung mitwirken. Wer kennt nicht dieses Ohnmachtsgefühl, wenn beim Anklicken einer Website oder einer App wieder einmal dem neuesten Update zugestimmt werden muss? Manchmal rafft man sich auf und beginnt, in einem Akt digitalen Ungehorsams die mehrseitigen »Erläuterungen« zu lesen. Doch was folgt daraus? Vielleicht verweigert man einmal die erbetene Zustimmung und verlässt aus Protest die betreffende Seite. Aber oft genug gibt es keine sinnvolle Alternative, oder es fehlt gerade wieder einmal die Zeit, um danach zu suchen. Also bleibt man bei Google, Amazon & Co. Man stimmt allen Updates »freiwillig« zu und ahnt, dass sich unser Freiheitsraum damit jedes Mal ein Stückchen mehr verengt.
Das ist nicht übertrieben. Wer den entsprechenden Einstellungen bei Google und anderen Anbietern nicht ausdrücklich widersprochen hat, wird jetzt schon bei jedem Schritt und bei jeder Fahrt »getrackt«, also digital verfolgt oder, freundlich gesagt, »begleitet«. Natürlich erhält man dann irgendwann als »Service« auch jede Menge »Angebote« entlang seiner Wegstrecke und wird ständig mit bezahlten »Informationen« versorgt. Doch was ist das, wenn man genauer hinsieht? Eine gut gemeinte »Empfehlung«? Eine Erweiterung meiner Möglichkeiten? Oder die mit Algorithmen gesteuerte Überwachung der Nutzer, um sie zu besseren, sprich gefügigen Konsumenten zu machen?
Wir stehen damit erst am Anfang. Angesichts der neuen Dimensionen in der virtuellen Welt kann ich nur mit einem müden Lächeln an 1987 zurückdenken. Damals wurde mit großen Demonstrationen gegen die »Volkszählung« protestiert, weil sie als Ausforschung durch den Staat empfunden wurde. Waren wir früher zu naiv, oder ist man heute zu sorglos? Vermutlich beides.
Dabei stellen sich die Fragen des Persönlichkeitsschutzes dringender denn je. Allerdings bestehen die Antworten der allermeisten Konsumenten nur in gleichgültigem Schulterzucken, vor allem bei jungen Leuten. »Ist halt so«, heißt es dann, »kostet ja auch nichts« oder »kann man eh nichts gegen machen«. Doch was geschieht mit meiner persönlichen Freiheit, wenn ich in der neuen Welt überall digitale Spuren hinterlasse? Wo bleiben meine Rechte als Kunde, wenn ich schon beim zweiten Aufruf eines Produkts im Internet erkennen muss, dass der Preis für das Angebot gestiegen ist? Wie kann es sein, dass Firmen wie Cambridge Analytica und Facebook durch das Sammeln und Verknüpfen von Millionen Daten sogar die Wahlen in den USA manipulieren können – ohne dass dies zu irgendeiner rechtlichen Konsequenz führt? Werden wir überhaupt noch in der Lage sein, unsere fortschreitende digitale Entmündigung in allen Lebensbereichen zu verhindern?
Es ist absehbar, dass jede Tätigkeit, jede Transaktion künftig digital erfasst wird. Spätestens mit der Abschaffung des Bargelds sind wir dann in der Hand großer Unternehmen, die unsere Einkäufe abwickeln, unsere Transaktionen beobachten und unsere Finanzen analysieren. Eine Horrorvorstellung. Dagegen ist die düstere Vision von George Orwells 1984 nicht mehr als ein etwas altbacken klingender Science-Fiction-Roman.
Wir müssen gar nicht weit in die Zukunft schauen, um die vielen bedenklichen Veränderungen zu erkennen. Sie sind nicht nur auf die digitale Welt beschränkt. Unbestreitbar ist schon jetzt ein Auseinanderdriften der Gesellschaft zu spüren, nicht nur bei der Vermögensverteilung. Die einst so homogene Mittelschicht spaltet sich auf. Sie zerfällt in einzelne Gruppen, die sich am höchst unterschiedlichen Erfolg der verschiedenen Bildungswege und Berufsbilder orientieren. Damit verbunden sind stärkere Spreizungen bei den Einkommen sowie eine zunehmende Ausdifferenzierung der Lebensstile. Die wachsende Kluft zwischen Stadt und Land spielt dabei eine bedeutende Rolle. Regelmäßig beklagen Politiker, Verbände und Unternehmer, dass die ländlichen Lebensräume den Anschluss verlieren und immer mehr zurückfallen. Aber eine Entwicklung zum Besseren oder gar eine Trendumkehr ist nicht erkennbar.
Jahrzehntelang wurde die deutsche Nachkriegsgesellschaft auf Grafiken in Form einer Zwiebel dargestellt. Die Ober- wie die Unterschicht waren nur als kleine Zipfel erkennbar; die überwiegende Zahl der Menschen fand sich in der großen bauchigen...