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Das Münchhausen-by-proxy-Syndrom

Schuldunfähigkeit oder erbarmungsloses Kalkül?

AutorMarina Filchner
VerlagStudylab
Erscheinungsjahr2017
Seitenanzahl117 Seiten
ISBN9783668533769
FormatPDF/ePUB
Kopierschutzkein Kopierschutz/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis34,99 EUR
Frauen, in der Regel die leiblichen Mütter, misshandeln ihre eigentlich gesunden Kinder, indem sie stellvertretend bei diesen vorsätzlich und heimlich Krankheitssymptome erzeugen, um eine medizinisch nicht indizierte, teils invasive, Behandlung zu erzwingen. Hierbei mimen die Täterinnen gekonnt eine aufopfernde und liebevolle Mutterrolle, nehmen jedoch gleichzeitig schwerwiegende Folgen - wie potenzielle körperliche Dauerschäden ihres Kindes durch aktiv beigeführte Misshandlungen - in Kauf. Die Ursachen für die Misshandlungen der Täterinnen, die auffallend häufig einen medizinischen Beruf erlernten, liegen oftmals im Verborgenen. Nicht auszuschließen ist das Verlangen der Frauen nach Aufmerksamkeit sowie Mitleid des sozialen Umfeldes und des Krankenhauspersonals als ein Beweggrund für die subtilen Misshandlungen. Doch genügt diese trivial anmutende These des Verlangens nach Aufmerksamkeit oder existieren weitläufigere Erklärungsmodelle, die versuchen tiefer zu ergründen, weshalb betroffene Mütter ihre Kinder auf eine solch perfide Art und Weise misshandeln? Wie gelingt es diesen Täterinnen, die Misshandlungen sowohl vor ihrem sozialen Umfeld als auch vor Sachverständigen zu verheimlichen? Aus welchen Gründen erhalten diese Frauen ihr bizarres Schauspiel aufrecht und möchten um jeden Preis als hingebungsvolle Mütter angesehen werden? Handelt es sich eventuell um eine psychische Störung? Und wenn dem so ist, sind betroffene Mütter nach geltendem Strafrecht zwangsläufig schuldunfähig? Aus dem Inhalt: - Kindesmisshandlung; - Kinderschutz; - dissoziale Persönlichkeitsstörung; - Manipulationsstrategien; - artifizielle Krankheitserzeugung

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Leseprobe

2 Das Münchhausen-by-proxy-Syndrom als subtile Form der Kindesmisshandlung


 

Das folgende Kapitel widmet sich den einführenden Grundlagen der paradoxen und subtilen Form der Kindesmisshandlung – dem sog. Münchhausen-by-proxy-Syndrom. Beginnend mit einem historischen Abriss und einer Erläuterung der Begriffsherkunft werden im weiteren Verlauf maßgebliche Definitionen veranschaulicht. Darüber hinaus gilt es darzustellen, ob und in welchem Umfang das Syndrom Berücksichtigung in den zwei weltweit anerkannten Klassifikationssystemen, ICD-10-GM und DSM-5, findet. Im letzten Unterpunkt des Kapitels wird die Epidemiologie, d. h. die Verbreitung des Syndroms, anhand empirischer Daten beleuchtet.

 

2.1 Historischer Abriss und Etymologie


 

Nachstehend ist zu erörtern, wie sich der Terminus Münchhausen-by-proxy-Syndrom zusammensetzt und darüber hinaus, weshalb das Syndrom erstmals in der Fachliteratur beschrieben wurde. Um die unter der Bezeichnung Münchhausen-by-proxy-Syndrom bekannt gewordene subtile Form der Kindesmisshandlung allerdings in seiner Gesamtheit zu erfassen, muss sich zunächst seine Verbindung zu den sog. artifiziellen[70] Störungen sowie dem sog. Münchhausen-Syndrom vergegenwärtigt werden.[71]

 

Seit jeher gelten Patienten mit selbsterzeugten, simulierten Krankheitsbildern und/oder nicht wahrheitsgetreuen Erzählungen sowohl in der Medizin als auch in anderen Disziplinen als ein bekanntes – allerdings oftmals namenloses – Phänomen und Randerscheinungen zugleich.[72] Mittlerweile werden selbsterzeugte Krankheitsbilder im klinischen Sprachgebrauch unter dem Begriff der artifiziellen Störungen[73] subsumiert.[74] Hierbei handelt es sich um Menschen, die Krankheitssymptome überwiegend körperlicher, aber auch psychiatrischer Natur bewusst vortäuschen, übertrieben schildern oder heimlich selbst erzeugen.[75] Dabei produzieren bzw. verschlimmern die Patienten ihre Symptome selbständig, ohne sich jedoch im Klaren über die tatsächlichen Ursachen für ihr destruktives und paradoxes Verhalten zu sein.[76] Die Motivation für dieses Verhalten liegt im Verborgenen, denn anders als bei bspw. der Simulation besitzt es objektiv betrachtet keine äußeren Anreize, wie etwa finanzielle und/oder persönliche Vorteile.[77] Als wahrscheinlich gilt, dass Betroffene bewusst die Krankenrolle einnehmen möchten, weshalb sie sich vorsätzlich in eine medizinische Behandlung begeben, um sich hierbei teils invasiven medizinischen Maßnahmen, wie z. B. unnötigen Operationen, zu unterziehen.[78] Dabei hat jenes willentlich selbstverletzende Verhalten sowohl deutlichen Zwangs- als auch Suchtcharakter,[79] da Patienten durch die wiederholte Selbstschädigung versuchen, das verlorengeglaubte Kontrollgefühl über ihren eigenen Körper sowie stressbelastete Situationen zu erlangen.[80]

 

In rund 70% der Fälle handelt es sich um Frauen, die häufig einen Gesundheitsfachberuf erlernten, sodass sie gute medizinische Vorkenntnisse besitzen, die es ihnen ermöglichen, Symptome plausibel und überzeugend vorzutragen.[81] In der Regel erwecken diese Patienten zunächst den Eindruck, nicht abseits der Gesellschaft zu stehen und sich z. B. aufgrund ihrer Krankheit zu isolieren, sondern vielmehr eine vertraute und soziale Bindung zu ihrer Außenwelt zu pflegen.[82]

 

Insbesondere letztere Aspekte verdeutlichen die wesentlichen Unterschiede zwischen einer artifiziellen Störung im tradierten Sinne und dem sog. Münchhausen-Syndrom[83], denn trotz nennenswerter Unterschiede werden beide Termini oftmals fälschlicherweise synonym verwendet, obwohl das Münchhausen-Syndrom mit lediglich 5 – 10% aller artifiziellen Störungen eine sehr selten auftretende, gar die extremste Sonderform dieser darstellt.[84] Auch die Geschlechterverteilung variiert, da es sich bei Betroffenen des Münchhausen-Syndroms auffallend häufiger um unverheiratete Männer mittleren Lebensalters, die in aller Regel entfremdet von ihren Familien und allgemein meist sozial isoliert leben, handelt.[85] Darüber hinaus weisen Münchhausen-Patienten schwere, meist dissoziale Persönlichkeitsstörungen[86] auf und neigen zu tiefgreifenden Beziehungsstörungen.[87] Anders als bei einer klassischen artifiziellen Störung ist die Beziehung zum Krankenhauspersonal oftmals problembelastet, sodass betroffene Patienten auf eigenen Wunsch hin aus der Obhut der Mediziner fliehen.[88] Zwar täuschen Betroffene des Münchhausen-Syndroms ebenfalls Krankheiten vor, jedoch erzeugen bzw. übertreiben sie Krankheitssymptome seltener; vielmehr wird ihre seltene Störungsform zum einen begleitet durch pathologisches Lügen, das als Pseudologia phantastica[89] definiert ist, und zum anderen durch ein extremes Umherwandern zwischen medizinischen Einrichtungen.[90]

 

Ashers Erkenntnisse zu ungewöhnlichen, gekünstelten Krankheitsbildern, die undifferenziert schlicht unter dem Terminus des Münchhausen-Syndroms subsumiert wurden, etablierten sich rasch im englischsprachigen medizinischen Raum, sodass zahlreiche Autoren eigene Fallbeschreibungen in Anlehnung an Ashers Beiträge veröffentlichten.[91] Einer dieser Autoren, der englische Kinderarzt Roy Meadow, wurde in den 70er Jahren binnen eines überschaubaren zeitlichen Abstands zweimalig mit einer paradoxen und subtilen Form der Kindesmisshandlung, die zum damaligen Zeitpunkt in der Fachliteratur weitestgehend als unbekannt galt, konfrontiert.[92] Um medizinisch nicht indizierte Behandlungen zu erzwingen, misshandelten zwei Mütter unabhängig voneinander ihre Kinder auf derartig absurde Art und Weise,[93] wie es Meadow weder in seiner alltäglichen Berufspraxis noch innerhalb der Literatur begegnet war.[94]

 

Aufgrund dieser surrealen Erfahrungen veröffentliche Meadow im Jahr 1977 den bis dato durchweg zitierten Fachartikel Munchhausen Syndrome by proxy – The Hinterlands of Child Abuse in der medizinischen Fachzeitschrift The Lancet. In Anlehnung an Asher, verlieh Meadow dem damalig weitestgehend unbekannten und mysteriösen Phänomen einen Namen, führte das Münchhausen-by-proxy-Syndrom in die wissenschaftliche Literatur ein und gilt somit als Entdecker des Syndroms.[95] Dabei wird das englische Adjektiv by proxy sinngemäß als stellvertretend oder auch in Stellvertretung übersetzt, weshalb das Syndrom in der deutschsprachigen Literatur gleichwohl und synonym als Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom bezeichnet wird.[96] Meadow wählte diese Bezeichnung, zumal da die Mütter Krankheitssymptome nicht am eigenen Körper, sondern am Körper ihres Kindes stellvertretend fabrizierten.[97] Doch bereits im selben Jahr wurde „die Meadow‘sche Namensgebung […] in Zweifel gezogen“[98], zumal das Münchhausen-by-proxy-Syndrom deutlichere Parallelen zur artifiziellen Störung als zum Münchhausen-Syndrom aufweist. Im Verlauf der vorliegenden Arbeit wird näher auf jene Diskussion um die Begriffsbezeichnung des Münchhausen-by-proxy-Syndroms eingegangen, besonders da auch heutzutage – rund 40 Jahre nach Erstbeschreibung des Syndroms – die Diskussionen und Verwirrungen in der Fachliteratur bzgl. des Terminus‘ nicht abreißen.[99]

 

Zusammenfassend ergibt sich, dass das Phänomen selbsterzeugter Krankheiten bereits seit Jahrhunderten in der Fachliteratur beschrieben und diskutiert wird. Im klinischen Sprachgebrauch werden simulierte, übertrieben dargestellte und/oder selbsterzeugte Krankheitsbilder mittlerweile unter dem Begriff der artifiziellen Störungen – die sich in zahlreiche Sonderformen, wie etwa dem Münchhausen-Syndrom gliedern – subsumiert. So gilt auch das sog. Münchhausen-by-proxy-Syndrom (MbpS), das in Anlehnung an den Lügenbaron Münchhausen betitelt und 1977 durch den englischen Kinderarzt Meadow in die wissenschaftliche Literatur eingeführt wurde, als vermutlich selten in Erscheinung tretende Sonderform artifizieller Störungen, weshalb es synonym ebenfalls als artifizielle Störung by proxy bezeichnet wird.

 

2.2 Definitionen


 

Obwohl mit Erscheinen des Meadow’schen Artikels hunderte Beschreibungen ähnlich gelagerter Fälle folgten,[100] gilt das Münchhausen-by-proxy-Syndrom bis dato als nicht abschließend definiert[101] und erfährt trotz seiner Einzigartigkeit ungewöhnlich wenig Aufmerksamkeit.[102] Nachfolgend gilt es aufzuzeigen, wie das MbpS in der wissenschaftlichen Literatur beschrieben ist.

 

Nachdem sich Meadows Erstbeschreibung lediglich auf zwei Fälle seiner eigenen Berufspraxis stützte[103] und sich hieraus – insbesondere aus Gründen mangelnder empirischer Haltbarkeit – keine allgemeingültige Definition ableiten ließ, konstruierten zahlreiche Autoren eigene Definitionen des Syndroms.[104] So schlug die US-amerikanische Kinderärztin Rosenberg im Jahr 1987 eine Definition des MbpS vor, die sich aus der Auswertung 117 gesicherter...

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