In meiner ersten Dialogveranstaltung, zu welcher ich von Renate eingeladen wurde, waren etwa zehn Personen, von welchen ich die meisten mehr oder weniger gut kannte. Wir sassen auf Stühlen, die im Kreis aufgestellt waren. Am Boden in der Mitte des Kreises waren eine Vase mit einigen Tulpen und einige andere Gegenstände auf einem farbigen Tuch. Nachdem sich alle gesetzt hatten, schob Renate die nichtbesetzten Stühle aus dem Kreis, setzte sich selbst wieder und begrüsste uns. Sie schlug eine ganz kurze Vorstellungsrunde vor. Ich sagte, dass mir solche Runden immer etwas peinlich seien, weil ich nie recht wisse, was ich in solchen Runden sagen solle. Die meisten sagten ihren Namen, was sie arbeiten und woher sie Renate so gut kanten, dass sie eingeladen wurden. Dann sagte Renate, wir sollen uns zuerst einige Gedanken über unsere Erwartungen und über den Dialog machen, also gemeinsam zusammenzutragen, was wir als Dialog bezeichnen und was wir uns von einem Dialog erhoffen. Sie sagte, wir sollten dabei nicht um Definitionen streiten, weil es nicht um richtig oder falsch gehe, sondern offenen Herzens aufzählen, was uns wichtig scheine. Wir sollten nicht bewerten, was andere sagten, sondern zuhören und uns zu eigenen Vorstellungen inspirieren lassen, die wir dann wiederum in den Kreis eingeben sollen. Sie selbst habe damit bereits gesagt, was ihr im Dialog sehr wichtig scheine, nämlich dass wir von Herzen sprechen und nicht sofort bewerten, was andere sagen.
Renate verdichtete unsere Beiträge. In ihrer Zusammenfassung haben wir in unserem Dialog zusammengetragen, dass wir uns gegenseitig respektieren, zuhören, vor allem von uns selbst und unseren Erfahrungen sprechen und dabei auf Annahmen und Bewertungen verzichten sollten. Wir umschrieben dies durch eine achtsam erkundende Haltung, wie sie ernsthaft Lernende auszeichnet. In dieser Haltung würden wir nicht nur beobachten, was gesagt wird, sondern auch, wie wir in der Kommunikation aufgehoben sind, wie wir durch unsere Kommunikation eine Kommune, eine Gemeinschaft werden.
Renate erzählte dann von einem Buch von David Bohm, in welchem die Grundzüge des Dialoges, wie wir sie eben selbst entwickelt hätten, beschrieben seien. David Bohm habe realisiert, dass unsere Gespräche oft gar keine Gespräche seien, sondern hoffnungslose Diskussionen, in welchen es nur darum ginge, wer Recht habe. Er siedle den Dialog als offenes Gespräch am Ende der Diskussionen an, also dort, wo die Einsicht gewonnen wurde, dass weitere Diskussionen zu nichts mehr führen. Der Dialog beruhe auf Fertigkeiten, die in unserer Diskussionsgesellschaft verkümmert seien. David Bohm habe die Dialogveranstaltungen entwickelt, um diese Fertigkeiten, die wir früher einmal alle gehabt hätten, zu reanimieren und zu neuer Blüte zu bringen. Respekt und Achtsamkeit, sagte Renate, seien Haltungen, diese Haltungen seien aber nicht nur eine innere Angelegenheit, sondern würden sich im Dialog zeigen, also darin, wie wir gegenseitig miteinander sprechen. Im Dialog würden diese Haltungen sichtbar und erfahrbar.
Unsere nächste Aufgabe war, gemeinsam zu überlegen, wie sich die dialogische Haltung auf unsere Sprache und auf unser Sprechverhalten auswirke. Renate sagte, wir könnten uns dazu beispielsweise überlegen, wie sich Dialoge von hitzigen Diskussionen unterscheiden. Erneut verdichtete sie als Moderatorin, was in dieser Runde gesagt wurde. In Diskussionen würden sich die Leute oft gegenseitig ins Wort fallen, andere diskreditieren und deren Argumente zerpflücken. In Diskussionen wolle jeder Recht haben und die anderen missionarisch zu einer anderen, der je eigenen Meinung überzeugen. Renate machte uns auf einen Punkt speziell aufmerksam, indem sie uns anwies, auch noch etwas zu bedenken, dass in Diskussionen sehr oft Tatsachen behauptet werden. Wir fanden, dass viele dieser Tatsachen sich später als Fantasien entpuppen, dass es aber schwierig ist, etwas gegen ins Feld geführte Tatsachen zu sagen, weil man Tatsachen eigentlich nur mit anderen Tatsachen bestreiten könne, was mithin auch der Grund sei, warum bestimmte Diskussionen so hitzig werden. Den nach dieser Erkenntnis auf der Hand liegenden Vorschlag brachte Renate selbst, indem sie sagte: "Also könnten wir im Dialog versuchen, auf alle Tatsachen und Wahrheiten zu verzichten. Was haltet Ihr davon?" Wir spielten etwas mit dieser Vorstellung herum, dann sagte sie: "Ich meinte das nicht ganz so radikal. Mein Vorschlag wäre, dass wir nur über unsere eigenen Erfahrungen und über unsere eigenen Folgerungen sprechen." Das seien ja auch Tatsachen, aber subjektive, die für andere Menschen nicht zwingend seien. Wenn jemand sage, dass er etwas gesehen, erlebt oder gefühlt habe, spreche er über seine Wahrnehmungen, nicht über die Wirklichkeit. Das erleichtere ihr das Zuhören sehr. Nur über eigene Wahrnehmungen zu sprechen sei ganz einfach. Wir müssten dazu nur Ich-Formulierungen verwenden, also nicht von "man" sprechen und einfach nichts behaupten und nicht erzählen, wie die Welt wirklich sei.
Dann erzählte Renate aus einem anderen Buch. Im Dialogverfahren, wie sie die Sache jetzt nannte, müssten sich die Teilnehmenden ohnehin an bestimmte Regeln halten, wie wir sie ja auch formuliert hätten. So sei beispielsweise klar, dass man im Dialog niemanden unterbreche. Sie sagte: "Wenn ich aber achtsam bin, unterbreche ich auch niemanden, der noch nicht spricht, sondern sich erst noch überlegt, was er sagen will. Ich meine damit, dass wir in der Dialogrunde darauf achten können, ob jemand etwas sagen will. Wenn ich merke, dass jemand zum Wort ansetzt, warte ich mit meinen Worten." Wir hatten einige skeptische Teilnehmer im Kreis, oder etwas dialogischer gesagt, einige der Teilnehmenden äusserten sich manchmal skeptisch. Peter, der sich als Physiker vorgestellt und schon einige Male auf den naturwissenschaftlichen Dialog verwiesen hatte, sagte: "Wenn ich warte und alle andern auch warten, weil ja niemand weiss, ob nicht gerade jemand anderer reden will, dann warten doch alle, dann ist der Dialog zu Ende, weil niemand mehr spricht." Renate lächelte und wartete etwas, bevor sie antwortete: "Wenn ich achtsam bin, merke ich dann schon, dass niemand spricht, dann kann ich etwas sagen. Und in der Zwischenzeit, also solange alle noch warten, kann ich noch etwas den Worten hinterher denken, nachdenken, die ich zuvor gehört habe."
Renate stand auf und ging in die Mitte des Kreises. Sie nahm einen kurzen Stab, der neben einer Schale lag, und schlug damit an den Rand der Schale, die wie ein heller Gong tönte. Der Klang verhallte ganz langsam und alle lauschten dem Klang nach. Renate sagte: "Mindestens am Anfang kommt es öfter vor, dass alle reden wollen als dass alle schweigen. Dann wird auch der Dialog hitzig. Wenn jemand merkt, dass er nur noch zum Wort kommen könnte, wenn er die andern unterbricht, geht er in die Mitte und schlägt diese Klangschale an. Dann schweigen alle, bis der Klang auch schweigt. Ihr werdet sehen, das wirkt Wunder. Aber wir wollen uns nicht nur auf dieses Wunder verlassen." Sie hob einen anderen Stab auf, einen gläsernen, der mit farbiger Flüssigkeit und glitzernden Partikel gefüllt war. "Das ist sozusagen unser Zauberstab. Nur wer ihn in den Händen hat, darf sprechen. Jetzt darf nur ich sprechen, weil ich den Stab habe. Wenn ich fertig gesprochen habe, lege ich den Stab hin und wer etwas sagen will, holt zuerst den Stab." Peter sagte: "Das ist ein lustiges Spiel, es erinnert mich an den Kindergarten ..." Renate unterbrach ihn: "Du solltest jetzt eben nichts sagen, weil Du den Stab nicht hast. Es geht mir mit dem Stab um Folgendes: Er verlangsamt unser Gespräch. Wenn ich beispielsweise jemanden, der etwas sagt, an den Kindergarten erinnern möchte, oder ihn gar mit einem tollen Argument widerlegen will, muss ich etwas warten. Und in der Zeit, bis ich endlich zum Sprechstab gekommen bin, hat sich vielleicht mein Gemüt beruhigt, und ich muss gar nicht mehr sagen, was mir vorher so dringend schien."
Renate legte den Stab in die Mitte und setzte sich. Alle schienen zu warten, niemand holte den Stab und niemand sagte etwas, ohne den Stab zu holen. Nach einer ganzen Weile sagte Renate lachend: "Jetzt scheint der Dialog zu Ende zu sein!" Und Peter sagte sofort: "Du hast den Stab nicht geholt!" Alle lachten. Peter holte den Stab und sagte noch im Stehen: "Ich finde das immer noch wie im Kindergarten und ich frage mich, wozu wir neben dem Stab auch noch die Klangschale haben. Das ist ja nicht nur doppelt genäht." Renate sagte: "Ich möchte Euch bitten, jeweils erst zu sprechen, wenn Ihr wieder sitzt. Es geht ja um eine Verlangsamung und es wird natürlich viel langsamer, wenn wir auf unsere Stühle zurückgehen, als wenn wir in der Mitte stehen bleiben und einander den Zauberstab aus den Händen reissen. Die Klangschale ist einfach ein zusätzliches Mittel. Vielleicht brauchen wir sie nie, aber auch dann sehen wir sie doch in der Mitte stehen und das hilft uns vielleicht, daran zu denken, nicht in eine hitzige Diskussion zu verfallen." Peter stand immer noch mit dem Zauberstab in der Mitte. Mir schien, er wollte etwas darüber sagen, dass der Zauberstab offenbar nicht recht funktioniert, weil schon wieder Renate gesprochen hatte, er liess es aber bleiben. Er legte den Stab wieder in die Mitte und setzte sich.
Nach einer Weile sagte Renate: "Ich möchte Euch noch ein ganz wichtiges Prinzip...