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E-Book

Der Euro

Von der Friedensidee zum Zankapfel

AutorHans-Werner Sinn
VerlagCarl Hanser Fachbuchverlag
Erscheinungsjahr2015
Seitenanzahl560 Seiten
ISBN9783446444690
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis6,99 EUR
Von Anfang an sollte der Euro mehr sein als eine Währung: Er verkörpert den Wunsch nach Einheit und Frieden in Europa. Doch gut ein Jahrzehnt nach seiner Einführung geht ein tiefer Riss durch Europa. Im Süden bleibt die Arbeitslosigkeit unerträglich, die Wirtschaft liegt am Boden. Der Norden sieht sich in die Rolle des Zahlmeisters gedrängt und wird von der EZB in Geiselhaft genommen. So wächst auf beiden Seiten die Unzufriedenheit. Wir haben einen politischen Weg eingeschlagen, der unsere Marktwirtschaft, die Demokratie und den Frieden in Europa gefährdet. Hans-Werner Sinn liefert in diesem Buch eine Analyse der jüngsten Entwicklungen und zeigt, was zu tun ist, um die Krise zu beenden.

Hans-Werner Sinn, geboren 1948, hat wie kein anderer die wirtschafts- und sozialpolitischen Debatten des letzten Vierteljahrhunderts geprägt. Sinn ist Professor für Volkwirtschaft an der Ludwig-Maximilians-Universität in München und war Präsident des renommierten ifo Instituts, das er in der Krise übernahm und zu einem weltbekannten Forschungszentrum machte. Sinn erhielt zahlreiche Auszeichnungen, Ehrendoktorwürden und Preise aus dem In- und Ausland und ist Autor vieler Fachartikel und Bücher, von denen mehrere zu Bestsellern wurden. Auch nach seiner Emeritierung gilt er als einer der einflussreichsten Ökonomen und Intellektuellen hierzulande, arbeitet wissenschaftlich, hält Vorträge und ist begehrter Gesprächspartner für Politik und Medien.

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Leseprobe

Der Euroraum im Wandel


Will man das Europrojekt angemessen beurteilen, muss man sich zunächst fragen, was Europas Politiker von ihm ursprünglich erhofften und was der Bevölkerung versprochen wurde. Im Zentrum standen die Erwartungen an die europäische Wirtschaft. Dies wird durch kein Zitat besser belegt als durch die Schlusserklärung der Lissabon-Agenda, formuliert auf einem Sondergipfel der europäischen Staats- und Regierungschefs im März 2000:1

»Die Union hat sich heute ein neues strategisches Ziel für das kommende Jahrzehnt gesetzt: das Ziel, die Union zum wettbewerbsfähigsten und dynamischsten wissensbasierten Wirtschaftsraum in der Welt zu machen – einen Wirtschaftsraum, der fähig ist, ein dauerhaftes Wirtschaftswachstum mit mehr und besseren Arbeitsplätzen und einem größeren sozialen Zusammenhalt zu erzielen.«

Die sogenannte Lissabon-Agenda bildete ein breit angelegtes europäisches Programm zur Förderung von Innovation und Wirtschaftswachstum, das als Komplement zu der Einführung des Euro gedacht war und seine Wirkung parallel zu der gemeinsamen Währung entfalten sollte. Man wollte eine neue Aufbruchsstimmung in Europa erzeugen und den Kontinent zu neuer Blüte bringen. Ein Jahr zuvor war der Euro bereits als Verrechnungseinheit für Banken eingeführt worden, und im Jahr 2002 sollte schließlich die physische Einführung folgen. Mit der ehrgeizigen Lissabon-Agenda und dem Euro schienen alle Weichen auf Wachstum und Wohlstand gestellt.

Zum Optimismus trug auch der Konjunkturaufschwung bei, der Europa und die Welt damals erfasst hatte. Jene Länder, die heute die Europäische Union bilden, wuchsen im Jahr 2000 um 3,9%, was wesentlich mehr als der Schnitt der vorangegangenen Dekade war. Die Arbeitslosigkeit ging ebenfalls merklich zurück. Es gab somit allen Grund, an bessere Zeiten zu glauben. Viele waren überzeugt, dass eine gemeinsame Währung auf unserem Kontinent eine Dynamik entfalten würde, wie man sie zuletzt in der Nachkriegszeit gesehen hatte. »Der Euro verhilft dem Alten Kontinent zu einer Frischzellenkur«, prognostizierte beispielsweise McKinsey-Chef Herbert Henzler.2 Bankenökonomen prophezeiten der Eurozone »eine goldene Kindheit«,3 und Vertreter europäischer Institutionen wie Christian Noyer, der Vizepräsident der EZB, priesen den Euro als »wahre Triebfeder für Wachstum«.4 Es gab viele solcher Stellungnahmen. Und auch der Verfasser muss zugeben, dass er, ohne den Enthusiasmus zu teilen, damals die Erwartung hegte, dass der Euro zu einer für Gesamteuropa nützlichen Umlenkung der Investitionen von Nord- nach Südeuropa führen würde.5

Die Realität sah jedoch leider anders aus. Der Wirtschaftsaufschwung entpuppte sich als Internet-Blase, die schon im Jahr 2001 platzen sollte. Zwar kam es zu den Kapitalströmen, doch Europa avancierte in dem Jahrzehnt, auf das sich die Lissabon-Agenda bezog, nicht etwa zur dynamischsten Region, sondern zum Schlusslicht der Welt. Abbildung 1.1 verdeutlicht dies. Von 2000 bis 2010 wuchs die Weltwirtschaft insgesamt um 47%, doch die EU lag mit einem Wert von nur 17% ganz am unteren Ende der Großregionen der Welt, knapp hinter den USA. Und sie war auch nur in Schlagdistanz zu den USA, weil die rasch wachsenden osteuropäischen Länder, die noch viel aufzuholen hatten, in der Statistik mitgezählt wurden. Für sich genommen wuchs Osteuropa, inklusive der ehemals kommunistischen Länder Mitteleuropas, um bemerkenswerte 45%; die heutigen Mitgliedsländer der Eurozone standen dagegen mit rund 12% weit abgeschlagen auf der Wachstumsskala. China war in der Vergleichsstatistik Spitzenreiter mit 171% Wachstum, und selbst Subsahara-Afrika und Lateinamerika wuchsen um 78% und 39%. Der wettbewerbsfähigste und dynamischste Wirtschaftsraum der Welt erwies sich als Luftschloss. Selten lagen Wunsch und Wirklichkeit so weit auseinander, wie es in Europa unter dem Euro der Fall war.

Und es sollte noch schlimmer kommen. Im Sommer 2007 schwappte die Finanzkrise, die bereits in den Jahren 2006/2007 in den USA begonnen hatte, mit voller Wucht nach Europa herüber. Bereits ein Jahr später befanden sich sämtliche Länder der Eurozone in einer Rezession, wie sie die Welt nach dem Krieg noch nicht gesehen hatte. In der Wissenschaft spricht man deshalb von der »Großen Rezession«, in Anlehnung an den englischen Begriff »Great Recession« für die Weltwirtschaftskrise Ende der 1920er-Jahre.6 Die südeuropäischen Länder der Eurozone haben sich davon bis zum heutigen Tage nicht erholt, weil ihre strukturellen Probleme, über die die nachfolgenden Kapitel informieren werden, nun offen zutage traten.

Abbildung 1.1 Wachsttum ausge­wählter Länder und Regionen (2000–2014)

* Wachstum 2000–2010.
** inklusive der ehemals kommunistischen Gebiete Mitteleuropas.

Quelle : Internationaler Währungsfonds, World Economic Outlook, April 2015.

Die Volkswirtschaften Griechenlands, Ir- lands, Portugals, Spaniens, Italiens und Zyperns (zusammengefasst als GIPSIZ-Länder) wurden in solch enormem Maße in Mitleidenschaft gezogen, dass riesige internationale Rettungspakete von der Europäischen Zentralbank (EZB), dem Internationalen Währungsfonds (IWF), der Europäischen Union (EU) und den anderen Ländern der Eurozone geschnürt wurden.7 Die beschlossenen Rettungsmaßnahmen boten Hilfe, aber keine Lösung der zugrunde liegenden strukturellen oder wettbewerblichen Probleme. Die makroökonomischen Schlüsselindikatoren zeugen zwar gegenwärtig, im Sommer 2015, von einer Entspannung der Krise, doch von ihrer Überwindung kann noch keine Rede sein. So waren, wie Abbildung 1.2 verdeutlicht, im April 2015 noch 26% der Griechen arbeitslos. In Spanien erreichte die Arbeitslosenzahl in den Monaten Februar bis April 2013 mit 26% ihren historischen Höchststand und ging danach auf 23% im Mai 2015 zurück, wobei eine genauere Analyse zeigt, dass dieser Rückgang vor allem auch damit zu tun hat, dass viele Arbeitslose ausgewandert sind. Die Arbeitslosenzahlen in Italien (12%), Portugal (13%) und Zypern (16%) sind, auch wenn sie deutlich niedriger ausfallen, ebenfalls alarmierend, wobei im größten südeuropäischen Land, Italien, nicht einmal eine Trendumkehr zu beobachten ist. Nur Irland hat sich aus Gründen, die in Kapitel 4 erläutert werden, aus der Rezession befreien können. Es bleibt abzuwarten, inwieweit die Stabilisierung, die man bei den kleineren südeuropäischen Ländern sieht, mehr ist als ein Strohfeuer, das durch eine Belebung der Binnennachfrage aufgrund des niedrigen Ölpreises, der Niedrigzinspolitik der EZB und der Lockerung der staatlichen Schuldenbremsen zustande kam. Die aktuelle Griechenland-Krise, die bei der Abfassung dieser Zeilen an Wucht zunahm, aber in den Statistiken noch nicht aufscheint, lässt Skepsis geboten sein.

Abbildung 1.2 Arbeitslosenquoten in den GIPSIZ-Ländern, saisonbereinigt

Quelle: Eurostat, Datenbank, Bevölkerung und soziale Bedingungen, Arbeitsmarkt, Beschäftigung und Arbeitslosigkeit.

Die Zahlen über die Jugendarbeitslosigkeit sind noch beunruhigender. Die Arbeitslosigkeit ist bei Jugendlichen besonders hoch, weil ältere Arbeitnehmer häufiger in geschützten Arbeitsverhältnissen beschäftigt sind. Abbildung 1.3 zeigt, dass die Jugendarbeitslosigkeit im Frühjahr 2015 für unter 25-Jährige in Spanien knapp unter 50% (Mai) und in Griechenland mit 53% (April) deutlich darüber lag. Die Jugendarbeitslosigkeit in Italien und Portugal ist mit Quoten von 42% und 33% zwar weniger dramatisch, aber dennoch alarmierend hoch; sie beträgt das Fünf- bis Sechsfache des deutschen Wertes (7%). Alarmierend ist wiederum, dass gerade in Italien bis zum Frühsommer 2015 keine Verbesserung, sondern nur eine Seitwärtsbewegung zu erkennen war.

Abbildung 1.3 Jugendarbeitslosigkeit (< 25 Jahre) in den GIPSIZ-Ländern, saisonbereinigt

Quelle: Eurostat, Datenbank, Bevölkerung und soziale Bedingungen, Arbeitsmarkt, Beschäftigung und Arbeitslosigkeit.

Auf den ersten Blick könnte man annehmen, dass die Jugendarbeitslosigkeit allein schon deshalb so hoch ist, weil viele Jugendliche noch in der Ausbildung stecken. Das ist aber nicht der Fall. Die Schüler und Studenten sind im Regelfall weder bei den Arbeitslosen noch bei den jugendlichen Erwerbspersonen, auf die sich die Quote bezieht, mitgerechnet. Die Jugendarbeitslosigkeitsquote erfasst nur jene Jugendlichen unter 25 Jahren, die als beschäftigungssuchend registriert sind. Es ist ähnlich wie bei der Gesamtarbeitslosenquote, wo ja auch nur Erwerbspersonen erfasst sind, also Menschen, die Arbeit suchen oder Arbeit haben, und nicht etwa alle arbeitsfähigen Personen.

Die wirtschaftliche Situation in Südeuropa offenbart gefährliche Verwerfungen. Ungewiss ist, wie lange die Bevölkerung das noch mitmacht und wie stark die politische Radikalisierung voranschreitet. Es wäre schrecklich, wenn eine fortschreitende Krise das europäische Einigungsprojekt immer mehr in Misskredit bringen würde.

Insgesamt gesehen ist die Situation in Südeuropa nach wie vor höchst unbefriedigend, wenn nicht gar gefährlich. Am schlimmsten getroffen hat es die griechische Wirtschaft, die sich seit dem Ausbruch der Krise im freien Fall befindet. In den Jahren 2011, 2012 und 2013 schrumpfte die griechische Ökonomie um 8,9%, 6,6% und 3,9%. Im Jahr 2014 gab es mit einem Plus von 0,8% einen Hoffnungsschimmer,...

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