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Der Freiheit geopfert

Die Biografie des Friedensnobelpreisträgers Liu Xiaobo

AutorBei Bei Ling
Verlagriva Verlag
Erscheinungsjahr2010
Seitenanzahl384 Seiten
ISBN9783864130540
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis2,99 EUR
**Die einzige Biografie des Friedensnobelpreisträgers - von seinem alten Freund Bei Ling** Der Schrifsteller Liu Xiaobo steht seit mehr als zwei Jahrzehnten für den gewaltfreien Kampf chinesischer Intellektueller gegen die Unterdrückung des Volkes und für mehr Menschenrechte in China. Seinen Einsatz für mehr geistige und gesellschaftliche Unabhängigkeit in der Volksrepublik hat Liu Xiaobo mit seiner Freiheit bezahlt. Er sitzt in einem Gefängnis, 500 Kilometer von seinem Zuhause in Peking entfernt. Der chinesische Dissident und Präsident des PEN-Clubs unabhängiger Schriftsteller in China wurde zu elf Jahren Haft verurteilt: Der Vorwurf: Untergrabung der Staatsgewalt. Am 10. Dezember 2010 erhält der Kämpfer für Menschenrechte den Friedensnobelpreis. Sein langjähriger Freund, der Schriftsteller und Dissident Bei Ling, gründete mit Liu Xiaobo zusammen den PEN-Club in China. Auch er wurde von den chinesischen Sicherheitsbehörden verhaftet und ins Gefängnis gesteckt. Bei Ling wurde freigelassen, weil sich namhafte Schriftstellerkollegen wie Günther Grass oder Susan Sontag für ihn einsetzen. Jetzt schreibt er die ganz persönliche Biografie von Liu Xiaobo, seinem Freund und Wegbegleiter.

Bei Ling, geboren 1959 in Peking, ist ein chinesischer Schriftsteller, Poet, Essayist und Dissident. Er ist eng mit Liu Xiaobo befreundet und gründete mit ihm zusammen den PEN-Club in China. Im Jahr 2009 rückte er in den Fokus deutscher Medien, als er im Rahmen der Frankfurter Buchmesse an einem Symposium teilnahm, das auch Vertreter der chinesischen Regierung besuchten. Er lebt in den USA und in Taiwan.

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Leseprobe

1


DIE ERSTE ZIGARETTE

Wenn Liu Xiaobo an seine frühe Kindheit zurückdenkt und davon erzählt, dann beginnt er immer so: »Unter Mao Zedongs Herrschaft, von 1950 bis 1970, war die Gesellschaft nach strengen Machtverhältnissen eingeteilt. Nicht nur das Einkommen war nach hierarchischen Prinzipien geordnet, sondern auch die Verpflegung mit Lebensmitteln, wie verschiedenen Mehl- und Reissorten, Hirse, Mais und anderen Getreidearten, war schichtspezifisch geregelt. Die Privilegierten und hohen Funktionäre sowie deren Familien bekamen das feinste Mehl, die anderen erhielten nur gröberes Mehl und geringwertige Waren. Mehl und Reis machten etwa dreißig Prozent der Gesamtversorgung mit Getreide aus. Alles war rationiert, selbst für lebensnotwendige Güter wie Kleidung, Stoffe und andere Waren gab es Bezugsscheine. Wohnungszuteilung, Schulbesuch und Krankenversorgung unterlagen ebensolchen Regelungen. Das galt für alle Städte in China, für die ländlichen Bezirke war das anders.«

Am 28. Dezember 1955 wurde Liu Xiaobo in der Stadt Changchun in der nordchinesischen Provinz Jilin als Kind eines Akademikerpaares geboren. Sein Vater lehrte als Professor an der Fakultät für chinesische Sprache und Literatur der Pädagogischen Universität Nordostchina. Ende der 80er-Jahre wechselte er an die Heeresuniversität in Dalian, wo er sich mit der Familie niederließ.

Liu Xiaobos Vater hatte zwar eine angesehene Position und war auch Parteimitglied, aber gedämpftes Brot aus gutem, reinem Weizenmehl gab es nur zum Frühlingsfest. Sonst wurden immer geringwertige Beimischungen hinzugefügt, um das Mehl zu strecken. Da die Lebensmittel rationiert waren, muss-ten auch grobe Sorten verwendet werden. Nur einmal in der Woche gab es Speisen aus Weizenmehl oder Reis.

Xiaobo war der dritte von fünf Brüdern. Der älteste Bruder, Liu Xiaoguang, arbeitete in Dalian in einer Wohnsiedlung für pensionierte Militärangehörige. Der zweite, Liu Xiaohui, war als Wissenschaftler im Museum der Provinz Jilin tätig. Der vierte Sohn, Liu Xiaoxuan, ist Professor im Institut für Materialien und Energie an der Technischen Universität Guangdong. Der jüngste Bruder, Xiaodong, starb 1997 in einer Polizeistation an einem Herzinfarkt. Er war verhaftet worden, nachdem ein paar Ungereimtheiten in den merkwürdigen Geschäften, die er betrieb, aufgefallen waren. Ein unseliges Thema, über das Liu Xiaobo nicht gerne sprechen mag.

In der Mao-Zeit herrschte große Armut im ganzen Land. Alle Lebensmittel wurden ausschließlich durch das staatliche Versorgungssystem rationiert und verteilt. Daher spielte Geld eigentlich gar keine so große Rolle. Viel wichtiger war es, Einfluss auf die Verteilung wichtiger Güter zu haben. Die individuelle Zuteilung hing offiziell nur von der Arbeitsleistung ab – in Wirklichkeit aber entschieden Macht und Einfluss. Weil die Position innerhalb der Rangordnung in diesem hierarchischen Macht- und Verwaltungssystem die tatsächliche Lage jeder Familie bestimmte, bildete sich dadurch bald eine neue Schicht von Privilegierten.

Schon während der »revolutionären« Yan’an-Zeit, lange vor der Gründung der Volksrepublik im Jahr 1949, waren diese Strukturen entstanden. Damals befand sich dort, in der Provinz Shaanxi, nach dem Ende des »Langen Marsches« die politische und militärische Basis der Kommunistischen Partei. Es gab in Yan’an Gemeinschaftsküchen für die einfachen Leute, Küchen für mittlere Kader und es gab das Essen für die wenigen ganz hohen Funktionäre. Bei der Kleidung unterschied man zwischen Produkten aus feinstem Stoff, aus mittelgrobem und einfachstem Material.

Liu Xiaobo ärgerte sich sehr, dass sein Vater in der Küche der Privilegierten speiste, während er und die Brüder in die Gemeinschaftsküche gehen mussten. Außerdem störte ihn das niedrige Niveau des Unterrichts in der Schule. Wegen der ständigen Unterforderung konnte er nicht ruhig auf seinem Stuhl sitzen. Einmal kletterte er auf das Fensterbrett, nur um Aufmerksamkeit zu erlangen. Der Lehrer ignorierte ihn völlig, worüber er sich dann noch mehr ärgerte.

Später, als er mit anderen Mittelschülern aufs Land geschickt wurde, war er wieder unzufrieden, diesmal mit dem Partei-sekretär des Dorfes. Erst gegen Ende der Kulturrevolution konnten Schüler, deren Eltern über gute Beziehungen verfügten, bereits vorzeitig in die Städte zurückkehren, um beispielsweise in einer Fabrik zu arbeiten. Die anderen mussten bleiben – sie hatten offenbar keine derartigen Beziehungen oder waren durch zu geringen Einsatz aufgefallen. Man erzählt sich, Liu Xiaobo sei eines Tages in das Büro des Parteisekretärs gegangen. Es ging um das Formular für die Rückkehr in die Stadt. In der einen Hand habe er ein blitzendes Küchenmesser, in der anderen eine silbrig glänzende Uhr gehalten. Der Sekretär habe die Uhr genommen und ihm das Formular gegeben. So sei er wieder in die Stadt zurückgekommen.

Seine Grundschulzeit fiel in die Periode der Kulturrevolution. Diese Zeit war geprägt durch die Zerstörungskraft dieser Bewegung sowie durch den Drang der Menschen, andere zu quälen und zu denunzieren, um sich zu schützen und sich selbst einen Vorteil zu verschaffen. Er war noch ein Kind, hatte aber wie alle anderen bereits seine »Zielscheiben«, gegen die er vorgehen und die er bekämpfen konnte. Das waren die Lehrer und das waren die Eltern. Um zu zeigen, wie groß er schon war, fing er in dieser Zeit an zu rauchen.

Da sein Vater Professor an der Pädagogischen Universität Nordostchina war, konnte Liu Xiaobo die angegliederte Grundschule besuchen. Sie galt als die beste in der ganzen Stadt, weswegen auch die Kinder der hohen Funktionäre dort eingeschult wurden. Nach Ausbruch der Kulturrevolution im Jahr 1966 wurde jedoch – wie überall – jeglicher Unterricht eingestellt. Xiaobo war damals als Elfjähriger in der 4. Klasse. In diesem Alter konnte er noch kein Rotgardist werden und sich auch nicht mit aller Kraft an den Aktionen der »Großen Proletarischen Kulturrevolution« beteiligen. Er durfte nur vom Hintergrund aus zuschauen, wie Debatten, Kampfsitzungen und gewalttätige Auseinandersetzungen verfeindeter Gruppen abliefen. Er sah, wie Wandzeitungen angeheftet und Gebäude und Kunstwerke zerstört wurden. Aber er konnte nicht wie die Rotgardisten im ganzen Land herumreisen.

Sein ältester Bruder besuchte zu jener Zeit schon die 10. Klasse des Gymnasiums und durfte an allen Aktionen teilnehmen – einmal war es ihm sogar erlaubt, mit dem Zug nach Peking zu fahren. Xiaobo bettelte, ihn doch mitzunehmen. Er wurde aber nicht ernst genommen und zurückgewiesen. Xiaobo erinnert sich: »Dass ich nicht früher geboren wurde, nicht reif genug war und diese aufregende Zeit daher verpasste, hat mich sehr geärgert. Auch wenn man als Kind nicht voll akzeptiert ist, hat man doch schon eine Menge mitbekommen und wird auch durch relativ kleine Ereignisse ins Gesamtgeschehen hineingezogen.«

Seit dem Ausbruch der Kulturrevolution waren die Erwachsenen nur noch mit dieser Bewegung beschäftigt und mussten ihre Kinder ganz sich selbst überlassen. Diese Kinder wurden auch als »Generation ohne Eltern« bezeichnet. Die guten Schüler wurden zu »Kleinen Rotgardisten«, die schlechten erlebten eine freie, zwanglose Zeit ohne Einmischung der Erwachsenen. Auch wenn kein geregelter Unterricht abgehalten wurde, sollten sich die Kinder in der Schule aufhalten. Es war damals aber üblich, dass Grundschüler und Mittelschüler die Schule schwänzten und sich aus Langeweile prügelten. Rauchen war große Mode. Da die Eltern keine Zeit hatten, spielte Xiaobo den ganzen Tag mit seinem Bruder Xiaoxuan. Er konnte sich ohne Zwänge entwickeln und konnte in seiner selbst erfundenen Welt versinken. Für ihn bestand die Kulturrevolution zuerst einmal aus Neugier, Anreiz, Aufregung, aus Barbarei und Grausamkeit, aber auch aus Freiheit. Er hatte aus Neugier mit dem Rauchen angefangen. Das war zugleich Risiko und Rebellion. Aus Neugier war aber schon bald eine Sucht geworden.

Einer seiner Klassenkameraden war der Sohn eines Generalmajors. Er hatte den Spitznamen Dapang, der »Dicke«, und wurde mit dem Auto zur Schule gebracht und wieder abgeholt – so wie heute die Kinder der Reichen. Dapang war sehr großmütig und brachte häufig leckere Bonbons mit. Er verteilte sie an seine Mitschüler und lud sie zu Eis, Kuchen oder kandierten Früchten ein. Eigentlich war er der Frechste in der Klasse, da sein Vater aber ein hoher Offizier war, durfte er jeden Unfug treiben. Beim Rauchen war er auch immer dabei. Er klaute die Zigaretten zu Hause und verteilte sie großzügig auf dem Pausenhof. Einmal brachte er welche der ausländischen Marke »555« in einer Metalldose mit. Ansonsten wurden nur die erstklassigen inländischen »Päonien« geraucht.

Zum 30. Jahrestag der Kulturrevolution schrieb Xiaobo einen Artikel mit der Überschrift »Mit elf Jahren habe ich das Rauchen angefangen«. Darin schrieb er:

An der Marke der Zigaretten, die ein Mitschüler rauchte, konnte man die Stellung der Eltern ablesen. Wer »Preiswert« rauchte, wurde gemieden. Schon damals war die chinesische Gesellschaft in Schichten gegliedert, die man an der Aufschrift auf den Zigarettenschachteln leicht erkennen konnte. Das prägte die Kinder, die daraus ihre Wertmaßstäbe ableiteten. Die besonders guten Zigaretten waren nicht frei käuflich, sie waren den Privilegierten vorbehalten. Aus diesem Grund entstand ein regelrechter Schwarzmarkt. Da an solcher Ware großer Mangel herrschte und diese Marken als Statussymbol galten, betrugen die Preise auf dem Schwarzmarkt ein Vielfaches des normalen Entgelts. Die Kinder wollten natürlich angeben und taten alles, um an das Geld für diesen Genuss zu kommen.

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