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E-Book

An der Seite des Lernens

Erfahrungsprotokolle aus dem Unterricht an Südtiroler Schulen - ein Forschungsbericht

VerlagStudienverlag
Erscheinungsjahr2016
Seitenanzahl224 Seiten
ISBN9783706558594
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis23,99 EUR
Wie kann es gelingen, dass SchülerInnen verschiedenen Alters, sozialer Herkunft oder Leistungsstandards gemeinsam unterrichtet werden? Dieser Frage widmete sich das Forschungsprojekt 'Personale Prozesse der Bildung in heterogenen Lerngruppen', das in Zusammenarbeit mit und als Weiterführung der Innsbrucker 'Vignettenforschung' durchgeführt wurde und dessen Ergebnisse in der vorliegenden Publikation präsentiert werden. An 15 Südtiroler Mittelchulen konzentrierten sich die ForscherInnen auf den 'lernseitigen' Aspekt des Lernens konzentriert und sammelten Erfahrungen, welche dann in Vignetten verdichtet wurden. Ergebnis ist ein Lesebuch mit wissenschaftlichem Anspruch, das sich als Beitrag zur Grundlagenforschung mit starkem Praxisbezug gleichermaßen an die Wissenschaftsgemeinschaft der Lern- und Bildungsforschung wie an die Südtiroler Schulwelt richtet. Die Vignetten aus dem Unterrichtsgeschehen sollen darüber hinaus der Aus- und Fortbildung von Lehrkräften dienen.

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Leseprobe

Siegfried Baur


Zum Projekt


Einleitung


Das Forschungsprojekt „Personale Bildungsprozesse in heterogenen Gruppen“, dessen Ergebnisse in diesem Buch dargestellt werden und die weit über eine reine Dokumentation hinausweisen, wie das Vorwort von Käte Meyer-Drawe zeigt, ist im Kontext einer zunehmenden Vielfalt von Lebenszusammenhängen zu sehen, die durch demographische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklungen zu einer starken Durchmischung der Schüler/innen an allen Schularten und Schultypen geführt hat. Kinder und Jugendliche weisen in ihren Sozialisationserfahrungen große Unterschiede auf und erhalten im Alltag derartig viele außerschulische Entwicklungsanstöße, dass sich die Begabungspotenziale in unterschiedlichste Richtungen entwickeln. Diese Heterogenität, die sich auch in Südtirol durch die Integration von Schüler/innen mit besonderen Bedürfnissen in die Regelklassen und durch die Einführung der Ganztagsklassen seit den 1970er Jahren verstärkt dargestellt hat, ist durch Migrationsprozesse zusätzlich angestiegen. Maßnahmen äußerer Differenzierung sind im Pflichtschul- wie im Sekundarschulbereich nicht möglich und werden auch nicht mehr angestrebt. Das gesellschaftspolitische Desiderat nach hohen Bildungsabschlüssen möglichst vieler Bürger/innen bedarf daher einer die Heterogenität nicht aussparenden, sondern kreativ nutzenden Didaktik. Dazu ist es nötig, Lernprozesse aus der Sicht des Kindes in heterogenen Lernfeldern zu erforschen, um einerseits individuell bzw. institutionell/organisatorisch bedingte Lernhemmnisse, andererseits Lernressourcen besser zu erkennen.

Forschungsgegenstand dieses Projektes war das Lernen ausgewählter Schüler/innen in der 1. Klasse von 14 deutschsprachigen und zwei ladinischen Mittelschulen Südtirols im Schuljahr 2012/2013.

In der Übergangsklasse von der Primarschule zur Sekundarstufe nehmen einerseits die Heterogenitätsphänomene in sozialer und kultureller Hinsicht noch einmal zu (Mittelpunktschulen, Wechsel von Land-, Berg- und Randgebieten in zum Teil urbane Zentren), andererseits zeigen sich eine Reihe von Transitionsproblemen durch eine unterschiedliche Organisation von Bildungsprozessen und unterschiedliche Lehr- und Lernparadigmen. Dazu kommt die hohe, territorial unterschiedliche, sprachliche Komplexität an den Südtiroler Mittelschulen (Dialekt-Hochsprache, Deutsch-Italienisch, Fremdsprache Englisch sowie die besondere Situation der paritätischen Schule in den ladinischen Tälern), weshalb durch die Studie an 16 Schulen eine möglichst große territoriale Abdeckung angestrebt wurde.

Die Auswahl der Mittelschulen erfolgte nach soziokulturellen und geographischen Kriterien und fußte auf einer Diskussion mit Expert/innen des Deutschen und Ladinischen Schulamtes, einer sogenannten expert validity. Dabei wurde darauf geachtet, dass in der Studie nicht nur Stadtgebiete und Landgebiete in ihrer geographischen Verteilung über das gesamte Land vertreten waren, sondern auch besondere wirtschaftliche, kulturelle und sprachliche Lebensräume (z. B. große relativ abgeschlossene Talschaften, vorwiegend italienischsprachige Gebiete, Gebiete mit einer gleich starken italienischsprachigen und deutschsprachigen Bevölkerung, wie auch Gebiete, in denen die deutsche Sprache stark überwiegt).

Im Sinne der Grundlagenforschung war es wichtig, zu untersuchen, ob die von den „Rahmenrichtlinien für die Grund- und Mittelschule in Südtirol“ (Beschluss der Landesregierung 2009) stark betonte Individualisierung und Personalisierung der Lernprozesse „lernseits“ ankommt. Die Vergabe der Noten 6 (Genügend) und 7 (Zufriedenstellend) zu fast 52% bei den Abschlussprüfungen der Mittelschule nach acht Pflichtschuljahren (Deutsches Schulamt 2011) deutet auf lernseitige Schwierigkeiten hin, die mit diesem Projekt nicht nur ins Licht gehoben werden, sondern Gegenstand einer Neubewertung in der Beziehung von Lernen und Lehren sein sollen. Der Lernbegriff wird in den bereits erwähnten Rahmenrichtlinien im Bereich der fachlichen und fächerübergreifenden Richtlinien wie folgt definiert:

„Lernen ist ein individueller, aktiver und ganzheitlicher Prozess, der auf Vorwissen aufbaut, mit Erfahrungen zusammenhängt und eine nachhaltige Veränderung im Verhalten und in den Einstellungen zur Folge hat. Die Lernenden erwerben auf der Grundlage der eigenen Erfahrungen und Wahrnehmungen, an konkreten Situationen, im Dialog mit anderen und in einem Klima des Vertrauens und der Wertschätzung neues Wissen und erweitern dadurch ihre Handlungskompetenz“ (ebd., 16).

In phänomenologischer Hinsicht müsste das Lernen allerdings radikaler gefasst und definiert werden. Meyer-Drawe tut das, wenn sie in „Diskurse des Lernens“ argumentiert:

„Lernen ist in pädagogischer Perspektive und in strengem Sinne eine Erfahrung. Das ist die Kernthese […]. So schlicht diese Aussage klingt, ihre Tendenz ist subversiv und anachronistisch. Während Störungen, Schwierigkeiten und andere Inadäquationen unpopulär sind, weil reibungslose, hochtourige Anpassung in einer stressfreien Atmosphäre das Ideal der Zeit ist, misst eine pädagogische Theorie des Lernens gerade der zeitraubenden Irritation eine erhebliche Bedeutung zu“ (Meyer-Drawe 2012b, 15).

Lernen hängt nicht nur mit Erfahrungen zusammen, es „gehört zu den elementarsten Erfahrungen des Menschen. Es wird, wenn durch es ein neuer Horizont eröffnet wird, als schmerzhafte Umkehr erlebt, in der eine Wiederbetrachtung, eine Revision statthat, die nicht nur das eigene Wissen, sondern die eigene Person zur Disposition stellt“ (ebd., 206). Lernen ist eben nicht nur ein kognitiver Prozess, sondern vor allem auch eine leibliche Erfahrung. „Diese umfasst aber nicht – sozusagen als Addition – dazu noch die emotionalen und sozialen Beziehungen des Lernenden, seine Empfindungen und Wahrnehmungen, sondern umfasst den ganzen Leib. Die Wendung ‚sich etwas einverleiben‘“ gibt es auch in der italienischen Sprache, wenn von ‚incorporarsi qualcosa‘1 die Rede ist“ (Baur & Schratz 2015, 162). An dieser Stelle ist es notwendig, einen Exkurs zum Kompetenzbegriff einzufügen. Zwei Zitate sollen diesen kurzen Abschnitt einleiten:

„Kompetenzorientierter Unterricht verfehlt die in ihn gesetzten hohen Erwartungen, wenn er nicht die Tiefenstruktur in der Beziehung zwischen Lehren und Lernen neu bestimmt. Die Tiefe des Verstehens in Beziehung zum Unterrichtsgegenstand bestimmt die Intensität der (fachlichen) Auseinandersetzung von Schülerinnen und Schülern“ (Schratz 2012, 17).

„Auf Kompetenzaufbau ausgerichtete respektvolle Aufgaben sind Begegnungspunkte am Wege eines Bildungsprozesses, sie beinhalten im günstigen Fall ‚bildende Erfahrungen‘, wie sie John Dewey (1949) nennt. Es lohnt daher, beim Stellen einer Aufgabe die Frage zu beantworten: Was ist das Bildende der Aufgabe? Bildende Aufgaben sind immer auch respektvolle Aufgaben, wenn sie lernseitig angelegt sind. Aus der Erkenntnis, dass ‚jede/r anders anders ist‘ (Arens/Mecheril 2010, 11) und lernt, ist die lernseitige Orientierung eine Voraussetzung für persönliche und bildende Lernerfahrungen“ (ebd., 19).

Es geht also nicht nur um ein Lernen als bildende Erfahrung, das vorwiegend an fachliche Kompetenzen denkt, es geht ebenso, wenn nicht noch mehr um übergreifende, überfachliche Kompetenzen, sogenannte soft skills wie Teamfähigkeit, Kompromissfähigkeit, Kooperationsfähigkeit, Flexibilität, emotionale Belastbarkeit, sprachliche und mediale Kommunikationsfähigkeit (auch inter- und transkulturelle). In diesem Sinne versteht sich Bildung als permanente und gezielte Förderung der gesamten Persönlichkeitsentwicklung von Kindern und Jugendlichen, ist in erster Linie diesen verpflichtet.

Führt nun Lernen als Erfahrung zum Erwerb genereller Fähigkeiten, zur Fähigkeit, sich auf neue Situationen einzulassen, dann stellt sich die Frage, wo denn dieses praktische Wissen lokalisiert ist? Kompetenzen werden im Leib inkorporiert: „Der Leib ist geradezu der Inbegriff dessen, was ‚ich kann‘, ohne dass ich es mir ausdrücklich vorstellen muss2, und teilweise auch, ohne dass ich es mir ausdrücklich vorstellen kann“ (Waldenfels 2000, 169). Dieses praktische Wissen ist vor allem ein „implizites“ Wissen (vgl. Polanyis „tacit knowledge“, 1985), das sich nur begrenzt explizit machen und in Worte fassen lässt.

Der empirische Zugang zum Projekt erfolgte über einen Forschungsansatz, der nahe an den Akteurinnen und Akteuren im Feld (Schule bzw. Unterricht) angesiedelt war. Im Mittelpunkt standen die Schüler/innen, deren individuelle Entwicklung über einen überschaubaren Zeitraum verfolgt wurde. An den 16 ausgewählten Schulen wurden jeweils zwei Schüler/innen mit unterschiedlichen Entwicklungs- und Leistungsvoraussetzungen von den Lehrpersonen benannt, um deren Bildungsverläufe über den Zeitraum eines Jahres zu verfolgen. Der phänomenologische Forschungsansatz konkretisierte sich in der miterfahrenden Erfahrung der personalen Bildungsprozesse der einzelnen Lernenden.

Diese bildenden Erfahrungen aus dem Schulalltag wurden in Vignetten verschriftlicht: das heißt, Miterfahrenes wurde wahrgenommen und in Sprache gekleidet. Die Vignette aber bleibt eine Erfahrung der/des Forschers/in, die/der sie schreibt, auch wenn sie ihren Ursprung in der Erfahrung der/des Schülers/in hat und somit eine geteilte Erfahrung ist. Sie deutet, indem sie auf etwas zeigt, auf etwas verweist, da die Erfahrung der/des Schülers/in als solche nicht fassbar ist. Wie Peterlini in seinem Beitrag „Fenster zum Lernen“ in...

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