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Der Untergang ist abgesagt

Wider die Mythen des demografischen Wandels

AutorThomas Straubhaar
Verlagedition Körber-Stiftung
Erscheinungsjahr2016
Seitenanzahl208 Seiten
ISBN9783896845030
FormatPDF/ePUB
KopierschutzWasserzeichen/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis13,99 EUR
Irgendwann wird Deutschland entvölkert sein. Nur in den Großstädten werden noch junge Menschen leben - alle mit Zuwanderungsgeschichte. Greise irren durch verwaiste Dörfer auf der Suche nach blühenden Landschaften. Das ist- überspitzt-das Untergangsszenario, das Medien und Meinungsmacher gern propagieren - und das nach der Diagnose des Volkswirts Thomas Straubhaar unhaltbar ist. Mit Leidenschaft und Fachkenntnis entlarvt er gängige Prognosen des demografischen Wandels als Mythen. Zwar birgt der demografische Wandel ernstzunehmende Probleme. Er bietet aber auch Chancen. Die Risiken zu minimieren und die Chancen zu nutzen, wird die gesellschaftliche und politische Herausforderung der nächsten Jahrzehnte sein. Keine einfache Aufgabe, aber eine durchaus lösbare, betont der renommierte Ökonom. Denn es ist die unberechtigte Angst vor dem demografischen Wandel, die uns lähmt und daran hindert, die Zukunft positiv zu gestalten. Thomas Straubhaar setzt gegen den grassierenden Pessimismus Entmythologisierung, Selbstvertrauen und Vernunft: Als stabile Demokratie und gesunde Volkswirtschaft kann Deutschland den Wandel gestalten. Der Untergang ist abgesagt!

Thomas Straubhaar ist Professor für Volkswirtschaftslehre der Universität Hamburg und Direktor des Europa- Kollegs Hamburg. Nach Studium und akademischen Stationen u.a. in Bern, Berkeley, Konstanz, Basel, Freiburg i. Br. und an der Helmut-Schmidt-Universität Hamburg war Straubhaar von 1999 bis 2014 zunächst Präsident des Hamburgischen Welt-Wirtschafts- Archivs (HWWA) und danach Leiter des Hamburgischen Weltwirtschaftsinstituts (HWWI). Zudem ist er Vorstand des Club of Hamburg, der sich intensiv mit dem demografischen Wandel befasst.

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Leseprobe

Deutschlands Bevölkerungszahl schrumpft


Das Statistische Bundesamt hat im Frühling 2015 erneut einen Blick in die demografische Zukunft Deutschlands gewagt.8 Und wie immer die Glaskugel gedreht und gewendet wurde – also auch unter ganz unterschiedlichen Annahmen und Betrachtungsweisen –, sind alle Befürchtungen bestätigt worden: Die Bevölkerung wird schrumpfen. Leben heute hierzulande gut 81 Millionen Menschen, könnten es 2030 weniger als 80 Millionen, 2045 74 Millionen und 2060 nur noch 67 Millionen sein. Das ist verglichen mit heute ein Rückgang um rund ein Sechstel. Dramatische Aussichten.

Eine oft gehegte Hoffnung erweist sich in den Simulationsrechnungen als reine Illusion: Zuwanderung wird den Schrumpfungsprozess nicht stoppen, sondern lediglich bremsen können. So geht das Statistische Bundesamt davon aus, dass zunächst weiterhin jährlich rund eine halbe Million Menschen mehr zu- als wegziehen werden. Ab 2016 würde dann ein langsamer Rückgang des Zuwanderungsüberschusses erfolgen. Bei »starker Zuwanderung« – also einem konstant bleibenden positiven Wanderungssaldo von 200.000 Personen pro Jahr und nicht nur 100.000 – würden in Deutschland 2030 81 Millionen, 2045 77,5 Millionen und 2060 73 Millionen Menschen leben – ein Minus gegenüber heute von 10%. Das ist immer noch besorgniserregend – zumindest auf den ersten Blick.9

Bei genauerem Hinsehen stellt sich die Frage, wie der aktuell enorm starke Zustrom von Asylsuchenden die vom Statistischen Bundesamt projektierte Bevölkerungsentwicklung beeinflussen wird. Zu erwarten ist, dass jährlich bis zu einer Million oder sogar noch mehr Flüchtlinge kommen – die höchste Zahl, die jemals innerhalb eines Jahres in der Nachkriegszeit in einem OECD-Land zu verzeichnen gewesen ist.10 Selbst wenn ein Großteil der Asylsuchenden irgendwann in ihre Heimat zurückkehren oder in andere Länder weiterwandern wird, werden viele bleiben. Sie werden das Schrumpfen der Bevölkerung für lange Zeit verhindern und später verzögern. Damit aber werden viele Prognosen zum demografischen Wandel – insbesondere die Schrumpfungsszenarien – schlicht Makulatur werden.

Das Statistische Bundesamt zeigt anhand einer Modellrechnung, was bei einem jährlichen Wanderungssaldo von 300.000 Personen passieren würde.11 Dann wird die Bevölkerung in Deutschland in den nächsten 20 Jahren nicht schrumpfen, sondern mehr oder weniger konstant bleiben. Erst gegen die Jahrhundertmitte würde sie dann unter die 80-Millionen-Grenze fallen. Ein vergleichsweise moderater Rückgang, der noch davon ausgeht, dass bis dahin die Geburtenzahl auf dem heute so tiefen Niveau verharrt.

So oder so wird die Zuwanderung natürlich einen Einfluss auf die Zusammensetzung der deutschen Bevölkerung haben. Ein immer größerer Teil der in Deutschland lebenden Menschen wird einen Migrationshintergrund haben. Nach Angaben des Mikrozensus lebten 2013 etwa 15,9 Millionen Personen mit einem Migrationshintergrund in Deutschland, was knapp 20% der Gesamtbevölkerung entsprach.12 Davon hatten 10,5 Millionen eine eigene Migrationserfahrung, und 5,4 Millionen waren in Deutschland geborene Kinder zugewanderter Eltern(teile).

Mit der zu erwartenden Zuwanderung dürfte der Anteil der Personen mit eigenem Migrationshintergrund stark ansteigen. Im Szenario »schwächere Zuwanderung« des Statistischen Bundesamtes (2015) summieren sich die jährlichen Wanderungsüberschüsse auf insgesamt 6,3 Millionen Personen, die bis 2060 netto zuwandern würden. Beim Szenario »stärkere Zuwanderung« wären es sogar zusätzliche 10,75 Millionen Personen. Sie und ihre Kindeskinder werden in jedem Falle das gesellschaftliche, politische und ökonomische Bild Deutschlands ebenfalls prägen und sicher auch verändern.

Selbstredend wird Deutschlands Bevölkerung als Folge einer verstärkten Zuwanderung vielfältiger. Das verursacht mancherorts Sorgen, wie sich das Wesen der deutschen Kultur und Sprache verändern und die Bewahrung gemeinsamer Werte und Umgangsformen erschweren werden. Die Ängste der Mehrheitsgesellschaft, durch zugewanderte Minderheiten mit anderem Rechtsverständnis oder abweichenden Verhaltensregeln zu Außenseitern in der eigenen Heimat zu werden, sind nachvollziehbar. Sie sollten aber nicht Untergangsszenarien beschwören. Deutschland wird überleben, anders, aber nicht schlechter.

Noch stärker als bei der Gesamtbevölkerung wird bis 2060 die Zahl der Menschen im Erwerbsalter von 20 bis einschließlich 64 Jahren zurückgehen. Sie sinkt von rund 50 Millionen in 2015 auf 44 Millionen in 2030 und auf 34 Millionen in 2060. Das sind 30% weniger als heute. Eine Verlängerung des Erwerbsalters auf 67 Jahre ändert etwas, aber nicht alles. Würde der Übertritt vom Berufsleben in die Rente anstatt bei heute 65 auf 67 Jahre festgesetzt, würden 2060 rund 2 Millionen Menschen zusätzlich dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen. Anstatt 15 Millionen verlöre Deutschland bis 2060 dann aber immer noch 13 Millionen Arbeitskräfte.

Verursacher einer schrumpfenden Bevölkerungszahl ist der Rückgang der Geburten. In Deutschland werden lange schon zu wenige Kinder geboren, um den heutigen Bevölkerungsstand von 81 Millionen halten zu können. 2014 kamen hierzulande 715.000 Kinder zur Welt.13 Das waren zwar 33.000 Neugeborene mehr als im Jahr 2013. Aber immer noch einige Hunderttausend weniger als in den 1960er Jahren.

In Deutschland waren zuletzt im Jahr 2004 mehr als 700.000 Kinder zur Welt gekommen.14 1964 während des Baby-Booms waren es doppelt so viele, nämlich 1,36 Millionen Geburten. Gegenüber den 1960er Jahren fehlen heute Jahr für Jahr rund 700.000 Kinder – was in etwa fast der gesamten Bevölkerung der Stadt Frankfurt entspricht.

1964 brachten 100 in Deutschland lebende Frauen im Laufe ihres Lebens durchschnittlich über 250 Kinder zur Welt. Innerhalb einer Dekade sank die Geburtenhäufigkeit auf weniger als 150 Kinder. Seither ging diese Zahl weiter zurück – besonders dramatisch nach der deutschen Wiedervereinigung, weil in den neuen Bundesländern der Kinderwunsch deutlich schwächer wurde.

Heute bringen 100 Frauen in Deutschland durchschnittlich 140 Kinder zur Welt – und damit etwa 100 weniger als ihre eigene Elterngeneration.15 Das ist ungefähr ein Drittel zu wenig, um die Bevölkerungszahl stabil zu halten (dazu müssten 100 Frauen im Laufe ihres Lebens etwas mehr als 200 Kinder zur Welt bringen). Oder anders formuliert sinkt pro Generation die Bevölkerungszahl um ein Drittel – was eben in Deutschland nur teilweise durch weitere Zuwanderung kompensiert werden kann.

Über die Ursachen des Geburtenrückgangs ist viel geschrieben worden.16 Bei allen – oft auch ideologisch bedingten – Differenzen, was entscheidend sei, besteht in einem Punkt Konsens: Singuläre Erklärungen werden der Komplexität der Frage »Kinder, ja oder nein?« nicht gerecht. Die Gründe für den Geburtenrückgang liegen nicht allein in einem einzigen Schlüsselereignis. Sie sind Folge eines vielfältigen Zusammenspiels ökonomischer, gesellschaftlicher und soziodemografischer Rahmenbedingungen, die das individuelle Verhalten, Kinderwünsche und ihre Erfüllung bestimmen.

»Die quantitative Forschung hat in diesem Zusammenhang bisher vor allem die Infrastruktur und die sozioökonomischen Rahmenbedingungen untersucht, während die kulturelle Dimension erst in der letzten Zeit stärker in den Fokus gerückt ist. Um zu verstehen, warum die Menschen in Deutschland die Option Elternschaft bislang zurückhaltend wählen, bedarf es vielmehr eines besseren Verständnisses des Zusammenspiels von Kultur, Infrastruktur und Ökonomie.«17

Der Wunsch nach Kindern wird heute verstärkt von den individuellen Interessen beider Lebenspartner geleitet. Dass Kinder »Kosten« verursachen, fördert die Tendenz zur Klein- und Kleinstfamilie. Dabei geht es nicht nur um direkte Kosten, beispielsweise für Essen, Kleider, Mobilität und Kommunikation. Ebenso wichtig sind indirekte Kosten, insbesondere der Zeitaufwand der Kinderbetreuung. Sie entstehen dadurch, dass wegen der Kinder berufliche Karrierechancen nicht oder nur eingeschränkt wahrgenommen werden können.

Noch tragen vor allem Mütter die Kosten des Verzichts auf eigene Berufserfolge und die damit verbundenen Gehälter. Und dabei geht es nicht um kleine Beträge. Für eine Frau mittleren Bildungsgrades im Alter von 45 Jahren mit einer Erstgeburt im Alter von 30 Jahren entstehen bei einer sechsjährigen Unterbrechung der Vollzeittätigkeit Bruttolohnverluste in Höhe von annähernd 194.000 Euro.18

Auch wenn sich die »neuen Männer« zunehmend stärker in der Pflicht fühlen, an der Kindererziehung gleichermaßen teilzuhaben: Trotz guter Absicht und wachsendem gesellschaftlichen Druck ist es bis zur paritätischen Gleichstellung von Mutter und Vater noch ein sehr weiter Weg.

Wirtschaftliche Kosten-Nutzen-Überlegungen erklären bei der Erfüllung des Kinderwunsches einiges, aber längst nicht alles. Vielmehr spielen auch sozioökonomische Umstände und soziodemografische Merkmale wie Sozialisation und Herkunft möglicher Eltern wichtige Rollen. Kinder...

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