Einleitung: Warum Resilienz so wichtig ist
Am frühen Morgen des 31. Januar 2007 herrschte in den langen, engen Gassen und auf den breiten Boulevards von Mexiko-Stadt das übliche rege Treiben: Kinder rannten ins Freie, Väter und Mütter machten sich fertig für den Tag, und die Straßenverkäufer bereiteten die ersten Tortillas zu, ein Grundnahrungsmittel in Mexiko.
Aber dieser 31. Januar sollte kein Tag wie jeder andere werden. Denn an diesem Tag stieg der Preis für Mais – der wichtigsten Zutat von Tortillas – auf 27 Cent pro Pfund, eine Rekordmarke, die ein Jahr vorher noch völlig unvorstellbar gewesen wäre.1 Mais war plötzlich fünfmal so teuer wie noch drei Monate zuvor.2 Da jeder zweite Mexikaner unter der Armutsgrenze lebt, war ein unvermittelter Anstieg in dieser Größenordnung mehr als ein Ärgernis. Er ließ eine humanitäre und politische Krise befürchten.
Als die Sonne höher in den Himmel stieg, machten Zehntausende Bauern und Gewerkschafter ihrem Unmut auf einem zentralen Platz der Stadt lautstark Luft. In den hoch erhobenen Händen hielten sie keine Waffen, sondern Maiskolben. Die sogenannten »Tortilla-Unruhen«, die den ganzen Tag andauerten und mit der Besetzung einer Hauptstraße in der Innenstadt einhergingen, waren für die neu gewählte Regierung unter Präsident Felipe Calderón eine große Herausforderung. Zu vorgerückter Stunde skandierten die Demonstranten »Tortillas si, Pan no!« – eine Anspielung auf Calderóns Partei, die »Partido Acciòn Nacional«, kurz PAN, was auf Spanisch auch Brot heißt – und hielten mit ihrem Verdacht, wer für den Preisanstieg verantwortlich war, nicht hinter dem Berg: die Regierung, die großen Konzerne und die reiche Elite in Mexiko.3 Gewerkschafter ebenso wie Fernsehstars wetterten gegen Preisabsprachen der Konzerne und warfen den Schweine- und Rinderzüchtern vor, Futter zu horten.
Es ist nachvollziehbar, dass sich der Volkszorn reflexartig gegen Großgrundbesitzer und Politiker richtete, doch in diesem Fall waren sie ausnahmsweise nicht die Hauptschuldigen. Die Wahrheit konnten die Demonstranten nicht ahnen. Die Zündschnur, die schließlich die Explosion des Maispreises auslöste, war anderthalbtausend Kilometer entfernt und bereits mehrere Jahre zuvor entfacht worden – von einem Ereignis, das auf den ersten Blick überhaupt nichts mit Mexiko zu tun hatte: Hurrikan Katrina.
Im August 2005 waren angesichts des herannahenden Wirbelsturms die 2900 Ölbohrinseln, die von Texas bis Louisiana die amerikanische Golfküste säumen, evakuiert und vorübergehend stillgelegt worden.4 Dadurch fielen mehrere Monate lang 95 Prozent der Ölproduktion im Golf aus.5 Als der Sturm sich gelegt hatte, schoss der Benzinpreis in den USA in die Höhe, mancherorts an einem einzigen Tag um 10 Prozent.6 Der hohe Ölpreis ließ Mais – den wichtigsten Rohstoff für die Herstellung des alternativen Kraftstoffs Ethanol – vergleichsweise billig erscheinen, was verstärkte Investitionen in die amerikanische Ethanolproduktion zur Folge hatte. Die Farmer in den USA – mit die effizientesten und am kräftigsten subventionierten der Welt – hatten starke Anreize, anstelle von essbarem Mais Sorten anzubauen, die sich gut für die Ethanolproduktion eignen. Im Jahr 2007 wurde sogar der US-Kongress in dieser Sache aktiv und verabschiedete ein Gesetz, das eine Verfünffachung der Produktion von Biokraftstoffen vorsieht – mehr als 40 Prozent davon sollen aus Mais gewonnen werden.
Inmitten der von dieser Investitionsblase ausgelösten Euphorie dachte kaum jemand an die Auswirkungen auf mexikanische Kleinbauern, die nach der Einrichtung der nordamerikanischen Freihandelszone NAFTA 1994 plötzlich mit internationaler Konkurrenz in Form von gigantischen US-Agrarkonzernen zu kämpfen hatten. Maisproduzenten aus den USA verkauften ihre Ernte auf dem mexikanischen Markt nicht selten zu einem Preis (viele würden eher von einem Dumpingpreis sprechen), der fast 20 Prozent unter den Produktionskosten lag.7 Da sie damit selbst mithilfe der Subventionen ihrer eigenen Regierung nicht konkurrieren konnten, wechselten viele mexikanische Bauern die Maissorte, bauten etwas anderes an oder gaben ihre Farm ganz auf. Die Unterschicht in Mexiko-Stadt wuchs dadurch weiter an, und Mexiko wurde als Absatzmarkt für Billigprodukte aus den USA noch attraktiver.
Dieser wachsende Markt für Maisimporte wurde seit der Gründung der NAFTA zunehmend von einer kleinen Riege mächtiger multinationaler Konzerne dominiert, die ihren Sitz meist in den USA hatten, wie Cargill, Archer Daniels Midland (ADM) und deren mexikanische Tochtergesellschaften.8 Der bereits in Gang befindliche Wandel wurde durch diese Konzerne noch beschleunigt, indem sie das taten, was jedes marktbeherrschende Unternehmen instinktiv tut: die eigene Marktmacht stärken und kleinere Firmen aus dem Markt drängen.9 Mit der Folge, dass Mexiko – das Land, in dem die Maispflanze vor fast 10 000 Jahren domestiziert wurde – alsbald zum Nettoimporteur von Nahrungsmitteln10 und zum drittgrößten Importeur von landwirtschaftlichen Produkten aus den Vereinigten Staaten wurde.11
Vor diesem Hintergrund leuchtet ein, dass es im Jahr nach Katrina, als ein immer größerer Anteil der Ernte in den USA in die Ethanolproduktion floss, nicht lange dauerte, bis der Maispreis auf Gedeih und Verderb an den Ölpreis gekoppelt war – nicht nur, weil Ethanol und Öl vergleichbare Brennstoffe sind, sondern weil die Maisproduktion eine Menge Düngemittel verschlingt, die aus Öl gewonnen werden. Wenn der Preis für ein Barrel Rohöl stieg, folgte ihm der Preis für einen Scheffel Mais auf dem Fuße. Als Spekulanten den Preis für das Barrel Öl in die Höhe trieben, bis dieser bei fast 140 Dollar lag, explodierte der Maispreis ebenfalls. Und löste etwas aus, was für das 21. Jahrhundert prägend werden könnte: eine Hungerrevolte.
An derartige Geschichten haben wir uns längst gewöhnt. Jede Woche scheint aus dem Dickicht der gesellschaftlichen, politischen, wirtschaftlichen, technologischen und ökologischen Systeme, die unser Leben bestimmen, irgendein unerwartetes Desaster hervorzusprießen. Diese Desaster brechen in unregelmäßigen, aber immer kürzer werdenden Abständen über uns herein, meist aus einer völlig unerwarteten Richtung, und sind notorisch unvorhersehbar. Auf die heftigsten von ihnen verweisen wir mit Schlagwörtern, bei denen jeder sofort weiß, was gemeint ist: Katrina. Haiti. BP. Fukushima. Finanzkrise. Unruhen in London. Schuldenkrise. Hinzu kommen andere, namenlose Desaster, deren negative Auswirkungen durch schleichend zunehmende Anfälligkeiten verstärkt werden: Der wirtschaftliche Wandel zwingt eine Kleinstadt im Mittleren Westen der USA in die Knie, eine Firma wird von der Globalisierung hinweggefegt, eine ökologische Nische wird durch veränderte Umweltbedingungen unbewohnbar, die Sturköpfigkeit von Politikern führt zu einer Schuldenkrise. Wenn Sie das Gefühl haben, dass die Abstände zwischen solchen Desastern immer kürzer werden, dann stehen Sie damit nicht allein: Im Jahr 2011 hatten Naturkatastrophen schon nach sechs Monaten mehr Schaden angerichtet als in jedem anderen Jahr seit Beginn der Aufzeichnungen, und Versicherungsgesellschaften führen das eindeutig auf den Klimawandel zurück.12 Unbeständigkeit in all ihren Schattierungen ist zur Normalität geworden.
Ob wir von der weltweiten Finanzkrise, den geopolitischen Folgen des Irakkrieges oder den überraschenden Auswirkungen einer Naturkatastrophe sprechen: Im Detail sind alle diese Fälle sehr unterschiedlich, aber bestimmte Merkmale sind erstaunlich durchgängig. Kennzeichnend für solche Ereignisse ist, dass sie Abhängigkeiten zwischen Bereichen ans Licht bringen, die meist unabhängig voneinander erforscht und diskutiert werden. Die Tortilla-Krise zum Beispiel hat den Zusammenhang zwischen dem Energiesystem (den Ölplattformen), dem Ökosystem (Hurrikan Katrina), der Landwirtschaft (der Maisernte), dem weltweiten Handel (NAFTA), sozialen Faktoren (Urbanisierung und Armut) und den politischen Systemen von Mexiko und den Vereinigten Staaten aufgezeigt.
Wenn wir solche Geschichten erzählen, wollen wir damit zur Demut gegenüber der unfassbaren Komplexität, Verwobenheit und Unbeständigkeit der modernen Welt aufrufen – einer Welt, in der scheinbar harmlose Ereignisse zu Umbrüchen führen, die sich ohne Vorwarnung ereignen und nahezu absurde, versteckte Zusammenhänge sichtbar werden lassen. Uns erschließen sich diese Zusammenhänge immer erst in der Rückschau, so als würden wir bei einem Kleidungsstück an einem losen Faden ziehen, um es in seine Einzelteile aufzulösen, und erst dadurch erkennen, wie es zusammengefügt war. Selbst wenn wir über die einzelnen Systeme, die von einem solchen Umbruch betroffen sind, sehr genau Bescheid wissen, fällt es uns in der Regel schwer, die Kausalzusammenhänge zu entwirren. Und bei allen Segnungen des so überschwänglich gepriesenen Informationszeitalters: Einfach nur mehr Daten zur Verfügung zu haben bringt uns nicht unbedingt weiter. Denn selbst wenn wir jedes einzelne Datenpaket kennen würden, das durch das Internet gejagt wird, und all die komplexen chemischen Interaktionen, die unser Klima bestimmen – würden wir...