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Die Droge Verwöhnung

Beispiele, Folgen, Alternativen

AutorJürg Frick
VerlagHogrefe AG
Erscheinungsjahr2018
Seitenanzahl256 Seiten
ISBN9783456757469
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis16,99 EUR
Warum werden Kinder zu sehr verwöhnt? Weshalb ist dies den Eltern oft gar nicht bewusst? Ein Blick in die Bereiche Kindergarten, Schule und Elternhaus zeigt die Aktualität des Themas - nicht nur vor dem Hintergrund neuerer technischer Geräte wie Tablets und Handys, die zusätzliche Verwöhnungsfelder bieten. Es geht oft um weit mehr als nur um materielle Überversorgung, auch emotional kann man Kinder zu sehr verwöhnen. Und nicht nur Eltern verwöhnen: Es geschieht auf «breiter Front», durch die Schule genauso wie im Rahmen von Freizeitangeboten. Die Folgen können schwerwiegend sein: Überängstlichkeit im Leben, mangelndes Selbstvertrauen bis hin zur Beeinträchtigung der psychischen Gesundheit und der emotionalen Intelligenz. Im Schlusskapitel bietet der Autor Denkanstöße für Einstellungs- und Verhaltensänderungen. Er entwickelt Alternativen für einen liebevollen, aber dennoch nicht verwöhnenden Umgang mit Kindern. Drei Fragebogen erlauben es den Erziehenden, ihren Erziehungsstil auf Verwöhnungsanteile hin zu überprüfen. Die vorliegende fünfte Auflage wurde vom Autor überarbeitet und erheblich erweitert; so sind etwa wichtige Aspekte zu Selbststeuerung/Selbstkontrolle neu berücksichtigt worden.

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Leseprobe

2 Was heißt Verwöhnung? Die begrifflich-phänomenologische Ebene


In der akademischen Psychologie sowie in der Pädagogik als Erziehungswissenschaft findet sich der Begriff „Verwöhnung“ kaum. Und der englische Begriff overprotection deckt auch nur – und ungenau – einen Teil des Verwöhnungsproblems ab.

Die Erziehungsstil-Forschung der vergangenen Jahrzehnte (z. B. Lewin, Tausch und Tausch, Anderson, Schmidtchen u. a.) beschreibt Erziehungsstile, ohne die Verwöhnung explizit zu erwähnen. Manchmal werden noch der „permissive Erziehungsstil“ (Maccoby & Martin, 1983 in Perlet & Ziegler, 1999) oder der „überbehütende Erziehungsstil“ (Kruse, 2001 in Walper & Pekrun, 2001) erwähnt und beschrieben – meistens allerdings nur kurz. Auch im Überblicksband von Weber (1986) findet sich kein Wort dazu. In keinem dieser Erziehungsstil-Modelle erkennt man Praktiken, die verwöhnende Aspekte ausführlicher enthalten. Das ist doch eher erstaunlich, da das Phänomen Verwöhnung schon seit langem in der Theorie (vgl. z. B. bei Adler), in der Alltagssprache wie auch in der pädagogischen Praxis (Erziehung, Schule) bekannt ist. Vielleicht hängt diese Amnesie mit den zum Teil eher theoretisch entwickelten Konzepten der Erziehungsstil-ForscherInnen zusammen.

Nach Hobmair bezeichnet ein „Erziehungsstil die Art und Weise, wie ein Erzieher dem zu Erziehenden gegenübertritt. Dabei handelt es sich um relativ konstante Verhaltensweisen des Erziehers gegenüber dem zu Erziehenden […] Erziehungsstil kennzeichnet also eine durchgängige Grundhaltung des Erziehers.“ (Hobmair et al., 1996, S. 212) Diese Definition lässt sich sehr genau auf die Verwöhnung übertragen: Verwöhnung ist ebenfalls – wie ich gleich zeigen werde – eine Grundhaltung der betreffenden Eltern oder Lehrperson, die mehr oder weniger konstant und anhand bestimmter Kriterien identifizierbar ist. Verwöhnung ist eine eigene Variante eines Erziehungsstils, so wie in der Literatur etwa ein kooperativer, ein autoritärer, ein Laisser-faire-Stil (Lewin) oder eine Dimensionenkombination (Tausch und Tausch) beschrieben worden sind.

Hobmair spricht in seinem Lehrbuch der Pädagogik nur einmal von einem überbehütenden Stil (Hobmair et al, 1996, S. 222), der nach Tausch und Tausch eine sehr hohe Lenkung sowie eine maximale Wertschätzung beinhalten soll. Leider geht er darauf nicht näher ein. Ich möchte das in diesem Kapitel nachholen. Verwöhnung beinhaltet mehr und zum Teil anderes als nur sehr hohe Lenkung und maximale Wertschätzung, und Verwöhnung lässt sich auch nicht auf diese zwei Dimensionen reduzieren. Der verwöhnende Erziehungsstil hat auch wenig mit Laisser-faire oder Permissivität (Gewährenlassen) zu tun.

In Heilbruns Kontrollmuster-Modell werden zwei Hauptdimensionen (niedrige vs. hohe Unterstützung, niedrige vs. hohe Kontrolle) unterschieden. Die Kombination von hoher Kontrolle mit hoher Unterstützung wird dort mit überbehütend (engl. overprotective) bezeichnet. Ich halte dieses Konzept bezüglich der Verwöhnung für ungenau, da beim verwöhnenden Erziehungsstil die Unterstützung aus der psychologisch-pädagogischen Perspektive eben gerade nicht hoch ist: Eine echte hohe Unterstützung würde vielmehr bedeuten, dem einzelnen Kind die persönlichkeits-, situations- und altersspezifisch optimale, nicht einfach „hohe“, Unterstützung zukommen zu lassen. Hohe, also optimale, Unterstützung würde dann sehr spezifisch – sich an den Bedürfnissen und Möglichkeiten des einzelnen Kindes und Jugendlichen orientierend – manchmal hoch, dann tief, später vielleicht mittel ausfallen, je nach Situation und Person (vgl. Krohne & Hock, 1994).

Von Cubes verhaltensbiologische Definition – „Unter Verwöhnung verstehe ich eine rasche und leichte Triebbefriedigung – mit dem damit verbundenen Lusterlebnis – ohne Anstrengung.“ (Cube, 1999, S. 15) – lenkt das Augenmerk stark auf triebgeleitete Aspekte. Wunschs Beschreibung von Verwöhnung berücksichtigt dagegen stärker eine psychologisch orientierte Sichtweise: „Verwöhnung ist das Resultat unangemessenen Agierens oder Reagierens auf Wünsche oder Verhalten.“ (Wunsch, 2000, S. 83) Und etwas später schreibt er treffend: „Verwöhnung vollzieht sich durch die Erfüllung bzw. Weckung lebensbehindernder Bedürfnisse, konkret durch zuviel oder zu wenig Gewährenlassen oder durch unangemessenes Agieren und Reagieren.“ (S. 87) Schließlich gibt Wunsch noch eine direktere Beschreibung von Verwöhnung: „Wer einem Menschen Lob, Geld, soziale Anerkennung oder andere Zuwendungen ohne eigenen Beitrag – und sei er noch so klein – auf Dauer zukommen lässt, der verwöhnt.“(S. 154)

In diesen drei Zitaten Wunschs sehen wir deutlich zwei Aspekte: Verwöhnung ist eine Handlung sowie eine Haltung von Erwachsenen. Auf beides möchte ich näher eingehen.

Was heißt Verwöhnung?


Verwöhnung hat viele Erscheinungsformen und tritt in verschiedenen Varianten und unterschiedlichen Ausprägungsgraden auf.

Dreikurs und Kollegen (2003, S. 50–52) führen in ihrem Klassiker über Disziplinprobleme vier verschiedene Tendenzen der Verwöhnung durch Eltern auf:

  1. den Kindern alles geben, was sie haben wollen, ihnen jeden Wunsch erfüllen

  2. den Kindern alles erlauben, was sie tun wollen; ihnen jede Frustration ersparen

  3. den Kindern jede Entscheidung abnehmen; ihnen jeden Schritt des Lebens vormachen

  4. die Kinder vor jedem Unglück bewahren; ihnen das Ertragen der Folgen ihres Handelns abnehmen.

Diese Aufzählung scheint mir zwar interessant, aber sie überzeugt nicht zuletzt auch deshalb nicht, weil erzieherisches Handeln in dieser Absolutheit und Ausschließlichkeit schlichtweg unmöglich ist. In der Realität sind es wohl eher Haupttendenzen im erzieherischen Verhalten, die zu beobachten sind.

Die nachfolgend aufgeführten Merkmale der Verwöhnung können einzeln oder kombiniert auftreten; meistens ist zu beobachten, dass bei Verwöhnung mehrere der nachfolgend beschriebenen Aspekte vorkommen. Zudem spielen Umstände der Verwöhnenden (z. B. knappe Zeit, Trennung) und die Zeitdauer der Verwöhnung (vorübergehend oder lang anhaltend) eine wichtige Rolle. Da Verwöhnung von so vielen verschiedenen Faktoren beeinflusst wird, gibt es auch nicht die Verwöhnung, sondern vielmehr individuelle, für die betreffenden Personen und Situationen persönlich charakteristische Formen der Verwöhnung. Das macht die Sache einerseits kompliziert, aber gleichzeitig auch äußerst spannend.

Verwöhnung beinhaltet:

1. dem Kind und Jugendlichen (zu) wenig zutrauen, Überbesorgnis und Zweifel (z. B. schulisch, im Bewältigen von Aufgaben und im Erlernen von Fertigkeiten). Verwöhnung kleidet sich hier in einer Form der Überbehütung.

Die Haltung, die bei diesen Eltern – ähnlich wie bei Punkt 2 – zum Ausdruck kommt, hat dazu geführt, dass sie in Skandinavien als Curling-Eltern (die jedes Hindernis aus dem Weg räumen) bezeichnet werden, andere nennen sie Helikopter-Eltern (Kraus, 2015), weil sie in ihrer Ängstlichkeit wie im Helikopter über den gefährdeten Schützlingen wachen. Es sind gut meinende, hypersensibilisierte Eltern, die viel zu rasch eine Gefahr sehen. Das wird letztlich auch im bekannt gewordenen deutschen Film „Frau Müller muss weg“ (2015) deutlich: Damit ihre Kinder die von ihnen erwarteten guten Noten bekommen, gruppieren sich Eltern gemeinsam gegen eine Lehrerin und setzen sie massiv unter Druck. Damit kein Missverständnis entsteht: Es ist aus meiner Sicht ein großer Fortschritt, wenn Eltern und Lehrpersonen sich um die Entwicklung ihres Nachwuchses kümmern und sich für sie einsetzen, wenn sie für bestimmte Gefahren sensibilisiert sind oder wenn sie sich dafür engagieren, dass Klettertürme nicht mehr auf dem nackten Asphalt, sondern auf einem Gummibelag montiert werden. Ebenso sinnvoll ist es, wenn Kinder beim Velo- und Skifahren einen Helm tragen.

Aber: zu viele Väter und Mütter stecken in einem Dauer-Angst-Modus, überwachen ihre Nachkommen mit Babyphone und Handy-GPS und wittern im Sportverein ihres Kindes viel zu rasch einen pädagogischen Unhold. Allerdings scheint es mir da wenig hilfreich, wenn beispielsweise Frank Furedi solche Erscheinungen in seinem Buch unter dem reißerischen Titel Die Elternparanoia (Furedi, 2002) platziert.

Dreikurs gibt uns...

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