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E-Book

Die taumelnde Welt

Wofür wir im 21. Jahrhundert kämpfen müssen

AutorBill McKibben
VerlagBlessing
Erscheinungsjahr2019
Seitenanzahl400 Seiten
ISBN9783641254278
FormatePUB
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis21,99 EUR
Im Jahr 1989 warnte Bill McKibben mit seinem Buch »Das Ende der Natur« als einer der ersten vor dem Klimawandel. Sein neuer Aufruf ist umso dringender und weitreichender - die Menschheit ist dabei, nicht weniger als ihr Fortbestehen aufs Spiel zu setzen. Der Klimawandel ist heute, so McKibben, ein Hebel, der unsere Welt von Grund auf verändert. Die konzentrierte wirtschaftliche Macht in den Händen einiger weniger Spieler ist ein weiterer. Genauso die radikalen Konsequenzen der modernen Genetik sowie das Streben der Tech-Mogule nach künstlicher Intelligenz, das nach dem Sinn menschlichen Daseins gar nicht mehr fragt.

In »Die taumelnde Welt« tritt Bill McKibben einen großen Schritt zurück, um dieses gesamte »Spiel der Menschheit« zu betrachten: Welchen Lauf nimmt es, wer macht die Regeln, und wie wollen wir es in Zukunft spielen?

Bill McKibben, geboren 1960 in Palo Alto, Kalifornien, ist einer der profiliertesten Umweltaktivisten der Vereinigten Staaten und Autor zahlreicher Bücher, einige davon Bestseller. Er ist Gründer der Initiative 350.org, die für die Reduktion von CO2-Emmissionen kämpft, im Sommer 2006 führte er die größte Demonstration in der US-amerikanischen Geschichte gegen die globale Erwärmung an. 2014 wurde er mit dem Alternativen Nobelpreis geehrt. Zurzeit lebt er mit seiner Familie in Vermont.

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Leseprobe

1

Wenn Sie sich die Erde von ganz weit oben betrachten würden (und in diesem Buch soll, so gut es geht, ein distanzierter Blick herrschen), wären Dächer wohl der augenfälligste Hinweis auf eine menschliche Zivilisation. Es gibt sie in vielen verschiedenen Formen, die oft vom Klima vor Ort abhängen. Von A-förmigen Dächern rutscht der Schnee gut ab. Da gibt es Mansarddächer, Walmdächer und Satteldächer. Pagoden und andere asiatische Tempel haben oft ein konisches Dach. Russische Kirchen sind von zwiebelförmigen Kuppeln gekrönt; westliche Kirchen kauern sich unter Türme.

Die ersten menschlichen Behausungen waren wahrscheinlich mit Palmwedeln bedeckt, doch mit dem Aufkommen des Getreideanbaus im Neolithikum wurde das Abfallprodukt Stroh zur verlässlichen Dachdeckung. Manche Strohdächer in Südengland sind 500 Jahre alt. Im Lauf der Jahrhunderte wurden immer weitere Schichten hinzugefügt, und einzelne Strohdächer sind inzwischen mehr als zwei Meter dick. Heute erfreuen sich Strohdächer vor 1allem bei reichen Europäern, die eine ökologische Dachdeckung wollen, zunehmender Beliebtheit, obwohl es immer schwieriger wird, gutes Material zu finden – die kurzhalmigen Weizensorten eignen sich nicht so gut, und Stickstoffdünger schwächen die Strohhalme. In Deutschland können Dachdecker die Spezialausbildung zum Strohdachdecker machen. Doch mindestens seit dem dritten Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung bevorzugen die meisten Menschen harte Dächer. (Vielleicht waren die altgriechischen Tempel die ersten Gebäude, die man für wertvoll genug hielt, um sie so vor Feuer zu schützen.) Im Mittelmeerraum und in Kleinasien fanden Terrakottaziegel schnell Verbreitung. Schieferdächer werden ihrer einfachen Wartung wegen geschätzt, in waldreichen Regionen bieten sich Holzschindeln und Rindenstücke an. Bedenkt man, dass heutzutage über eine Milliarde Menschen in städtischen Slums schlafen, ist es vorstellbar, dass Wellblech das verbreitetste Dach über unseren Köpfen darstellt.

Sie finden das etwas langweilig? Gut. Ich möchte mit Ihnen über das »Spiel der Menschheit« sprechen, und dazu gehören Kultur und Wirtschaft und Politik; Religion, Sport und gesellschaftliches Leben; Tanz und Musik; Essen, Kunst, Krebs, Sex und Instagram; Liebe und Verlust; alles, was die Lebenserfahrung unserer Spezies ausmacht. Leider liegt es außerhalb meiner Möglichkeiten, mich mit allem zu befassen. Daher habe ich nach dem denkbar alltäglichsten Aspekt unserer Zivilisation gesucht. Kaum jemand verschwendet einen Gedanken an das Dach über dem Kopf, solange es dichthält. Aber selbst am Beispiel des gewöhnlichen und glanzlosen Dachs lässt sich zeigen, wie komplex, stabil und weitreichend das Spiel der Menschheit ist.

Man nehme nur die Bitumenschindel, die die allermeisten Häuser im Westen bedeckt und zweifellos als ödeste Art der Bedachung gelten darf. Erstmals hergestellt wurden sie im Jahr 1901 von der H. M. Reynolds Company in Grand Rapids im US-Bundesstaat Michigan. Beworben wurde das Produkt damals mit dem Slogan »The Roof That Stays Is the Roof That Pays« (»Ein Dach, das lange hält, macht sich bezahlt«). Natürliche Vorkommen von Bitumen gibt es nur wenige auf der Erde – der Ölsand im kanadischen Alberta zum Beispiel besteht vor allem aus Bitumen. Aber das Bitumen, aus dem Schindeln gemacht werden, entsteht bei der Raffination von Erdöl. Es ist der Teil des Öls, der bei 370 Grad Celsius noch nicht verdampft ist. Durch Destillation wird Bitumen von anderen wertvollen Produkten wie Benzin, Diesel und Naphtha getrennt und dann unter hohen Temperaturen gelagert und transportiert, bis es weiterverwendet wird, vor allem im Straßenbau. Ein Teil des Bitumens landet allerdings in Schindelfabriken, in denen Mineralstoffe (Schiefer, Flugasche, Glimmer) zugeschlagen werden, um die Haltbarkeit zu erhöhen. Die CertainTeed Corporation ist der größte Schindelhersteller der Welt und betreibt 61 Fabriken überall in den USA. In der Produktionsstätte in Oxford, North Carolina, drehte das Unternehmen einmal ein Video über diesen »unterschätzten Prozess«: ein Maschinenballett, in dem eingegossen, ausgekippt und auf Förderbändern transportiert wird. Güterzüge liefern Kalk an, der zermahlen und mit heißem Bitumen vermengt wird. Die Mischung wird dann auf endlose Matten aus Glasfasern aufgetragen und mit Wasser besprüht, um sie abzukühlen. Danach werden die Bahnen zu Schindeln geschnitten und auf Paletten in riesigen Lagerhallen zur Auslieferung bereitgestellt.2

Tausende von Einzelschritten müssen aufeinander abgestimmt werden, damit das alles funktioniert: Das Öl muss gefördert werden (womöglich aus der Tiefsee oder in der Wüste); Pipelines und Bahnstrecken müssen verlegt, Ölraffinerien gebaut werden. Und für all das muss ausreichend Geld zur Verfügung stehen. Auch Kalk und Sand müssen abgebaut, die endlosen Glasfaserbahnen hergestellt werden. All diese Rohstoffe werden von der Fabrik in North Carolina eingesaugt und als fertige Schindeln über Bahnlinien und Lkws in ein Netz aus Baumärkten wieder ausgespuckt. Von dort transportieren Baufirmen sie zu Baustellen im Vertrauen darauf, dass die Schindeln auf ihre Widerstandsfähigkeit gegen Wind, Feuer und Verfärbung getestet wurden. Man bedenke weiterhin, welch enormen Organisationsaufwand die Standardisierungsorganisation American Society for Testing and Materials betreiben musste, um den Standard D3462-87 (»Bitumenschindeln aus Glasfasern mit einer Mineralschicht«) zu erstellen und durchzusetzen.

Solche Überlegungen könnte man natürlich für alles und jedes anstellen, das wir um uns herum sehen, hören und riechen – auch für die tausendmal interessanteren Aktivitäten, die unter all diesen Dächern ablaufen. Im Moment höre ich zum Beispiel auf Spotify die Band Orchestra Baobab, in den 1970er-Jahren Hausband eines Nachtclubs in Dakar und von den kubanischen Rhythmen beeinflusst, die Seeleute in den 1940er-Jahren aus Westafrika mitbrachten. Ihr bestes Album nahm die Band in einem Pariser Studio auf, bevor es irgendwie auf einem Computerserver landete, sodass es heute von 196 847 Menschen rund um den Erdball Monat für Monat abgerufen werden kann. Man stelle sich das Zusammenspiel von Geschichte, Technologie, Handel, Spiritualität und Swing vor, das genau jenen Sound ausmacht, der gerade aus meinen Kopfhörern strömt – die diversen Schichten von Kolonialismus und die Fragen nach Hautfarbe, Identität, Pop und der reinen Lehre. Oder auch nur, was ich heute zu Abend esse, oder was Sie gerade anhaben – wirklich alles ist an Bedingungen geknüpft, und diese Verknüpfungen lassen sich in jeden Winkel unserer Vergangenheit und Gegenwart zurückverfolgen.

Was ich als Spiel der Menschheit bezeichne, ist unvorstellbar tiefgreifend, komplex und wunderschön. Aber es ist auch in Gefahr. Und es gerät derzeit ernsthaft aus der Balance.

In diesem Buch werde ich erklären, worin diese Gefahr besteht, und einige Möglichkeiten aufzeigen, wie sie sich vielleicht noch abwenden lässt. Aber erst möchte ich darauf hinweisen, wie stabil das Spiel der Menschheit ist, bevor ich zu seiner Zerbrechlichkeit komme. Wir Menschen haben gemeinsam etwas Bemerkenswertes aufgebaut, dessen wir uns nur selten wirklich bewusst sind. Die Gesamtsumme all unserer Projekte, aller Institutionen und Unternehmen, unserer Wünsche und Träume und Mühen, die Gesamtheit unserer rastlosen Aktivitäten … ist ein Wunder. Ich nenne es ein Spiel, weil es kein offensichtliches Ende gibt. Wie bei jedem Spiel zählt nicht wirklich, wie es ausgeht, zumindest nicht aus Sicht des Universums, aber wie jedes Spiel beansprucht es die volle Aufmerksamkeit der Mitspieler. Es gibt zwar kein Endziel, aber es gibt Regeln oder zumindest eine Ästhetik: Nach meiner Definition läuft das Spiel gut, wenn es die Würde der Mitspieler erhöht, und schlecht, wenn es diese Würde mindert.

Indikatoren für Würde gibt es im Zusammenhang mit dem Spiel der Menschheit zahlreiche: Gibt es genug zu essen (in Kalorien gemessen)? Muss ein Mensch Angst leiden? Hat er/sie etwas anzuziehen und kann einer nützlichen Arbeit nachgehen? Bei einigen dieser Punkte haben wir große Fortschritte gemacht. Extreme Armut (also wenn man von zwei US-Dollar oder weniger am Tag leben muss) ist heute weitaus seltener als früher. Auch viele Krankheiten, deren Verbreitung durch Armut gefördert wurde, sind zurückgegangen, wie etwa Wurmbefall. Im Vergleich zum 20. Jahrhundert ist die Wahrscheinlichkeit, dass man durch eine Gewalttat ums Leben kommt, heute deutlich geringer – von den 56 Millionen Menschen, die im Jahr 2012 starben, wurden nur 120 000 gewaltsam umgebracht.3 Der Anteil der Menschen, die lesen können, hat sich in den letzten zwei Generationen signifikant gesteigert und liegt jetzt bei 85 Prozent.4 Frauen haben heute besseren Zugang zu Bildung und sind zumindest minimal...

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