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Die Zähmung des Menschen

Warum Gewalt uns friedlicher gemacht hat - Eine neue Geschichte der Menschwerdung

AutorRichard Wrangham
VerlagDeutsche Verlags-Anstalt
Erscheinungsjahr2019
Seitenanzahl496 Seiten
ISBN9783641201555
FormatePUB
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis7,99 EUR
»Eine neue, bestechende Analyse menschlicher Gewalt, voller neuer Ideen und packender Zeugnisse von unseren Vettern, den Primaten, unseren historischen Vorfahren und unseren gegenwärtigen Nachbarn.« Steven Pinker
Die Erfindung der Todesstrafe hat uns zum Menschen gemacht - das ist die aufsehenerregende Theorie des Harvard-Anthropologen und Schimpansenforschers Richard Wrangham. Demnach zähmten sich unsere Vorfahren selbst, indem sie dafür sorgten, dass nur noch diejenigen Gruppenmitglieder sich fortpflanzen konnten, die sozial eingestellt waren. Aggressives Verhalten wurde mit dem Tod bestraft und dadurch aus dem Genpool entfernt.

Anhand zahlreicher anthropologischer Studien und seinen eigenen Beobachtungen an Menschenaffen und indigenen Völkern zeigt Wrangham, wie wir im Laufe der Evolution durch die Anwendung tödlicher Gewalt zu den zivilisierten Wesen wurden, die wir heute sind. Er führt uns auch vor Augen, dass diese Entwicklung zugleich den Grundstein für unsere schlimmsten Gräueltaten gelegt hat.

Richard Wrangham, geboren 1948, ist Professor für biologische Anthropologie an der Harvard University. Er wurde bekannt durch seine langjährigen Studien an wild lebenden Schimpansen in Afrika, wo er unter anderem mit Jane Goodall zusammenarbeitete.

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EINLEITUNG


Tugend und Gewalt in der menschlichen Evolution


Adolf Hitler, der die Ermordung von rund acht Millionen Menschen anordnete und viele weitere Millionen Tote auf dem Gewissen hat, wurde von seiner Sekretärin Traudl Junge als umgänglicher, freundlicher und väterlicher Mann beschrieben. Gewalt gegen Tiere war ihm ein Gräuel: Er war Vegetarier, liebte seine Schäferhündin Blondi und soll über ihren Tod untröstlich gewesen sein.

Pol Pot, der kommunistische Diktator Kambodschas, dessen Politik etwa ein Viertel der Bevölkerung seines Landes das Leben kostete, galt unter seinen Bekannten als stiller und liebenswürdiger Französischlehrer.

Josef Stalin verhielt sich während seines achtzehnmonatigen Aufenthalts im Zuchthaus unauffällig, er wurde nie laut und sagte kein böses Wort. Er war ein geradezu vorbildlicher Häftling und wirkte nicht wie jemand, der später aus politischem Opportunismus Millionen von Menschen ermorden lassen würde.

Es fällt uns schwer zu akzeptieren, dass bösartige Menschen eine liebevolle Seite haben können, weil wir Angst haben, damit ihre Verbrechen zu rationalisieren oder gar zu entschuldigen. Diese Menschen machen uns jedoch auf eine sonderbare Eigenschaft unserer Art aufmerksam. Wir sind nicht nur die intelligentesten Vertreter der Tierwelt, sondern wir bringen auch eine widersprüchliche Mischung von moralischen Veranlagungen mit: Wir können das abscheulichste aller Tiere sein, aber auch das freundlichste.

Der englische Dramatiker und Dichter Noël Coward brachte diese sonderbare Doppelnatur auf den Punkt. Er hatte den Zweiten Weltkrieg miterlebt und machte sich keine Illusionen über die Abgründe des Menschen. »Wenn man sich die Dummheit, Grausamkeit und Verblendung der Menschheit ansieht, dann ist es schwer zu verstehen, wie sie so lange überleben konnte«, schrieb er 1958. »Es ist kaum zu glauben, zu welchen Hexenjagden, Folterungen, Torheiten, Massenmorden, Ressentiments und rasender Sinnlosigkeit der Mensch in der Lage ist.«1

Trotzdem tun wir die meiste Zeit über Dinge, die das genaue Gegenteil von »Dummheit, Grausamkeit und Verblendung« sind und eher von Vernunft, Güte und Miteinander zeugen. Die technischen und kulturellen Wunder, die unsere Spezies vollbracht hat, werden durch das Zusammenspiel dieser Eigenschaften mit unserer Intelligenz ermöglicht. Auch hierfür fand Coward Beispiele:

Tote Herzen werden der menschlichen Brust entnommen und nach einer kleinen Behandlung so gut wie neu wieder eingesetzt. Der Himmel wird erobert. Sputniks schwirren um den Erdball und lassen sich steuern und lenken … Und gestern Abend hatte in London My Fair Lady Premiere.

Herzchirurgie, Raumfahrt und Operetten sind Beispiele für einen Fortschritt, der unsere fernen Vorfahren verblüfft hätte. Aus evolutionärer Sicht sind sie Ausdruck einer ganz und gar einzigartigen Kooperationsfähigkeit, die Toleranz, Vertrauen und Verständnis voraussetzt. Das sind einige der Eigenschaften, für die wir unsere Art als außergewöhnlich »gut« bezeichnen würden.

Das Sonderbare an unserer Art ist also vereinfacht gesagt unser breites moralisches Spektrum, das von abgrundtiefer Niedertracht bis zu herzerwärmender Güte reicht. Aus biologischer Sicht stellt uns diese Bandbreite vor eine knifflige Frage: Wenn wir uns im Laufe der Evolution dazu entwickelt haben sollten, gütig zu sein, warum sind wir dann gleichzeitig so schlecht? Oder wenn wir uns dazu entwickelt haben sollten, böse zu sein, warum können wir dann gleichzeitig so gütig sein?

Dieses Nebeneinander von Gut und Böse im Menschen ist keineswegs ein neues Phänomen. Wenn wir uns das Verhalten von Wildbeutern und die Funde der Archäologie ansehen, dann haben Menschen seit Hunderttausenden von Jahren Essen und Arbeit geteilt und den Bedürftigen geholfen. Unsere Vorfahren aus dem Pleistozän waren in vieler Hinsicht ausgesprochen tolerant und friedlich. Doch dieselben historischen Quellen belegen, dass sie Plünderung, sexuelle Gewalt, Folter und Morde kannten, die an Grausamkeit den Verbrechen der Neuzeit kaum nachstanden. Auch heute ist die Fähigkeit zu Grausamkeit und Gewalt nicht auf bestimmte Gruppen beschränkt. Eine Gesellschaft kann über Jahrzehnte hinweg in außergewöhnlichem Frieden gelebt haben, während gleichzeitig eine andere von außergewöhnlicher Gewalt erschüttert wurde. Das ist jedoch kein Hinweis auf angeborene psychische Unterschiede zwischen Menschen verschiedener Regionen oder Epochen. Alle Menschen scheinen dieselbe Anlage zu Tugend und Gewalt mitzubringen.

Schon Säuglinge zeigen ähnlich widersprüchliche Tendenzen. Noch ehe sie sprechen können, lächeln sie und glucksen beim Anblick eines freundlichen Erwachsenen vor Freude und sind sogar in der Lage, ihm zu helfen, wenn er das braucht. Bei einer anderen Gelegenheit schreit und tobt derselbe großherzige Nachwuchs in überschäumendem Egoismus, um seinen Kopf durchzusetzen.

Es gibt zwei klassische Erklärungen für dieses paradoxe Nebeneinander von Selbstlosigkeit und Selbstsucht. Beide Erklärungen gehen davon aus, dass unser Sozialverhalten vor allem von unserer Biologie bestimmt wird. Sie sind sich außerdem einig, dass eine unserer beiden herausragenden Eigenschaften das Produkt der genetischen Evolution ist. Der Unterschied zwischen beiden Erklärungen ist jedoch, welche der beiden Aspekte unserer Persönlichkeit sie für die wesentliche halten: unsere Güte oder unsere Aggression.

Die erste dieser beiden Erklärungen geht davon aus, dass wir Menschen von Natur aus gütig und tolerant sind. Demnach sind wir unserem Wesen nach gut, doch weil wir gleichzeitig korrumpierbar sind, können wir nicht in ewigem Frieden leben. Religiöse Gelehrte suchen die Schuld für diesen Zustand bei übernatürlichen Kräften wie dem Teufel oder der »Erbsünde«. Weltliche Denker gehen eher davon aus, dass das Böse von gesellschaftlichen Kräften wie dem Patriarchat, dem Imperialismus oder der Ungleichheit hervorgerufen wird. So oder so nehmen sie an, dass wir als gute Wesen zur Welt kommen, aber für Verirrungen empfänglich sind.

Die zweite der beiden Erklärungen geht davon aus, dass unsere böse Seite die angeborene ist. Wir kommen als selbstsüchtige und neidische Wesen zur Welt und würden diese Eigenschaften auch ausleben, gäbe es da nicht zivilisierende Kräfte, die sich um unsere Vervollkommnung bemühen, seien es Eltern, Philosophen, Geistliche, Lehrer oder die Lektionen der Geschichte.

Jahrhundertelang haben Menschen das Bild unserer verwirrenden Welt zu vereinfachen gesucht, indem sie die eine oder andere dieser beiden Ansichten vertreten haben. Die Philosophen Jean-Jacques Rousseau und Thomas Hobbes sind die Galionsfiguren der beiden Seiten. Der Name Rousseau steht stellvertretend für die Ansicht, dass der Mensch seinem Wesen nach gut ist, und Hobbes für die Position, dass der Mensch von Natur aus böse ist.2

Beide Positionen haben durchaus etwas für sich. Es gibt zahlreiche Belege für die angeborene Güte des Menschen und genauso viele für unseren spontanen Egoismus, der zur Aggression führen kann. Aber niemand hat den Beweis erbracht, dass eine der beiden Neigungen biologisch sinnvoller oder evolutionär einflussreicher wäre als die andere.

Die Einmischungen der Politik haben diese Diskussion nicht beigelegt, im Gegenteil, wenn diese Philosophien als Argumente in gesellschaftlichen Diskussionen aufgefahren werden, dann verhärten sich die Fronten eher noch. Anhänger des Rousseau’schen Denkens, die an das Gute im Menschen glauben, sind vermutlich friedliebende und gelassene Fürsprecher der sozialen Gerechtigkeit und glauben an die Weisheit der vielen. Und Anhänger von Hobbes, die den Menschen und seine Motive eher mit Zynismus betrachten, halten gesellschaftliche Kontrolle für unabdingbar, sie schätzen Hierarchien und betrachten Kriege als unvermeidliches Übel. In der Debatte geht es nun weniger um Biologie oder Psychologie als um gesellschaftliche Anliegen, politische Strukturen und Moral. So rückt eine Antwort auf unsere Frage nur in immer weitere Ferne.

Ich glaube allerdings, dass es einen Ausweg aus dieser Debatte um das Wesen des Menschen gibt. Statt zu versuchen, Beweise für eine der beiden Seiten zu finden, sollten wir uns fragen, ob diese Diskussion überhaupt sinnvoll ist. Säuglinge weisen uns in eine ganz andere Richtung: Die Rousseau’sche Sichtweise ist genauso richtig wie die Hobbes’sche. Wir sind unserem Wesen nach gut, wie es Rousseau behauptet haben soll, und wir sind unserem Wesen nach egoistisch, wie Hobbes behauptete. Jeder Mensch trägt das Potenzial zu Gut und Böse in sich. Unsere Biologie gibt diese widersprüchlichen Aspekte unserer Persönlichkeit vor, und die Gesellschaft modifiziert beide Tendenzen. Unsere Güte kann verstärkt oder geschwächt werden, genau wie unser Egoismus aufgeblasen oder zurückgenommen werden kann.

Wenn wir erkennen, dass wir dem Wesen nach gut und böse sind, dann löst sich die alte Diskussion in Luft auf, und an ihre Stelle treten neue und faszinierende Fragen. Wenn die Anhänger von Rousseau und Hobbes recht haben, woher kommt dann unsere widersprüchliche Mischung von Anlagen? Aus der Erforschung anderer Tierarten, namentlich Vögel und Säugetiere, wissen wir, dass die Evolution eine große Bandbreite von Verhaltensweisen hervorbringen kann. Einige Arten sind friedlicher, andere aggressiver, wieder andere beides oder nichts von beidem. Wir Menschen sind dagegen eine sonderbare Mischung: In unseren normalen zwischenmenschlichen Interaktionen sind wir ungewöhnlich sanftmütig, aber unter den...

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