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Drogen, Sucht und Hilfe. Neue Erkenntnisse der Suchtforschung und Perspektiven für Drogenpolitik und Suchthilfe

AutorPeter Engert
VerlagGRIN Verlag
Erscheinungsjahr2003
Seitenanzahl146 Seiten
ISBN9783638167338
FormatPDF/ePUB
Kopierschutzkein Kopierschutz/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis0,00 EUR
Diplomarbeit aus dem Jahr 1998 im Fachbereich Soziale Arbeit / Sozialarbeit, Note: 1,0, Hochschule Mannheim (Hochschule für Sozialwesen), Sprache: Deutsch, Abstract: Um einen geeigneten Zugang zum emotionslastigen Thema zu verschaffen, handelt das erste Kapitel von Drogen, von ihrer Geschichte, von Wirkungen und Gefahren, von Rauschzuständen und damit zusammenhängenden Vorgängen im menschlichen Gehirn. Letztere sind denn auch zu einem zentralen Punkt im Verständnis von Sucht avanciert, womit sich die plausible Überleitung zum zweiten Kapitel anbietet, welches von Süchten, ihrer Entstehung und den verschiedenen Erscheinungsformen handelt. Außer der Beschreibung des Bedeutungswandels des Suchtbegriffes werden hier die klassischen Erklärungsmuster für die Entstehung von Sucht aufgeführt und kritisch hinterfragt. Neben einer Beschreibung verschiedener Formen von Sucht finden hier gängige theoretische Modelle, Klassiker wie neuere Ansätze ihren Platz. Nun ergeben sich zwar inzwischen plausible Erklärungszusammenhänge, ohne jedoch auch die gesellschaftlich-kulturellen Hintergründe mit einzubeziehen, muß ein Bild von Sucht unvollständig bleiben. Um dieser Anforderung zu genügen, wird im dritten Kapitel der Bogen zu maßgeblichen Normen und Werten heutiger westlich-kapitalistisch geprägter Gesellschaftssysteme geschlagen. Hierbei erschien es auch wichtig, die Prozesse zu beschreiben, die zu Stigmatisierung und Ausgrenzung führen und - bezogen auf die Bildung von Drogenszenen als Legitimationsargument - die herrschende Strafverfolgungspolitik gegen Drogengebraucher mitbestimmen. Bezüglich juristischer Rahmenbedingungen und der damit zusammenhängenden Bindung der klassischen Drogen- und Suchthilfe an die wissenschaftlich längst überholten Mythen vom Abstinenzideal und der Utopie einer drogenfreien Gesellschaft war es im vierten Kapitel notwendig, noch deutlicher Stellung zu beziehen. So wird im ersten Abschnitt die zum Zeitpunkt der Textentstehung herrschende Gesetzgebung analysiert und hinterfragt und die entsprechenden Wirkungen auf die Drogenhilfe beschrieben. Hierhin gehört auch die Diskussion darüber, warum die Maßnahmen klassischer Prävention nicht die erhofften Resultate erbringen (können), obwohl der Bedeutung präventiver Aspekte ein unumstritten hoher Rang zugestanden werden muss. Am Ende wird mit der Beschreibung einer Utopie der Blick in eine Zukunft gewagt, die dem Konsum von Drogen jeder Art den notwendigen Stellenwert zuweist; nämlich den Menschen zu Entspannung und Genuß zu dienen, eingefügt in eine aufgeklärte Gesellschaft und nicht schädlich sondern vielmehr der menschlichen Entwicklung förderlich...

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Leseprobe

2. DER BEGRIFF DER SUCHT


 

2.1. Nebel um den Suchtbegriff


 

Das Wort „Sucht“ ist abgeleitet von dem germanischen Verb „siechen“ (=krank sein) und hatte generell die Bedeutung von „Krankheit“. Der Begriff wurde bis ins 16. Jh. hinein so verwendet. Aus dieser Zeit stammen auch die Bezeichnungen Schwindsucht, Tobsucht, Fallsucht etc. Nach seiner Ablösung durch den Begriff „Krankheit“ erfuhr er ab dem 19. Jahrhundert einen drastischen Bedeutungswandel: stärkere moralische Unwerturteile wurden allmählich damit assoziiert. Die Ausdrücke Geldsucht, Gewinnsucht, Zanksucht, Rachsucht etc. belegen beispielhaft, wie der Begriff immer mehr seine einstige Wertneutralität verlor. Zusammengefaßt war also Sucht früher jede Krankheit außer der Sucht selbst, welche damals lediglich als Laster oder verkorkste Leidenschaft bewertet wurde.

 

Aus dem Laster wurde ab dem 19. Jh. ausgehend von der Trunksucht zunehmend wiederum eine Krankheit, - von Ärzten erforscht, beschrieben und behandelt. Immer stärker gerieten so auch andere Substanzen ins Visier: Aus Opium war inzwischen Morphin entwickelt worden (v. Wilhelm Sertürner um 1804), die Injektionsspritze wurde 1864 durch Pravaz erfunden, und 1874 hat der Engländer C. R. A. Wright das Diacethylmorphin synthetisiert, - Handelsname: Heroin! Auch das Kokain wurde im Zuge der Entwicklung der chemisch-pharmazeutischen Industrie erstmals im 19. Jh. aus der Cocapflanze extrahiert...und daß auch Wein zu Schnaps konzentriert wurde, kennzeichnet umso mehr den Drang damaligen Zeitgenossen zur pharmazeutisch-chemischen Konzentrierung vorhandener pflanzlicher Substanzen mit psychotroper Wirkung und hatte den Effekt, daß große Bevölkerungsgruppen in West- und Mitteleuropa verelendeten, weil sie diese Substanzen verwendeten, um Armut, Not, Hunger, die unmenschlichen Arbeitsbedingungen und die ausbeuterischen ökonomischen Entwicklungen der ersten Hoch-Zeit eines ungebremst wuchernden Kapitalismus ertragen zu können.

 

Immer mehr engte sich nun die Bedeutung des Wortes „Sucht“ auf die Bezeichnung eines zwanghaften Verhaltens im Umgang mit bestimmten Substanzen (Drogen) ein. Dieser Begriffswandel wurde 1952 durch die WHO, vor allem unter der Besorgnis über den Opiatkonsum, festgeschrieben als ein „Zustand periodischer oder chronischer Intoxikation, die für das Individuum und für die Gesellschaft schädlich ist und hervorgerufen wird durch den wiederholten Gebrauch einer natürlichen oder synthetischen Droge“, wobei das unbezwingbare Verlangen zum fortgesetzten Konsum, Dosissteigerung und physische oder psychische Abhängigkeit als charakteristisch galten (Schmidt-Semisch 1997 in Bossong/Gölz/Stöver 1997, 37). Allerdings paßte diese Definition zwar auf Opiatkonsum, weniger jedoch auf die Verwendung anderer Substanzen. Den daraus resultierenden Irritationen in der Fachdiskussion wollte die WHO 1964 entgegenwirken, indem sie im folgenden nur noch von „Abhängigkeit“ anstatt von „Sucht“ sprach. Abhängigkeit definierte sie als „...ein Zustand, der sich aus der wiederholten Einnahme einer Droge ergibt, wobei die Einnahme periodisch oder kontinuierlich erfolgen kann. Ihre Charakteristika variieren in Abhängigkeit von der benutzten Droge...“ (WHO 1964; zitiert nach Böllinger/Stöver/Fietzek 1995, 26). Diese Beschreibung konzentriert sich auf den Begriff der Droge und verlangt förmlich nach einer Beschreibung derselben. Hierzu hat die WHO eine „Drogentypologie“ entworfen. Sie unterscheidet den Morphin-Typ, den Kokain-Typ, den Cannabis-Typ, Barbiturate und Alkohol, Amphetamine, Khat und Halluzinogene. Somit war für die beteiligten internationalen Gremien der Weg frei, mehr oder weniger willkürlich ständig neue Substanzen in die Suchtstoffabkommen aufzunehmen, die dann je nach Bedarf und völlig unabhängig davon, ob mit deren Gebrauch nun psychische oder physische Abhängigkeit einhergeht, entweder dem einen oder dem anderen Typus zugeordnet werden konnten. Interessanterweise wurden ebenso abhängigmachende, aber legale Drogen wie Nikotin oder Koffein gar nicht erst als potentielle Suchtstoffe typisiert! Zu Recht kann deshalb angenommen werden, daß alle Definitionen der WHO in diesem Zusammenhang lediglich „...Versuche der Verbindung der vorherrschenden wissenschaftlichen Ansätze zur terminologischen Klärung mit den Anforderungen der [...] internationalen Suchtstoffabkommen...“ waren, also eher zweifelhafte Bemühungen, eine Brücke zu bauen zwischen wissenschaftlichen Erkenntnissen und oft gegensätzlichen Wunschvorstellungen konservativer „Law-and-Order“-Politiker (insb. aus den USA) (Scheerer/Vogt 1989, 14 f).

 

So wurden die WHO-Definitionen denn auch schon vor über zwanzig Jahren dahingehend kritisiert, „...daß sie den Erkenntnissen moderner Forschung nicht gerecht würden, denn Drogen stellten doch schließlich nur einen Aspekt unter vielen dar, wenn man die Frage der Abhängigkeit behandele. Im Zentrum der Betrachtungen habe vielmehr das Individuum zu stehen, denn nicht eine Droge habe die Eigenschaft, psychisch abhängig zu machen, sondern dies sei eine mögliche Reaktion des Individuums auf die unmittelbare Wirkung der Droge hin, die spezifisch für dieses Individuum sei. Der Begriff der Drogenabhängigkeit leiste der falschen Vorstellung Vorschub, daß die Droge selbst die Abhängigkeit erzwinge“ (Schmidt-Semisch 1997 in Bossong/Gölz/Stöver 1997, 37).

 

Während die WHO in den sechziger Jahren noch den Begriff des „Mißbrauchs“ strapazierte und ihn als „...die einmalige, mehrmalige oder ständige Verwendung jeder Art von Drogen ohne medizinische Indikation bzw. in übermäßiger Dosierung...“ definierte, geht die aktuelle Krankheitsklassifikation der WHO (ICD-10) etwas weiter und spricht nur noch von „schädlichem Gebrauch psychoaktiver Substanzen“. Darunter versteht sie „...ein Konsummuster psychotroper Substanzen, das zu einer Gesundheitsschädigung führt. Diese kann eine körperliche Störung, etwa eine Hepatitis durch Selbstinjektion von Substanzen sein oder eine psychische Störung, z. B. eine depressive Episode nach massivem Alkoholkonsum...“. Sie erklärt weiterhin: „Die Diagnose erfordert eine tatsächliche Schädigung der psychischen oder physischen Gesundheit des Konsumenten. Schädliches Konsumverhalten wird häufig von anderen kritisiert und hat auch häufig unterschiedliche negative soziale Folgen. Die Ablehnung des Konsumverhaltens oder einer bestimmten Substanz von anderen Personen oder einer ganzen Gesellschaft ist kein Beweis für den schädlichen Gebrauch, ebensowenig wie etwaige negative soziale Folgen, z. B. Inhaftierung oder Eheprobleme. Eine akute Intoxikation (...) oder ein Kater (hangover) beweisen allein noch nicht den ‚Gesundheitsschaden‘, der für die Diagnose ‚schädlicher Gebrauch‘ erforderlich ist“. (WHO, ICD-10, Kap. V (F) zit. n. SCHEERER 1995, 38; Hvh. d. d. Verf.). Eine solche Begriffsauffassung könnte ein großer Schritt in Richtung einer Versachlichung der Diskussion über Drogen und Sucht sein. Nichtsdestotrotz arbeiten sog. Anti-Drogen-PolitikerInnen weiterhin ganz bewußt mit dem Begriff „Mißbrauch“, - auch wenn es sich zweifelsfrei nicht um den oben definierten „schädlichen Gebrauch“ handelt - und verbinden damit die Konnotation der „prinzipiellen Schädlichkeit des Gebrauchs. Hier tat sich vor allem die politisch ebenfalls von den USA dominierte UNO unangenehm hervor, indem sie noch 1987 ganz offiziell empfahl, „...Begriffe wie ‚responsible drug use‘ (verantwortungsvoller Drogengebrauch) und ‚recreational drug use‘ (Freizeitkonsum von Drogen) aus dem Vokabular zu tilgen, um den Drogenmißbrauch nicht zu verharmlosen...“ (SCHEERER 1995, 39).

 

Abschließend bleibt zu konstatieren, daß es noch immer weitestgehend an einer allgemeingültigen und von Fachleuten anerkannten Definition des Begriffs Sucht mangelt, die neben Hilfsmöglichkeiten für die Menschen, die an ihr leiden, auch aktuelle und seriöse wissenschaftliche Erkenntnisse einbezieht. Vor allem muß eine solche Beschreibung wegkommen von der noch immer vorherrschenden pharmakozentrischen (d. h. drogen- oder substanzbezogenen) Sichtweise der Sucht und sollte außerdem ideologische und politische Fragen weitestgehend ausklammern. Nur so kann die Diskussion auf eine sachliche und für Betroffene hilfreiche Ebene zurückgeführt werden.

 

2.2. Klassische Ansätze zur Erklärung von Sucht


 

Wie der Suchtbegriff, so sind auch die Ansätze zur Erklärung von Sucht und deren Ursachen von Vermutungen, Hypothesen und jeweiliger Weltanschauung geprägt, meist aber nicht von Wissen und fundierten Erkenntnissen. Noch immer gibt es keine allgemeingültige Suchttheorie; allerdings besteht in jeder Disziplin, die sich mit diesem vielschichtigen Thema beschäftigt, eine oder gar mehrere Vorstellungen darüber, wie Sucht entstehen könnte, oft auch abhängig von den persönlichen Einstellungen der entsprechenden WissenschaftlerInnen. Um die Verwirrung zu verdeutlichen, werden im folgenden Abschnitt verschiedene Ansätze kurz erläutert:

 

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