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E-Book

Eine Frau wird älter

Ein Aufbruch

AutorUlrike Draesner
VerlagPenguin Verlag
Erscheinungsjahr2018
Seitenanzahl208 Seiten
ISBN9783641223847
FormatePUB
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis16,99 EUR
Wenn Frauen nicht mehr 35, nicht mehr 45 und bald nicht mehr 55 sind...
Frauen wollen immer 39 bleiben, sagte ihre Mutter und färbte sich die Haare bis weit über 80. Sie selbst hat inzwischen auf Partys manchmal den Eindruck wie ein sprechendes Möbelstück behandelt zu werden. Wie sehen sich Frauen eigentlich in der Mitte des Lebens? Mit oder ohne Mann, mit oder ohne Kind, jedenfalls mit sich veränderndem Körper, Denken, Fühlen. Ulrike Draesner hat einen glänzenden Text geschrieben, am eigenen Leben und dem anderer Frauen entlang erkundet sie die Vielschichtigkeit dieses Lebensabschnitts, in dem alles nebeneinander vorkommt: Sie weiß noch, wie sie als Mädchen unbedingt älter werden wollte. Und nun tun alle so, als gäbe es so etwas wie Wechseljahre gar nicht? Pointiert, scharfsinnig und heiter findet Draesner einen neuen Umgang mit dem Verstreichen der Jahre: Aufbruchsgeist, Feuer statt Herd. Zuhause in der eigenen Verwandlung.

Ulrike Draesner, 1962 in München geboren, wurde für ihre Romane, Essays und Gedichte vielfach ausgezeichnet. Zuletzt erhielt sie den Großen Preis des Deutschen Literaturfonds (2021) für ihr Gesamtwerk, das multimediale Arbeiten und Übersetzungen einschließt. Die Jahre 2015 bis 2017 verbrachte Draesner in England. Nach verschiedenen internationalen Gastdozenturen und Poetikvorlesungen ist sie seit April 2018 Professorin am Deutschen Literaturinstitut Leipzig. Draesner lebt mit ihrer Tochter in Berlin.

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Leseprobe

Käthes Geschichte


Drei Märchenbücher, jedes lange Zeit zu groß für meine Hände, begleiteten meine Kinderjahre. In dem Band der Gebrüder Grimm fand sich das Märchen »Der alte Großvater und der Enkel«.2 Das zugehörige Bild war aus der Kinderperspektive gezeichnet. Im Vordergrund kauerte auf dem Holzboden einer »guten Stube« ein Junge, klein noch, der Brettchen zusammennagelte. Auf der Seite hockte auf einer Bank sein Großvater, ein rechter Mümmelmann ganz ohne Zähne. Das kurze Märchen schildert, dass der Großvater nur mehr Brei zu essen vermag, wobei er häufig kleckert (wie mein eigener Großvater). Die Eltern des Jungen speisen am Tisch, im vollen Saft ihrer Kraft, dem alten Mann indes ist verboten, sich zu ihnen zu setzen. Er tropft und ist widerwärtig anzublicken; zudem hat er ein Schüsselchen zerbrochen (wie mein eigener Großvater, häufig). Seither sitzt er in der Ecke, erhält nur mehr Zermatschtes, und davon nicht genug.

Ungerecht behandelten sie ihn; stark empfand ich die dem alten Mann angetane Entwürdigung und Missachtung. Das Märchen erzählte, wie der Sohn und Enkel alles beobachtete, und die Illustration zeigte, wie er in einer Ecke des Zimmers saß und einen Breiteller für seine Eltern herstellte für die Zeit, wenn er erwachsen und sie alt sein würden.

Dieses Märchen in all seiner zeitlich-überzeitlichen Wahrheit solidarisierte mich nachhaltig mit Käthe und verstärkte die Empfindung, dass sie, schwach aufgrund ihres Alters, des Schutzes bedurfte. Es war die Kategorie »Alter«, die uns miteinander verband: Meine Schwester und ich mussten als Kinder regelmäßig am Katzentisch sitzen, wenn mehrere Erwachsene bei meinen Eltern zusammenkamen. Kinder störten. Während auf dem Tisch »der Großen« zu diesen Gelegenheiten aufgefahren wurde, erhielten wir das übliche Abendessen, einen weißen Joghurt ohne Zucker. So sollte also auch der altersschwache Mensch behandelt werden. Verbannt, still, abgespeist.

Das Märchen allerdings war atemberaubend, kehrten sich doch mit einem Mal, dank eines einzigen Satzes zum Schluss, die Kräfteverhältnisse zwischen den Generationen um.

»›Was machst du da?‹, fragte der Vater. ›Ich mache ein Tröglein‹, antwortete das Kind, ›daraus sollen Vater und Mutter essen, wenn ich groß bin.‹«

Dies war auf schonungslose Weise wahr. In unaufgeregter Deutlichkeit enthüllte die knappe Episodenfolge, wie Macht Eltern-Kind-Verhältnisse bestimmt und was sie mit ihnen »anstellt«. Macht, auch das lehrte der Text, erzeugt verlässlich nur eines: das Phantasma des Gegenschlags. In der Generationenkonstellation Großvater – Eltern – Sohn musste man dafür nur den natürlichen Lauf der Zeit abwarten: Eines Tages würde das ehemalige Kind das Sagen haben.

Wie nebenher erzählte das Märchen, was auch in unserer Familie, Oma Käthe eingeschlossen, galt: Eltern lehren dich, wie man mit »den Alten« umgeht.

Mit den Jahren wuchs, wenn ich die Zähne meiner Großmutter im Badezimmerglas betrachtete, der Wunsch, Käthe gegen meine Mutter, die alles an Käthe mit Ablehnung, wenn nicht Häme betrachtete, in Schutz zu nehmen. Das Gebiss schien stumm; tatsächlich erzählte es von Verletzlichkeit und der letzten Bedeutung des Märchens. Der Junge würde nicht nur in die Eltern-, sondern irgendwann selbst auch in die Großvaterposition treten. Ich hätte es als Kind so nicht auszudrücken vermocht, aber ich empfand, dass wir alle uns auf einen Zustand zubewegten, in dem der eigene Körper einen zunehmend verließ und man sich angewiesen auf Hilfsmittel sah. Schon damals wollte mich beruhigen, dass diese Mittel existierten, schließlich sorgten sie für einen wesentlichen Unterschied zwischen dem Mümmelmann im Märchen und meiner Oma, die nur im Bett zu einer Mümmelfrau wurde, wo es nicht viel Schaden stiftete, denn träumen kann man auch ohne Zähne. Ihr war es möglich, ihren Tag so zu verbringen, dass sie mit uns sprach und aß, sie konnte zu sich nehmen, was sie wollte. An den Katzentisch wurde Käthe also nicht verbannt, nur manchmal in übertragener Form, wenn es hieß: »Du bist alt, da kannst du nicht mitreden.«

Im Nachhinein denke ich, dass dies meine ersten Lektionen darin waren, Alters- oder Zeitregeln nicht blindlings zu folgen. Diese Regeln sind nicht naturgegeben, sondern sozial; nicht Wahrheiten drücken sie aus, sondern Erwartungen und Konventionen. Man ist nicht nur so alt, wie man sich fühlt, sondern auch so alt, wie man sich machen lässt. Anders gesagt: Es lohnt sich, immer mal wieder im eigenen Wohnzimmer auf einen Schrank zu klettern – und mit baumelnden Beinen den Blick schweifen zu lassen.

Einige Zeit nach ihrem 90. Geburtstag wurde Käthe dement. Sie lebte weiterhin allein in ihrer Wohnung in Schwabing, wo sie in eigenwillige Verhältnisse zu ihrem Wasserkocher, dem Mülleimer, den Hausschlüsseln und sich selbst geriet. Tee- und Kaffeebeutel, manchmal auch Gemüseschalen, warf sie zum Küchenfenster hinaus auf den Hof. Ich verstand, dass sie das praktisch fand – die Mülltonnen standen schließlich dort, fast traf sie sie. Die Nachbarn fanden ihr Verhalten weniger lustig und benachrichtigten meine Eltern. Da nicht mehr sicher war, was Käthe und der Gasherd miteinander anstellen würden, da man sich Sorgen machte, sie könnte eines Tages oder Nachts beim Einkaufen verloren gehen oder sich und andere gefährden, musste eine neue Lösung gefunden werden.

So sagte man. Die Aufgabe war wohl größer, sehr viel größer, zu groß: Man musste ein neues Leben für Käthe erfinden. Die kein neues Leben wollte.

Ich studierte in München, war aber aus meinem Elternhaus ausgezogen. Die Ehe meiner Eltern folgte dem klassischen Rollenmodell der sich saturierenden Bundesrepublik: Er geht arbeiten, sie bleibt als Hausfrau daheim, zuständig für Kinder und Soziales. Nun waren die Kinder so gut wie aus dem Haus, meine Schwester auf dem Sprung, ich fort, ein Zimmer stand bereits leer, ein zweites würde in Kürze folgen. Die Frage, ob Käthe aufgenommen würde in das Sohnesheim, lag in der Luft. Ausgesprochen wurde sie nicht; jeder wusste, dass das Verhältnis zwischen Käthe und meiner Mutter dergleichen nicht zuließ. Also wurde meine Oma gegen viel Geld in ein Pflegeheim eingebucht. Ich besuchte sie ein paar Mal dort, sie lebte nach dem Verlust ihrer Wohnung, den sie deutlich empfand, nur mehr ein knappes Jahr. Käthe wirkte, als wollte sie nun, nach einer letzten Vertreibung, nicht mehr länger unter Menschen bleiben; ihre Demenz schritt voran, bald erkannte sie nur mehr meinen Vater, bald hielt sie ihn in rascher, nach außen willkürlich scheinender Folge für ihren anderen Sohn, ihren Mann, ihren eigenen Vater. Meine Schwester und ich, allemal meine Mutter, waren bereits hinter ihren Menschenhorizont gekippt, hinter die Zeit. Da saß sie nun also als auf seltsame Weise verstummende Person, die, wenn sie überhaupt noch etwas sagte oder etwas bewegte, sich in der Vergangenheit aufhielt, man sollte wohl genauer sagen, in ihr lebte.

Es war eine befremdende, auch beängstigende Erfahrung, wie unvermittelt sich ein einst naher Mensch jenseits von einem selbst befinden kann, obwohl er körperlich noch anwesend ist. Uns allen wurde eine eindrucksvolle Lektion darüber erteilt, was das Gehirn aus uns zu machen imstande ist. Zugleich indes trat etwas anderes in den Raum. Bis heute empfinde ich diese letzte Phase im Leben meiner Großmutter als wesentlichen Teil ihrer Geschichte. Erst nun kam zum Vorschein, was die neun Jahrzehnte zuvor verdeckt geblieben beziehungsweise unterdrückt worden war: Käthes Renitenz. Ihr Eigensinn.

Sie war Jahrgang 1893, der Vater Direktor eines Mädchenlyzeums, eine bildungsbürgerliche Familie, zwei Töchter, Käthe und die jüngere, hübsche Ilse, genannt Ille. Die Schwestern durften die Schule des Vaters besuchen, danach herrschten Fellschühchen, Tanzstunden, Kaffeekranz. Meine Oma lernte nie schwimmen, nie Fahrrad fahren, das wäre zu wild und unanständig gewesen für ein Mädchen ihrer Art. So war sie erzogen, so verbrachte sie ihre »Jungfrauenzeit«, ihre frühe Ehezeit, bekam ihre Söhne. Man riss den Kalender ab und schrieb den 30. Januar 1933, man riss den Kalender ab, und das Blatt zeigte den 1. September 1939. Ihr über 40-jähriger Mann, Direktor einer Bank, war zwei Tage zuvor ohne Vorwarnung eingezogen worden, er war nun, erneut, im Krieg.

Käthe sorgte für ihre Mutter, ihre Söhne. Der ältere, fast erwachsene, war behindert, von Hitlers Euthanasiegesetzen bedroht, der jüngere, mein Vater, blond und blauäugig, zählte neun Jahre. Er ging zur Schule, ein Teilchen im ausgreifenden Jugendsystem des Regimes, gefährlich für den behinderten Bruder, man wanderte auf einem schmalen Grat. Noch zog der Krieg ohne die schlimmsten Folgen vorbei, Georg kehrte von der Front zurück, doch musste er bald abermals los, elf Mal wurde er bis in den Sommer 1944 einberufen und, mein Großvater war nun über 50, irgendwann zwischendurch nach Hause geschickt, um doch nur den nächsten Stellungsbefehl zu erhalten. Käthe lebte, heißt es, unberührt vom Krieg, eine schlesische Kleinstadt wurde nicht bombardiert; sie lebte, das sagte niemand, das wusste man nur, in ständiger Angst um das eine Kind, das zweite Kind, den Mann, die Versorgung, die Freunde, Verwandten, die Zukunft.

Im Januar 1945 folgt für Käthe und ihre Kinder, was bald Flucht und Vertreibung heißen wird. Georg muss zum Volkssturm, in den Schnee. Zunächst ist die Vertreibung nichts als ein Aufbruch, chaotisch, panisch, mit abgeschnürtem Herzen, in einer kalten Winternacht mit dem Auto der Nachbarn, das auf halbem Weg nach Breslau zusammenbricht, weiter zu Fuß mit dem behinderten Kind, jeder...

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