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Eine Geschichte aus zwei Städten

AutorCharles Dickens
VerlagRe-Image Publishing
Erscheinungsjahr2016
Seitenanzahl418 Seiten
ISBN9783961120567
FormatePUB
Kopierschutzkein Kopierschutz
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis0,99 EUR
Dickens schrieb diesen Roman 1859, als sein eigenes Leben starke Veränderungen erfuhr. Er ließ sich scheiden, seine britische Wochenzeitschrift Household Words ging ein, während er eine neue Zeitschrift All the Year Round startete. 'It was the best of times, it was the worst of times, it was the age of wisdom, it was the age of foolishness...' so beginnt sein Roman über das Leben des Dr. Manette und seiner Tochter Lucie in zwei Städten, London und Paris. Eine düstere, im Londoner Nebel spielende Anfangsszene, eine Reise nach Paris, um den jahrelang unschuldig in der Bastille gefangen gehaltenen Dr. Manette nach London zurückzuholen, die Liebesgeschichte seiner Tochter Lucie zu Charles Darnay, einem in London lebenden Marquis de Evremonde, und die dramatischen Verknüpfungen mit der Pariser Hauptstadt während der Schreckensherrschaft der la guillotine sind der Inhalt dieses Romans, wobei ein ewig betrunkener Protagonist, Sydney Carton, aus einer Nebenrolle heraus der tragische Held dieser Geschichte wird.

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Leseprobe

Drittes Kapitel. Nächtliche Schatten


Es ist eine wunderbare, des Nachdenkens werte Tatsache, daß jedes menschliche Wesen in seiner Eigenart für andere zu einem tiefen Geheimnis wird. Wenn ich nachts in einer großen Stadt anlange, so erfüllt es mich mit feierlichen Gedanken, daß jedes von jenen dunkel aufeinandergehäuften Häusern sein eigenes Geheimnis einschließt und jedes klopfende Herz in den Hunderttausenden von menschlichen Wesen irgendeine heimliche, ihm besonders teure Vorstellung birgt. Selbst das Grausen, das uns den Tod einflößt, hat hierin seinen Grund. Ich kann nicht mehr in dem mir teuer gewordenen Buche blättern und darf nicht hoffen, es mit der Zeit zu Ende zu lesen. Ich soll nicht mehr schauen in die Tiefen des unergründlichen Wassers, in dem ich, je nachdem es durch augenblickliche Lichter erhellt wurde, manchen weit unter der Oberfläche befindlichen Schatz erschaute. Das Schicksal wollte es, daß das Buch sich schloß und für immer mit einer unlösbaren Klammer versehen ward, nachdem ich kaum eine Seite gelesen hatte. Es war bestimmt, daß das Wasser den starren Banden ewigen Eises verfiel, als das Licht noch auf seiner Oberfläche spielte und ich in ahnungsloser Unwissenheit am Ufer stand. Mein Freund ist tot; mein Nachbar ist tot; meine Liebe, der Schatz meiner Seele, ist tot. Wir haben da die unerbittliche Fortdauer eines Geheimnisses, das stets in jeder Persönlichkeit war und das ich bis zum Ende meines Daseins in der meinigen trage. Und gibt es wohl auf irgendeinem Friedhof dieser Stadt, den ich durchwandle, einen Schläfer, der unerforschlicher wäre, als es mir im Kern ihres Wesens ihre rührigen Bewohner sind oder ich es ihnen bin?

Was dieses natürliche, unveräußerliche Erbe betrifft, so besaß es der Bote auf seinem Roß ebensogut wie der König, der erste Staatsminister oder der reichste Kaufmann von London. Nicht anders ging es den drei im engen Raum einer holpernden Postkutsche eingeschlossenen Passagieren, die sich wechselseitig so vollkommene Geheimnisse waren, als führen sie stundenweit voneinander jeder in einer eigenen sechsspännigen Equipage.

Der Bote ritt in leichtem Trab wieder zurück und hielt dabei fleißig vor den Wirtshäusern, um sich einen Trunk zu holen, zeigte sich aber dabei nicht geneigt, viele Worte zu machen, und hatte den Hut über die Augen gezogen. Freilich hatte er Augen, denen ein solcher Schmuck recht gut anstand, denn sie waren dunkel auf der Oberfläche, ohne Tiefe in Form oder Farbe und viel zu nah beieinander, als fürchte jedes, über etwas ertappt zu werden, wenn sie nicht treu zusammenhielten. Sie hatten einen finstern Ausdruck, und der alte Hut saß über ihnen wie ein dreieckiger Spucknapf, während unter ihnen die Flügel der dicken, Kinn und Hals umhüllenden Halsbinde fast bis zu den Knien niederfielen. Wenn er zu einem Trunk haltmachte, drückte er, solange er mit der Rechten sich den Branntwein in die Kehle goß, mit der Linken seine Binde nieder, zog sie aber, sobald er sich angefeuchtet hatte, augenblicklich wieder in die Höhe.

›Nein, Jerry, nein‹, fuhr der Bote auf seinem Ritt in dem alten Thema fort, ›das wäre nichts für dich, Jerry. Du bist ein ehrlicher Geschäftsmann, Jerry, und dies paßt nicht in deinen Kram. Zurückgerufen –! Ei der Kuckuck, man sollte meinen, er sei ein Trinker gewesen.‹

Der Auftrag verwirrte ihm den Sinn dermaßen, daß er mehrmals den Hut abnehmen mußte, um sich den Kopf zu kratzen. Sein Scheitel war elend kahl; sonst aber hatte er steifes schwarzes Haar, das überall hervorwucherte und fast bis auf seine stumpfe Nase herabwuchs. Der Kopf schien aus einer Schlosserwerkstatt zu kommen, denn er sah weit eher einer oben mit Spitzeisen geschirmten Mauer als einem natürlichen Schopf ähnlich, so daß der beste Kunstspringer es abgelehnt haben würde, über diesen allergefährlichsten Menschen von der Welt einen Satz zu machen.

Während er mit dem Auftrag, den er durch den Wächter im Portierstübchen neben der Haustür von Tellsons Bank bei Temple Bar an die vornehmeren Personen drinnen ausrichten zu lassen hatte, seines Weges trabte, nahmen die Schatten der Nacht für ihn lauter Gestalten an, die aus seiner Botschaft hervorzuquellen schienen und die sich auch auf sein Roß übertrugen und ihm Grund zu innerer Unruhe gaben. Diese mußte wohl sehr stark sein, denn das Tier scheute vor jedem Schatten am Wege.

Wie lange holterte und polterte, rasselte und schütterte der Postwagen mit seinen drei unerforschlichen Personen im Innern auf dem langweiligen Weg dahin! Auch ihnen enthüllten sich die Schatten der Nacht in den Formen, die ihnen die müden Augen und die unsteten Gedanken eingaben.

Tellsons Bank kam dabei in dem Postwagen nicht zu kurz. Während der Bankpassagier, den einen Arm durch die Riemenschlinge gezogen, die das Ihrige tat, um ihn davor zu bewahren, auf einen Nachbar zu taumeln und ihn in die Ecke zu quetschen, wenn die Kutsche einen besonders schweren Stoß erlitt, mit halbgeschlossenen Augen auf seinem Sitz nickte, wurden für ihn die kleinen Kutschenfenster, die trüb hereinblinkenden Kutschenlichter und der mächtige Reisesack des gegenüber sitzenden Passagiers zu einer Bank mit eifrigem Geschäftsbetrieb. Das Rasseln des Pferdegeschirrs war das Geklingel des Geldes, und in fünf Minuten wurden mehr Wechsel honoriert, als Tellson trotz seinen ausgedehnten in- und ausländischen Geschäftsverbindungen in dreimal soviel Zeit auszuzahlen gewohnt war.

Dann taten sich Tellsons unterirdische feste Räume mit ihren wertvollen Schätzen und Geheimnissen, wie sie dem Passagier bekannt waren – und er wußte nicht wenig davon –, vor ihm auf, und er ging, die großen Schlüssel und das matt brennende Licht in der Hand, darunter umher und fand alles so sicher und wohlverwahrt, so still und in Ordnung, wie er es zuletzt gesehen hatte.

Aber obschon die Bank unablässig in seiner Phantasie arbeitete und auch der Postwagen ihn stets in unklarer Weise, wie etwa ein Schmerz, wenn man ein Opiat genommen hat, an seine Gegenwart erinnerte, so war doch auch noch ein anderer Gedankenstrom vorhanden, der ihm die ganze Nacht hindurch keine Ruhe ließ. Er befand sich auf dem Wege, jemand aus dem Grabe herauszuholen.

Die Schatten der Nacht zeigten ihm allerdings unter der Menge der Gesichter, die sie ihm vorführten, das wahre der begrabenen Person nicht; dafür aber vergegenwärtigten ihm alle die Umrisse eines Mannes von fünfundvierzig Jahren, die sich hauptsächlich durch den Ausdruck der Leidenschaften und ihres unheimlichen Wesens voneinander unterschieden. Stolz, Verachtung, Trotz, Starrsinn, Unterwürfigkeit und Jammern kamen der Reihe nach, ebenso der Wechsel in den eingesunkenen, leichenfahlen Wangen und in den abgezehrten Körperformen. Das Gesicht blieb jedoch in der Hauptsache dasselbe, und jeder der Köpfe war vor der Zeit weiß geworden. Wohl hundertmal fragte der schlummernde Reisende dieses Gespenst:

›Wie lange schon begraben?‹

Und jedesmal lautete die Antwort gleich:

›Fast achtzehn Jahre.‹

›Habt Ihr alle Hoffnung aufgegeben, ausgegraben zu werden?‹

›Längst.‹

›Ihr wißt doch, daß Ihr ins Leben zurückgerufen seid?‹

›Man sagt es mir.‹

›Ich hoffe, das hat einen Wert für Euch?‹

›Ich weiß es nicht.‹

›Soll ich sie Euch zeigen? Wollt Ihr mich zu ihr begleiten?‹

Die Antworten auf diese Fragen waren verschieden und widersprechend. Bisweilen lautete die gebrochene Erwiderung: ›Halt! Es würde mich töten, wenn ich sie zu bald sähe.‹ Ein ander Mal wurde sie durch einen milden Tränenregen eingeleitet und hieß: ›Bringt mich zu ihr.‹ Bisweilen folgte auf die Frage ein wirres Glotzen und die Entgegnung: ›Ich kenne sie nicht – verstehe Euch nicht.‹

Unter solchem eingebildeten Zwiegespräch konnte der Passagier in seiner Phantasie graben, graben und graben – jetzt mit einem Spaten, jetzt mit einem großen Schlüssel oder wohl gar mit den Händen –, um das unglückliche Wesen herauszuschaffen. Und war es endlich, Gesicht und Haare mit Erde beklebt, gehoben, so zerfiel es plötzlich wieder zu Staub. Der Passagier konnte dann zusammenfahren und das Fenster niederdrücken, um sich durch Regen und Nebel, die seine Wangen feucht machten, an die Wirklichkeit erinnern zu lassen.

Doch selbst wenn seine Augen sich für Nebel und Regen, für den beweglichen Lichtstreifen auf der Straße und für die ruckweise weiter und weiter zurückweichenden Heckenpartien am Wege auftaten, pflegten die Nachtschatten außerhalb der Kutsche mit dem Gang der Nachtschatten im Innern wieder zusammenzutreffen. Da stand vielleicht das wirkliche Bankhaus bei Temple Bar, das wirkliche Geschäft des abgelaufenen Tages, der feste Kellerraum, der ihm nachgeschickte Eilbote und die Antwort, die er durch ihn zurückbringen ließ. Und mitten aus diesen Bildern trat dann wieder das gespenstische Gesicht hervor, das er abermals anredete:

›Wie lange schon begraben?‹

›Fast achtzehn Jahre.‹

›Ich hoffe, das Leben hat noch einen Wert für Euch.‹

›Weiß nicht.‹

Und er grub, grub immerfort, bis ihn einer der Mitreisenden durch eine ungeduldige Bewegung mahnte, er solle das Fenster wieder hochziehen. Dann legte er seinen Arm aufs neue in die Lederschlinge und machte sich Gedanken über die beiden schlummernden...

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