Wie oben bereits erwähnt, verlor die Entwicklung der deutschen Psychiatrie – im Anschluß an die Weltkriege – an Antrieb und blieb gegenüber den Entwicklungen besonders im anglo- amerikanischen Raum zurück. Gerade die Tatsache, daß die psychiatrischen Anstalten in den 1950ern wieder als rein kustodial geprägte - also verwahrende - Institutionen bestanden, führte – besonders vor dem Hintergrund der erlebten Nazi- Diktatur – zu mannigfaltigen Protesten. Zeitgleich zu den Forderungen der Studenten- , Emanzipations- und Anti- Kriegs- Bewegungen nach mehr individueller Freiheit, weiterer Säkularisierung der Gesellschaft und Reduktion staatlicher Kontrolle sowie der verstärkt aufkommenden – auch wissenschaftlichen - System- und Gesellschaftskritik, etablierte sich die „sozialwissenschaftliche Psychiatriekritik“[107] in den 60er Jahren in Deutschland.
Bei Sauter werden die beeinflussenden Umstände für die nun einsetzende „radikale“ und „umfassende“ Psychiatriekritik differenziert dargestellt. Maßgeblich trug der Zeitgeist der sogenannten „68er Bewegung“[108] bei, der den Umgang der stattlichen Instanzen mit deviantem Verhalten anprangerte. „Die Psychiatrie wurde als eine von vielen Repressionsorganisationen gesehen“[109]. In der Sozialwissenschaft war die „Labeling- Theorie“ populär, welche abweichendes Verhalten als gesellschaftliches Konstrukt definierte. Das Phänomen der Devianz oder Delinquenz bestehe nicht objektiv, sondern nur aufgrund von Zuschreibungen/ Etikettierungen durch Normen und Gesetze, welche nicht als universal sondern als kontextabhängig anzusehen seien. Dies gipfelte in der Hypothese, psychische Krankheit sei ein durch die Psychiatrie propagiertes Konstrukt, welches „der Medikalisierung des Alltagsverhaltens und der Machterhaltung und –erweiterung der Psychiatrie“[110] dienlich sei. Der amerikanische Soziologe Erving Goffman[111] beschrieb in seiner 1972 (in Deutschland) publizierten Studie „Asyle“, daß unter anderem psychisch Kranke wesentlich nachhaltiger durch die Institutionen, in welchen sie leben und behandelt werden, als durch die Erkrankung selbst negativ beeinflußt seien. Auf ihn geht der Begriff der „totalen Institution“ zurück, die durch strukturelle Gewalt die Situation der Erkrankten zusätzlich verschlimmere:
„Strukturelle Gewalt ist die vermeidbare Beeinträchtigung grundlegender menschlicher Bedürfnisse oder, allgemeiner ausgedrückt, des Lebens, die den realen Grad der Bedürfnisbefriedigung unter das herabsetzt, was potentiell möglich ist. Diesem erweiterten Gewaltbegriff zufolge ist alles, was Individuen daran hindert, ihre Anlagen und Möglichkeiten voll zu entfalten, eine Form von Gewalt.“[112]
Den Psychiatern wurde die rein biologische Betrachtung von psychischen Leiden mit dem Resultat einer Fokussierung auf die Pharmakotherapie unter Vernachlässigung sozialpsychiatrischer und psychotherapeutischer Behandlungsansätze vorgeworfen. Zudem ergab die Epidemiologieforschung, daß gewisse Lebensumstände das Risiko einer psychischen Erkrankung maßgeblich beeinflussen[113].
Im Zuge dieser Kritik formierten sich die Antipsychiatrie[114]- und die Sozialpsychiatriebewegung[115]. Erstere lehnte die institutionalisierte Psychiatrie als „Form mittelalterlicher Hexenverfolgung“[116] grundlegend ab. Weniger radikal betonte die Sozialpsychiatriebewegung die sozialstrukturellen Ursachen von psychischer Krankheit bzw. derer Verschlimmerung und forderte eine Reform in Richtung einer gemeindepsychiatrischen Versorgung[117], sowie die Partizipation von Betroffenen und deren Angehörigen. In den 1970ern wurden dann auch erstmals Vereinigungen als Interessenvertretung von psychisch Kranken gegründet. Dies waren zunächst die Deutsche Gesellschaft für Soziale Psychiatrie (DGSP) und die Aktion psychisch Kranke e. V.[118]
Der Gesetzgeber trug diesem Öffentlichkeitsbegehren mit der sogenannten Psychiatrie- Enquête (offizielle Bezeichnung: Bericht über die Lage der Psychiatrie in der Bundesrepublik Deutschland) von 1971 Rechnung und betraute die Aktion psychisch Kranke e. V. mit der Geschäftsführung.
„Auftragsgemäß legte die Kommission im Oktober 1973 einen Zwischenbericht vor, der schwerwiegende Mängel bei der Versorgung psychisch Kranker offenbarte. In ihm wurde festgestellt, daß eine sehr große Anzahl psychisch Kranker und Behinderter in den stationären Einrichtungen unter elenden, zum Teil als menschenunwürdig zu bezeichnenden Umständen leben müssen. Die wichtigste Forderung der Sachverständigenkommission war die nach „Sofortmaßnahmen zur Befriedigung humaner Grundbedürfnisse“. Darüber hinaus äußerte die Sachverständigenkommission die Auffassung: „Die psychiatrische Krankenversorgung ist grundsätzlich ein Teil der allgemeinen Medizin. Demgemäß muß das System der psychiatrischen Versorgung in das bestehende System der allgemeinen Gesundheitsvorsorge und -fürsorge integriert werden. Dem seelisch Kranken muß prinzipiell mit dem gleichen Wege wie dem körperlich Kranken optimale Hilfe unter Anwendung aller Möglichkeiten ärztlichen, psychologischen und sozialen Wissens gewährleistet werden.“[119]
Der Endbericht der Psychiatriekommission wurde 1975 unter dem Titel „Leitlinien einer umfassenden und bedarfsgerechten psychiatrischen Versorgung“ veröffentlicht. Zentrale Forderungen waren:
„die radikale Verkleinerung der Anstalten
der Aufbau psychiatrischer Abteilungen an allgemeinen Krankenhäusern
der Ausbau teilstationärer und ambulanter Dienste
die rechtliche Gleichstellung psychisch Kranker mitkörperlich Kranken
die Herstellung von Gemeindenähe in der Versorgung.“[120]
Die sukzessive Realisierung dieser Forderungen führte in den folgenden Jahren zum „Wandel von der kustodialen zur therapeutischen Psychiatrie“[121].
Das bio- psycho- soziale Krankheitsmodell sieht Krankheit immer als multifaktoriell bedingt und beeinflußt und zwar durch biologische, psychische und soziale Umstände. Beispielhaft ist hier das „Vulnerabilitäts- Stress- Modell“ oder auch „Diathese- Stress- Modell“[122]. Unter anderen erklärte der Amerikaner Zubin mit diesem Konzept die Entstehung der Schizophrenie aus einem Zusammenwirken von biologischen, psychologischen und in der Umwelt bedingten Faktoren. Fortan wurden psychiatrische Symptome nicht länger ausschließlich als Störung oder Defizit bezüglich der seelischen Gesundheit, sondern auch als Reaktion der Psyche im Sinne eines protektiven Problemlöseverhaltens verstanden[123]. Das Rahmenkonzept der „Salutogenese“ (Aaron Antonovsky)[124] erweiterte den Blick von einer vornehmlich defizitären Sichtweise auf jene Einflußfaktoren, die zur Erhaltung und Förderung von Gesundheit beitragen. Auf der Grundlage dieses Krankheitsverständnisses ist jede Therapie als multiprofessionelles und multimodales Reagieren zu gestalten. In der Psychiatrie führte dies zur Anwendung mehrdimensionaler und integrativer Konzepte, welche im Anschluß an die Psychiatrie- Enquête bis heute weiter ausgestaltet werden. Die „operationale psychodynamische Diagnostik“[125] wurde ausdifferenziert als ein Diagnosesystem, welches „medizinische Diagnosen, Behinderungen und psychosoziale Belastungen bei der Fallbeurteilung (Anm. d. Verf.) mit einbezieht...störungsspezifische Behandlungsleitlinien integrieren nun sozio- und psychotherapeutische Verfahren“[126]. In den Kliniken wurden laut Brückner vor allem verhaltentherapeutische Ansätze (Psychoedukation; Kognitive Umstrukturierung) angewandt, während der ambulante Bereich zunächst von tiefenpsychologischen Methoden dominiert wurde[127]. Die kombinierten Behandlungsansätze aus Pharmako- Psycho- und Soziotherapie sind den individuellen Bedürfnissen des Menschen angemessener und konnten die Effektivität psychiatrischer Behandlung steigern. An den Institutsambulanzen (PIA)[128] der psychiatrischen Kliniken wird eine umfassendere Versorgung und Nachsorge komplementär zur stationären Behandlung als ambulante Krankenhausleistung garantiert.
Die außerklinische Versorgung psychisch Kranker ist mittlerweile ausdifferenziert und es besteht ein pluralistisches Angebot an Betreuungsformen[129]. Psychisch Kranke werden teils durch aufsuchende Dienste (ambulante psychiatrische Pflege durch Psychiatrie- Fachpfleger)[130] in ihrem familiären Wohnumfeld betreut. Weitere ambulante Hilfeleistungen zur Vermeidung von Krankenhausbehandlung oder zur Wiedereingliederung in Arbeits- und Gesellschaftsleben werden durch die Tageskliniken und Tagesstätten in privater und öffentlicher Trägerschaft angeboten. Ist ein selbstständiges Bewältigen des Alltags...