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Freundschaft in finsteren Zeiten

Die Lessing-Rede mit Erinnerungen von Richard Bernstein, Mary McCarthy, Alfred Kazin und Jerome Kohn

AutorHannah Arendt
VerlagMatthes & Seitz Berlin Verlag
Erscheinungsjahr2018
Seitenanzahl142 Seiten
ISBN9783957576569
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis7,99 EUR
Die politische Dimension der Freundschaft entfaltet Hannah Arendt in ihren klassisch gewordenen 'Gedanken zu Lessing', die das gemeinsame Interesse an der Welt betonen. Denn die geschlossene Welt der 'Brüderlichkeit', in die 'Erniedrigte und Beleidigte' sich ehemals zurückziehen konnten, ist in 'finsteren Zeiten' zerstört worden, der Rückzug ins Private gescheitert und das Vergangene nicht zu bewältigen. Hannah Arendt setzt diesen verlorengegangenen Möglichkeiten eine Vision der Freundschaft entgegen, deren politische Leidenschaft vom gemeinsamen Interesse für die Welt lebt. Ihre ebenso polemische wie tröstende Auffassung des Miteinanders erhält im Licht der gegenwärtigen Polarisierung der Gesellschaft und politisch-gesellschaftlicher Krisen neue Bedeutung und Kraft.

Hannah Arendt, 1906 in Hannover geboren, studierte Philosophie, Theologie und Griechisch unter anderem bei Heidegger, Bultmann und Jaspers, bei dem sie 1928 promovierte. 1933 emigrierte sie nach Paris, 1941 nach New York. Von 1946 bis 1948 war sie als Lektorin, danach als freie Schriftstellerin tätig. Sie war Professorin für Politische Theorie in Chicago und lehrte ab 1967 an der New School for Social Research in New York, wo sie 1975 starb.

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Leseprobe

Matthias Bormuth

Im Spiegel Lessings oder Eine Republik der Freunde


Einleitung


Ich habe nichts getan
ich wollte einfach verstehen

Zbigniew Herbert

I

»Mit großer Freude lesen wir eben, liebe Hannah, von der Verleihung des Lessing-Preises an Sie.« So telegrafiert Karl Jaspers Ende Januar 1959 nach New York. Hannah Arendt antwortet ihrem Heidelberger Lehrer dankbar und salopp: »Ja, ein Lessingpreis […]. Überhaupt haben Sie mir den natürlich eingebrockt: die Vorrede zu der ›Totalen Herrschaft‹ und dann die Paulskirche.« Was verbirgt sich hinter diesen Andeutungen?

Wenige Monate zuvor war Arendt einer größeren Öffentlichkeit in Deutschland mit der Laudatio bekannt geworden, die sie zur Verleihung des renommierten Friedenspreises des deutschen Buchhandels an Jaspers gehalten hatte. In Frankfurt sprach sie vom »Wagnis der Öffentlichkeit«, das der politische Philosoph nach 1945 eingegangen war, um die kantische Idee der Freiheit gegenüber totalitären Gefahren zu verteidigen. Ihr erstes Buch The Origins of Totalitarianism stand in dieser Tradition. Schon die amerikanische Ausgabe von 1951 war eingeleitet von Jaspers’ zeitpolitisch-philosophischem Appell: »Weder dem Vergangenen anheimfallen noch dem Zukünftigen. Es kommt darauf an, ganz gegenwärtig zu sein.« Für die deutsche Ausgabe war auch seine Vorrede eine wichtige Markierung. Jaspers schloss darin: »Die Denkungsart dieses Buches aber ist deutscher und universaler Herkunft, geschult an Kant, Hegel, Marx und an deutscher Geistes wissenschaft, dann wesentlich an Montesquieu und Tocqueville.« Arendt gehörte mit der großen Resonanz, die Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft auslöste, auch im deutschen Sprachraum zu den westlichen Denkern, die als liberale Aufklärer gegen die totalitären Mächte der Freiheit des Einzelnen und der Völker das Wort sprachen.

Ihr eigener Essay »Bürger der Welt«, geschrieben zu dieser Zeit für den Jaspers-Band der Library of Living Philosophers, spiegelte das ihnen gemeinsame Selbstverständnis nochmals genauer in Kants Idee des Weltbürgertums: »Eine Philosophie der Menschheit unterscheidet sich von einer Philosophie des Menschen dadurch, daß sie darauf besteht, daß nicht der Mensch, im einsamen Dialog zu sich selbst redend, die Erde bevölkert, sondern die Menschen, die miteinander reden und sich verständigen.« Arendt erinnerte zudem an Jaspers’ Idee der Achsenzeit und ihre prophetischen Gestalten: »Überall treten große Persönlichkeiten auf, die sich nicht länger auffassen […] als bloße Mitglieder bestimmter sozialer Gebilde, sondern die sich selber als Individuen begreifen und neue individuelle Lebensweisen entwerfen […].«

Gegen diesen aufklärerischen Individualismus setzte sie in kritischer Abstufung Hegels gedanklich beeindruckende Philosophie der Geschichte, deren Stichwort der »Schlachtbank der Geschichte« in den Budapester Ereignissen kurz zuvor grausame Realität geworden war. Ihr Traktat Die ungarische Revolution skizzierte entsprechend den sowjetischen Terror und pries den »Drang nach Gedankenfreiheit«, den die Bürgerräte dagegen in einer auseinanderfallenden Welt der Unterdrückung entwickelt hatten, auch wenn sie zuletzt unterlegen waren. Dem Geist solcher auf Freiheit bedachter Foren selbstverantwortlicher Bürger gehörte Arendts ganze Leidenschaft: »Was die Revolution vorwärtstrieb, war nichts als die elementare Kraft, entsprungen aus dem Zusammenhandeln eines ganzes Volkes […]. Die russischen Truppen sollten sofort das Land verlassen und freie Wahlen sollten stattfinden, um die neue Regierung zu bilden. Hier ging es […] einzig darum, eine Freiheit, die bereits eine vollendete Tatsache war, zu stabilisieren und die für sie geeigneten politischen Institutionen zu finden.«

Es wundert kaum, dass vor diesem Hintergrund und dem medienwirksamen Auftritt in der Paulskirche die Hamburger Bürgerschaft die Gelegenheit nutzte, um Arendt in der heißen Phase des Kalten Krieges im Namen Lessings ehren zu wollen: »Ihre Arbeiten auf dem Gebiete der politischen Theorie und Wissenschaft sind wesentliche Beiträge zur Erhellung und Deutung der das moderne Leben bestimmenden geistigen und politischen Mächte. Ihr streitbares Bemühen, die Wechselwirkungen von Kultur und Politik darzustellen, hat die zeitgeschichtliche Erkenntnis in hervorragender Weise gefördert. Ihre Untersuchungen weisen nach Form und Methode über den wissenschaftlichen Bereich hinaus und sind in ihrer sprachlichen Durchbildung schriftstellerische Leistungen von hohem künstlerischem Rang.« Der Senator beschloss seine Rede entsprechend mit dem Satz: »›Lessinghafter‹ als Sie hat sich bestimmt kaum einer verhalten, um in unsere wirren Zeitläufte das Licht einer geistigen Ordnung zu tragen.«

Im Sommer 1960 gab der Hamburger Senat seine Broschüre zur Preisverleihung heraus, im Herbst des Jahres folgte Piper als kommender Hausverlag mit seiner Ausgabe. Arendt selbst stellte ihre »Gedanken zu Lessing« 1968 an den Anfang ihrer Essaysammlung Men in Dark Times. Die deutsche Ausgabe Menschen in finsteren Zeiten erschien erst rund zwei Jahrzehnte später, nicht zufällig im Umbruchjahr 1989. Nun war zeitgemäß geworden, was Arendt als Glauben an die Ausstrahlung einzelner Individuen zum Ärger der europäischen Linken emphatisch beschrieben hatte, stand es doch gegen ihre von Marx inspirierten Geschichtskonstruktionen: »Die Überzeugung, daß wir selbst dann, wenn die Zeiten am dunkelsten sind, das Recht haben, auf etwas Erhellung zu hoffen, und daß solche Erhellung weniger von Theorien und Begriffen als von jenem unsicheren, flackernden und oft schwachen Licht ausgehen könnte, welches einige Männer und Frauen unter beinahe allen Umständen in ihrem Leben und ihren Werken anzünden und über der ihnen auf der Erde gegebenen Lebenszeit leuchten lassen […].«

Die Hamburger Rede spricht moralisch deutlich von »Fragen der richtigen Haltung in ›finsteren Zeiten‹«, die »natürlich der Generation und Menschengruppe, der ich angehöre, besonders vertraut« seien. Neben Jaspers, der als Arendts Lehrer und väterlicher Freund die deutsche Universitätswelt repräsentierte, stand Kurt Blumenfeld, seit den Jahren der Weimarer Republik ebenfalls väterlicher Freund, für ihren anderen Ursprung: das deutsch-jüdische Bildungsbürgertum in seiner Problematik. Der führende Politiker des Zionismus blieb Arendt über die Jahre des Exils verbunden, auch in gemeinsamen New Yorker Zeiten während des Krieges. Als Blumenfeld die Rede in Israel las, wo er für den jungen Staat noch aktiv war, zeigte er sich begeistert vom spürbaren »Eros der Freundschaft« und schloss: »Deine Arbeit geht bis an die äußerste Grenze.« Arendt antwortete: »Gut, daß Dir die Lessing-Rede gefällt. Als ich sie schrieb und später, als ich sie hielt, hast Du mir immer vor Augen gestanden. Es war mir klar, daß nicht die ›Kenner‹, von denen wir ja beide nicht sehr viel halten, sondern Du verstehen wirst, what I am talking about.«

Aber unabhängig von den väterlichen Freunden sind es vor allem die amerikanischen Jahre, die mit den dort gewachsenen Freundschaften Arendts Blick auf Lessing prägten. So wie ihr literarischer Heros Franz Kafka in Amerika die Statue of Liberty programmatisch auftreten lässt, wurde Arendt die politische Idee und Realität der Vereinigten Staaten, deren Bürgerin sie einige Jahre nach Ende des Krieges geworden war, immer wichtiger. In Vorlesungen an der Princeton University pries Arendt vor allem die Traditionen lokaler Gremien freier Bürger, die die Gründerväter etabliert hatten. In Über die Revolution verdichtete sie ihre Begeisterung, die sie mit den europäischen Ereignissen des Jahres 1956 verknüpfte. Jaspers, dem sie das Buch gewidmet hatte, schrieb an sie: »Deine Einsicht in das Wesen politischer Freiheit. […] Dein Vergleich und Deine Identifizierung des Sinnes der ›Räte‹, der ›kleinen Republiken‹, des Anfangs und der Wahrheit aller Revolutionen seit der amerikanischen, waren mir aus Deiner Ungarn-Schrift bekannt. Bei ihr zögerte ich noch, jetzt bin ich von dem Sinn-Parallelismus überzeugt und von der Chance, die, obgleich bisher immer verloren, Du darin siehst […].«

Die Gruppe der New York Intellectuals, in die sie nach Origins of Totalitarianism aufgestiegen war, entsprach, zumal bei deren vorwiegend jüdischer Herkunft, ungefähr dem, was Arendt rückblickend für Rosa Luxemburg als »Gruppe der Ebenbürtigen« beschrieben hatte. Es waren agile Intellektuelle, mit wachem kulturell-politischen Sinn, die im Umkreis der großen New Yorker Universitäten und Zeitschriften agierten. Vielfach hatten sie ursprünglich einen marxistischen Hintergrund, den Arendt schon im Pariser Exil mit linksliberalen und marxistischen...

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