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Fritz Bauer

oder Auschwitz vor Gericht

AutorRonen Steinke
VerlagPiper Verlag
Erscheinungsjahr2013
Seitenanzahl352 Seiten
ISBN9783492963725
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis11,99 EUR
1963 dringt das Wort »Auschwitz« mit Wucht in deutsche Wohnzimmer. Gegen 22 ehemalige NS-Schergen wird Anklage erhoben, in Frankfurt beginnt ein Mammutprozess. Ein Mann hat diesen Prozess fast im Alleingang auf den Weg gebracht: Fritz Bauer, Generalstaatsanwalt in Hessen. Ein Sozialdemokrat jüdischer Herkunft, der 1936 gerade noch hatte fliehen können. Er ist es, der die deutsche Nachkriegsgesellschaft zum Sprechen bringt und Adolf Eichmann vor ein israelisches Gericht. Im restaurativen Klima der Adenauer Zeit wird der Jurist damit zur Reizfigur, der seine Zunft erzürnt und von allen Seiten angefeindet wird: »Wenn ich mein Büro verlasse, betrete ich feindliches Ausland«, so beschreibt er seine Lage. Ronen Steinke erzählt das Leben des Mannes, der mit seiner Courage ein ganzes Land veränderte.

Ronen Steinke, Dr. jur., geboren 1983 in Erlangen, arbeitet als Redakteur bei der Süddeutschen Zeitung. Er studierte Jura und Kriminologie, arbeitete in Anwaltskanzleien, einem Jugendgefängnis und beim UN-Jugoslawientribunal in Den Haag. Seine Promotion über die Entwicklung der Kriegsverbrechertribunale von Nürnberg bis Den Haag wurde von der FAZ als »Meisterstück« gelobt. Seine 2013 veröffentlichte Biografie über Fritz Bauer, den mutigen Ermittler und Ankläger der Frankfurter Auschwitz-Prozesse, wurde mit »Der Staat gegen Fritz Bauer« preisgekrönt verfilmt und in zahlreiche Sprachen übersetzt. Im Berlin Verlag erschien 2017 sein hochgelobtes Buch »Der Muslim und die Jüdin. Die Geschichte einer Rettung in Berlin«. 2020 folgte »Terror gegen Juden. Wie antisemitische Gewalt erstarkt und der Staat versagt« und 2022 der Bestseller »Vor dem Gesetz sind nicht alle gleich. Die neue Klassenjustiz«.

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Leseprobe

2


Ein jüdisches Leben:
Worüber der umstrittenste Jurist der Nachkriegszeit nie spricht


Ein Feuerkopf verstummt: Dr. Bauers gesammeltes Schweigen


Frage an Fritz Bauer, den Mann, der die Deutschen mit Auschwitz konfrontiert hat: »Haben Sie als Kind oder als junger Mann unter Antisemitismus zu leiden gehabt?« Die Frage hängt für einen kurzen Moment in der Luft, bevor die vielen Fernsehzuschauer Bauers freundlichen, schwäbisch gefärbten Bass mit der Antwort hören. Es ist eine unschuldige Frage. Aber eine gefährliche.

Um eine Gruppe von Cordsesseln in Bauers Frankfurter Büro sind Lampen aufgebaut, die den Moment ausleuchten. Es ist August 1967, man sitzt neben einem dunklen, wilden Gemälde des Frankfurter Expressionisten Siegfried Reich an der Stolpe. Fritz Bauer, weißes, flammendes Haar und Hornbrille, fläzt etwas verdreht im Sessel, was ein Hosenbein hochrutschen und eine helle Socke und etwas Männerbein aufblitzen lässt, und natürlich raucht er, was bei nachdenklichen Gesprächen dieser Art das Genussmittel der Wahl ist, eine kleine Zigarre. Er muss dem deutschen Fernsehpublikum nicht mehr vorgestellt werden. Sein Name steht stellvertretend für eine Abrechnung mit der NS-Vergangenheit in einer Schärfe, die vielen Deutschen zu weit geht. Zu dieser Zeit ist er der bekannteste und, den Drohbriefen und dem jüngst aufgedeckten Mordkomplott nach zu urteilen, auch meistgehasste Staatsanwalt des Landes. Erst im vergangenen Jahr haben zwei Rechtsextreme geplant, ihn, »den Hauptverantwortlichen für die Kriegsverbrecher-Prozesse«, gemeinsam mit Willy Brandt und dem Schriftsteller Günter Grass umzubringen. Unter anderem der Umstand, dass Bauer eine Westentaschenpistole besitzt, hat ihr Komplott verkompliziert.

Rachsüchtig nennen sie ihn. »Wenn man Sie, Herr Dr. B., einmal im Fernsehen angesehen hat, dann spürt man, daß Sie durch und durch mit grenzenlosem Haß erfüllt sind«, schreibt der Verfasser eines typischen Schmähbriefs. Ein anderer: »Haben Sie in Ihrer blinden Wut denn noch nicht verstanden, daß einem sehr großen Teil des deutschen Volkes die sogenannten Nazi-Verbrecher-Prozesse lang aus dem Hals hängen! Gehen Sie doch dorthin, wohin Sie gehören!!!« Doch die Frage, ob Bauer auch von persönlichen Motiven angetrieben wird, stellen sich nicht nur einzelne Verrückte. Deshalb ist die Antwort zu seinen persönlichen Erfahrungen mit dem Antisemitismus so heikel. Deshalb wägt er seine Worte jetzt sehr genau.

Er könnte dem Fernsehpublikum erzählen, wie er als jüdischer Student von Sportklubs und Studentenverbindungen ausgeschlossen wurde; wie er sich als 28-jähriger Amtsrichter gegen Angriffe der NS-Presse als »Jude Bauer« verteidigen musste; wie er von 1933 an nicht mehr als Jurist arbeiten durfte; wie seine Familie enteignet und zweimal in die Flucht getrieben wurde; wie ihm als Jude noch nach dem Krieg die Rückkehr in den deutschen Staatsdienst als »inopportun« erschwert wurde. Aber stattdessen erzählt er eine einzige unschuldige Episode aus der Grundschulzeit. Ein paar Mitschüler hätten ihn, den Bebrillten, in der ersten Klasse verprügelt, aus Eifersucht über ein Lob des Lehrers. Wobei im Rahmen ihrer kindlichen Beschimpfungen auch der Satz gefallen sei: »Deine Familie hat Jesus umgebracht.«

Das ist alles. Der Umstand, dass Kinder im christlichen Religionsunterricht aufschnappen, »die Juden« hätten Jesus getötet, beginnt natürlich nicht mit dem Nationalsozialismus und endet auch nicht mit ihm. Im Vergleich zu dem, was Bauer noch zu berichten hätte, ist es fast schon eine Petitesse.

Wenn es um seine persönlichen Erfahrungen als Jude geht, schweigt er lieber. Die schwedische Polizei hatte am 24. Oktober 1943 als Grund von Fritz Bauers Flucht aus seinem ersten Exilland Dänemark notiert: »Judenverfolgung«. Doch auf die Frage »Politisch, rassisch oder religiös Verfolgter« antwortet er nach 1949 stets nur ausweichend: »Politisch Verfolgter«, und als ihn 1960 der Bürgermeister seiner Heimatstadt Stuttgart bittet, einige persönliche Erinnerungen für eine geplante Ausstellung über die Verfolgung »jüdischer Mitbürger« in Stuttgart beizutragen, da lehnt Bauer sofort ohne Begründung ab und teilt noch vorsorglich mit: »Ich glaube nicht, daß ein Mitglied meiner Familie die Absicht haben dürfte, von sich zu berichten.«

Der Ablauf des TV-Interviews auf den Cordsesseln ist mit der Interviewerin abgesprochen. Nicht nur er, sondern auch sie, Renate Harpprecht, ist eine jüdische NS-Überlebende: Im Alter von 21 Jahren hatte sie bereits die Konzentrationslager Auschwitz und Bergen-Belsen durchlitten, von ihrer Befreiung durch die Briten im April 1945 ist ihr, wie sie Jahre später erzählt, noch die drückende Hitze in der Lüneburger Heide und der süßliche Gestank Tausender verwesender Leichen in Erinnerung. Bauer hat also Gelegenheit gehabt, sich seine Antwort zurechtzulegen, und weiß sich jemandem gegenüber, der seine Erlebnisse versteht. Doch vor den Fernsehkameras im August 1967 bringen beide, Harpprecht wie Bauer, nichts zur Sprache, was die enorme biografische Kluft zwischen ihnen und den meisten anderen Deutschen sichtbarer machen könnte. Vielmehr nutzt Bauer die Gelegenheit sogar, um das glatte Gegenteil zu betonen: Wenn überhaupt, dann mache ihn seine Lebensgeschichte für die Sorgen der Deutschen sogar besonders verständnisvoll. »Damals mit sechs Jahren«, so führt er seine Erzählung über die Grundschulhänselei zu Ende, »begann ich unter dem zu leiden, was man eigentlich heute Kollektivschuld nennt.« Das Wort klingt nach. Die Botschaft: Was heute so viele Deutsche von den NS-Prozessen befürchten, das lehne auch ich schon seit frühester Kindheit aus eigener leidvoller Erfahrung ab. Der Vergleich ist schrecklich schief. Doch das Signal ist stark.

Dass Fritz Bauer jüdisch ist, ist ein Thema in diesen Jahren; für anonyme Briefeschreiber und Anrufer in der Nacht, die ihm Rachsucht unterstellen, aber auch für Politiker und Journalisten. Selbst für seine Freunde wird es zu einer der ersten Eigenschaften, die ihnen später zu ihm einfallen. »Fritz Bauer war ein herrlicher Feuerkopf«, erinnert sich Bauers politischer Mitkämpfer, der zeitweilige Berliner FDP-Justizsenator Jürgen Baumann. »Ein großartiger Mann. Ein dreiviertel Jude war er, glaube ich. (Wie Baumann auf die Qualifikation »dreiviertel« kommt, ist nicht ersichtlich, da alle Großeltern Bauers jüdisch waren, R. S.) Damit ist er ein Jude. Eigentlich war er Sozialist.« Dabei bezeichnet sich Bauer auf Formularen seit 1949 als »glaubenslos«.

Als Mitte der 1960er-Jahre ein junger Freund Fritz Bauers die unschuldige Frage stellt: »Sind Sie eigentlich Jude?«, da antwortet Bauer nur kühl: »Im Sinne der Nürnberger Gesetze: Ja.« Deutlicher könnte er kaum sagen, dass er darin eine ärgerliche Fremdzuschreibung sieht. Ob er überhaupt jemals ein Verhältnis zum Judentum gehabt hat, das über das hinausgeht, was ihm der Antisemitismus aufgezwungen hat, fragt sich der junge Freund danach. Schließlich gibt es auch andere berühmte Beispiele für Deutsche, die sagen, erst Hitler habe sie zu Juden gemacht.

»Im Sinne der Nürnberger Gesetze: Ja«: Wie fremd hätten diese Worte allerdings auf Fritz Bauers Großvater gewirkt, den Mann, der die Kaiserzeit hindurch die jüdische Gemeinde in Tübingen zusammenhielt, der Gebete sang und auf seinen Knien einen aufmerksamen, einen sogar begeisterten jungen Zuhörer für seine Erzählungen aus Thora und Talmud hielt: den Enkel Fritz. Der Grund für Fritz Bauers Schweigen nach 1945 liegt jedenfalls nicht darin, dass er nichts zu erzählen hätte.

Eine Familie, die dazugehören will: Kindheit in der Kaiserzeit


Im Eckhaus der Großeltern am Ende eines gepflasterten Tübinger Sträßchens eröffnet sich für den kleinen Buben eine magische Welt. »Alles, auch alles hatte seine Reize«, erinnert er sich später. »Wie viele Geheimnisse gab es nicht in der Kronenstraße 6.« Für Fritz Max Bauer, der am 16. Juli 1903 in Stuttgart zur Welt gekommen ist, ist dieses Tübinger Eckhaus mehr noch als sein eigenes Elternhaus der Ort, an dem er all das Schöne aufsaugt, das seiner Familie etwas bedeutet. »Alles lag in einem seltsamen Zwielicht. Dabei waren es die einfachsten Dinge der Welt, häufig nur Dinge, die eine oder zwei Generationen zurücklagen.«

Hier »hat die ›Religion‹ immer ihren tieferen, inneren Sinn gewonnen«, erinnert sich Fritz Bauer in einem Brief an seine Mutter im Jahr 1938, »das Alte Testament wurde angesichts der Generationen, die bildhaft auf mich niedersahen, ja angesichts der alten Möbel, nicht zuletzt angesichts Großvaters, der namentlich in der Zeit nach dem Tod der lieben Großmutter einen alttestamentarischen Eindruck auf mich machte, ganz anders lebendig als in der Schule.« Die Regale hier stehen voller Bücher, Fotoalben und geheimnisvoller Bildbände, Blumen aus Jerusalem heißt einer. Und das Gelobte Land ist auch in Düften präsent: »Olivenblüten, Orangenblüten und was der Orient an Blumen hervorbringt, war zu Büscheln gefaßt und wie in einem Herbarium aufbewahrt«, erinnert sich Bauer. Die Ortsbezeichnungen, die der junge Fritz unter den Büscheln liest, weisen ins damalige Palästina: »Erinnerung an Samaria«, »Blüten vom Ölberg«, »Veilchen von Nazareth und Tiberias«. Die Tatsache, dass er sich noch als Erwachsener im Jahr 1938 an diese biblischen Ortsnamen erinnern kann, spricht dafür, dass sie ihm schon als Junge etwas gesagt haben.

Sobald Fritz Bauer über das Fensterbrett der Großeltern hinausragt und nach außen sehen kann, tut er es mit großen Augen. Kleine bunte Häuser drängen sich am Ufer des Neckar, wie er später schwärmt,...

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