In der Bundesrepublik Deutschland besteht ein Zusammenhang zwischen dem sozioökonomisch-soziokulturellem Status und dem schulischen Lernerfolg. Die besonders durch die Bildungspolitik der 70er Jahre des letzten Jahrhunderts appellierte Forderung nach Gleichheit der Bildungschancen, unabhängig von der sozialen Schichtzugehörigkeit, ist bis heute nicht hinreichend realisiert worden. „Trotz stetiger Erhöhung der Bildungsausgaben ist es bis heute nicht gelungen, insbesondere zugunsten von Kindern und Jugendlichen aus „nicht priviligiertem“ Elternhaus und aus „marginalisierten“ Familien die noch immer bestehende Ungleichheit der Bildungszugänge nachhaltig zu verringern oder gar zu überwinden“ (Schor 2002, S. 37). Ein Blick in die Vergangenheit lässt immerhin eine gewisse „Lockerung“ dieses Zusammenhangs erkennen. Vor allem ist „ [...] der sozial diskriminierende Effekt der Entscheidungsalternative zwischen Haupt– und Realschulbesuch zurückgegangen. Dagegen blieben die sozialen Disparitäten des Gymnasialbesuchs weitgehend stabil“ (Pisa-Konsortium 2001, S. 163; Auslassung C.K.).
Die Kohärenz zwischen sozialer Herkunft und Bildungserfolg in Deutschland wird durch die Pisa-Studien bestätigt (vgl. Pisa-Konsortium 2001 & 2004). Pisa ist die Abkürzung für „Programm for International Student Assessment“, „ [...] ein Programm zur zyklischen Erfassung basaler Kompetenzen der nachwachsenden Generation, das von der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) durchgeführt [...] wird“ (Pisa-Konsortium 2001, S. 15; Auslassung C.K.). Diese international durchgeführte Leistungsmessung erfasst die Lesekompetenz sowie die mathematische und naturwissenschaftliche Grundbildung der 15-jährigen Schülerinnen und Schüler (vgl. a.a.O., S. 15 ff.).
Zur Beschreibung des sozioökonomischen Status einer Familie werden bei Pisa zwei verschiedene Klassifikationen angewandt. Neben dem International Socio-Economic Index (ISEI) erfolgt auch die Einteilung der Herkunft der Schüler in soziale Klassen. Da letztere soziologisch betrachtet aussagekräftiger und übersichtlicher ist, soll diese in vorliegender Arbeit als Grundlage dienen (vgl. a.a.O., S. 337 f.). Nachfolgende Abbildung vermittelt einen Gesamteindruck von der Verteilung der Schüler und Schülerinnen auf die unterschiedlichen Bildungsgänge der Sekundarstufe I unter Berücksichtigung ihrer Sozialschichtzugehörigkeit.
Diagramm 1: 15-Jährige nach Sozialschichtzugehörigkeit und Bildungsgang
(a.a.O., S. 338)
Wie aus der Abbildung deutlich hervorgeht, ist ein Zusammenhang zwischen Schulart und Schichtzugehörigkeit festzustellen. Über 50 % der Kinder aus der oberen Dienstklasse besuchen ein Gymnasium, während der Anteil der Kinder aus einer ungelernten bzw. angelernten Arbeiterfamilie in dieser Schulart auf etwa 10% sinkt. Das Gegenstück hierzu stellt der Besuch der Hauptschule dar, die von knapp 10% der oberen Dienstklasse und zirka 40% der Gruppe von Kindern der un- und angelernten Arbeiter besucht wird.
Um eine differenziertere Auskunft über diese Kohärenz zu erhalten, müssen die relativen Beteiligungschancen unter Berücksichtigung der verschiedenen sozialen Schichten herangezogen werden. Folgende Tabelle gibt am Beispiel Bayern einen Überblick der Beteiligungschancen von Jugendlichen verschiedener Sozialschichtzugehörigkeit ein Gymnasium zu besuchen:
Tabelle 1: Beteiligungschancen von Jugendlichen nach Sozialschicht
(a.a.O., S. 169)
„Die Koeffizienten der Tabelle sind so genannte odds ratios, die das Verhältnis der sozialschichtabhängigen Beteiligungschancen wiedergeben“ (a.a.O., S. 167). Somit besagt ein odds ratio von 10,46 für den Gymnasiumsbesuch eines Kindes aus der oberen Dienstklasse, dass für diesen Jugendlichen die Aussicht, anstatt einer anderen Schulart ein Gymnasium zu besuchen 10,46-mal so hoch ist, wie die Chance eines Kindes mit Arbeiterfamilienherkunft (vgl. ebd.). Die relativen Beteiligungschancen weisen bundesländerspezifische Unterschiede auf. „In den neuen Ländern sind die relativen Chancen eines Gymnasialbesuchs deutlich weniger sozialschichtabhängig. Am ausgeprägtesten ist das soziale Gefälle der Bildungsbeteiligung in den Ländern Bayern, Rheinland-Pfalz und Schleswig-Holstein“ (a.a.O., S. 170).
Bei der Analyse der sozialen Disparitäten ist es jedoch sinnvoll, zwischen primären und sekundären Ungleichheiten zu unterscheiden. Unter primären Disparitäten werden Unterschiede in den Kompetenzen der Schülerinnen und Schüler, die erforderlich sind, um an Bildungsangeboten teilzuhaben, verstanden. Allerdings wird die Entwicklung der potentiellen Fähigkeiten und Kompetenzen vom Elternhaus, d.h. von der sozialen Lage, beeinflusst. Sekundäre Ungleichheiten stellen soziale Disparitäten dar, die trotz gleicher Kompetenzen auftreten. Somit nimmt die soziale Herkunft Einfluss darauf, welche Schulart besucht wird (vgl. Pisa-Konsortium 2004, S. 245 f.). „Solche Unterschiede sind in Deutschland ebenfalls zu beobachten und hängen mit dem elterlichen Entscheidungsverhalten beim Schulwechsel in die Sekundarstufe I sowie dem Empfehlungsverhalten von Lehrkräften zusammen“ (ebd.).
Bei der Analyse der relativen Beteiligungschancen werden primäre und sekundäre Disparitäten gemeinsam betrachtet. „Berücksichtigt man allein die sekundären Ungleichheiten –also die sozialen Disparitäten im engeren Sinn-, so verringert sich die Sozialschichtabhängigkeit der Bildungsbeteiligung erwartungsgemäß erheblich; ebenso schrumpfen die Länderunterschiede“ (Pisa-Konsortium 2001, S. 170). Ausnahmen stellen die Bundesländer Bayern, Rheinland-Pfalz, Schleswig-Holstein und Niedersachsen dar (vgl. ebd.).
Auch die Bundesregierung betont in ihrem 2. Armuts- und Reichtumsbericht den Zusammenhang zwischen dem sozioökonomisch-soziokulturellen Status und dem schulischen Lernerfolg. Daraus folgert sie die Notwendigkeit des schnellen Ausbaus einer geeigneten Betreuungs- und Bildungsinfrastruktur. „Da Lernfähigkeit und -bereitschaft von Kindern mit den wirtschaftlichen und sozialen Verhältnissen zusammenhängen, in denen sie aufwachsen, sind Maßnahmen zugunsten der kindlichen Entwicklung soziale Investitionen, die den Bildungsinvestitionen im eigentlichen Sinn gleichrangig zur Seite stehen“ (2. Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung 2005, S. XXXIII). Mit ihrem Investitionsprogramm „Zukunft Bildung und Betreuung“ unterstützt sie, bis zum Jahr 2007, unter anderem den Auf- und Ausbau von Ganztagsschulen. „Diese und weitere Maßnahmen [...] fördern vor allem die Bildung der Kinder und Jugendlichen [...] aus benachteiligten Familien [...] und erhöhen ihre zukünftigen Teilhabechancen“ (ebd.; Auslassung C.K.).
Ebenfalls kritisiert Vernor Muñoz, UN-Sonderberichterstatter für das Recht auf Bildung, die große Abhängigkeit des Bildungserfolgs in Deutschland von der sozialen Herkunft. Dabei bezeichnet er das bestehende dreigliedrige Schulsystem als „selektiv, diskriminierend (und) undemokratisch“ (www.spiegel.de/schulspiegel/wissen/ 0,1518,472976,00.html). In den Empfehlungen für den Besuch einer weiterführenden Schulart nach der vierten Grundschulklasse werden, so Muñoz, die Schüler nicht angemessen beurteilt. Vor allem Kinder aus sozial benachteiligten Lebensverhältnissen seien seiner Meinung nach hierbei die Leittragenden. Muñoz plädiert somit, unter anderem, für die Abschaffung des dreigliedrigen Schulsystems, für mehr individuelle Förderung des Einzelnen sowie für eine kostenlose vorschulische Bildung. Auf diese Weise würden allen Kindern vergleichbarere Chancen der Bildungsbeteiligung ermöglicht.
Ebenso verdeutlichen die Ergebnisse der Studie mit dem Namen „Lernausgangslage an Förderschulen (LAUF) von Wocken (vgl. Wocken 2000, S. 492 ff.), dass Faktoren wie:
Sozialstatus der Eltern (Schulabschluss, Ausbildung, Erwerbsstatus)
Familienstatus (Anzahl der Eltern, Anzahl der Kinder)
Kultureller Status (Bücherbesitz, wie oft wird deutsch gesprochen)
Individuallage (Fernsehkonsum, persönlicher Besitz, Freizeitverhalten)
Einfluss auf den schulischen Lernerfolg haben und somit ein Zusammenhang zwischen Bildungserfolg und sozioökonomisch-soziokulturellem Status besteht (vgl. a.a.O., S. 497 ff.). Schüler und Schülerinnen, die eine Förderschule mit dem Förderschwerpunkt Lern- und Leistungsverhalten besuchen, zeigen in den eben genannten Variablen deutliche Benachteiligung. „Diese durchgängige soziale Differenz, die keine Ausnahme kennt, verleiht den Ergebnissen eine Eindeutigkeit, die kaum mit beschönigenden Rationalisierungen zu relativieren ist (Wocken 2000, S. 499).
Die Kohärenz zwischen...