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Generation Erdo?an

Die Türkei - ein zerrissenes Land im 21. Jahrhundert

AutorCigdem Akyol
VerlagVerlag Kremayr & Scheriau
Erscheinungsjahr2015
Seitenanzahl208 Seiten
ISBN9783218009874
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis16,99 EUR
Die Bilder gingen um die Welt, der Gezi-Park wurde zum weltweiten Symbol des Aufstandes: Im Frühjahr 2013 protestierten hunderttausende Türken und Türkinnen und forderten mehr Demokratie und den Rücktritt Erdo?ans. Doch es kam anders: Im August 2014 wählten 52 Prozent Erdo?an zum Staatspräsidenten. Warum? Das Land ist gespalten: Die einen sehen in Erdo?an den 'Vater der Heimat', hoffen auf wirtschaftlichen Aufschwung und Stabilität, die anderen fürchten eine Entwicklung hin zum islamistisch-konservativen Staat. Erdo?an verfolgt seinen Kurs unerbittlich: Medien und Verwaltung werden ideologisch auf Linie gebracht, Kritiker inhaftiert, die Justiz, die politische Opposition und das einst mächtige Militär gedemütigt und ins bedeutungslose Aus abgeschoben. Cigdem Akyol schildert die politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen, die Erdo?an den Aufstieg nach ganz oben ermöglichten. Sie beschreibt seinen Werdegang, zeigt auf, wie sich die Türkei unter Erdo?an verändert hat und analysiert die Auswirkungen seines autoritären Politikstils.

Cigdem Akyol, geboren 1978, studierte Osteuropakunde und Völkerrecht an der Universität in Köln. Anschließend Ausbildung an der Berliner Journalisten-Schule. 2006 begann sie als Redakteurin bei der taz in Berlin, zunächst im Inlandsressort, später Wechsel zu den Gesellschaftsseiten. Nach Aufenthalten im Nahen Osten, in Zentralafrika, China und Südostasien ging sie 2014 als Korrespondentin nach Istanbul. Sie schreibt u.a. für den Standard, die Presse, die NZZ, die WOZ, die Zeit online und die FAZ.

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Leseprobe

Die politische Entwicklung der Türkei
seit Gründung der Republik 1923


Immer am 10. November steht die Türkei für kurze Zeit still. An diesem Tag, morgens um 09:05 Uhr, hält der Verkehr an – auch auf den Autobahnen. Alle Radio- und Fernsehsender unterbrechen ihr Programm, die Menschen bleiben stehen, im ganzen Land heulen Sirenen, die Türken gedenken ihres Staatsgründers Mustafa Kemal Atatürk, der an diesem Tag im Jahr 1938 zu dieser Uhrzeit starb. Auch fast 80 Jahre nach seinem Tod ist der Kult um Atatürk ungebrochen. Sein Porträt hängt in Teestuben, ziert Geldscheine, in jeder Behörde wacht er mit strengem Blick, überlebensgroße Denkmäler und riesige Flaggen mit seinem Bild sind überall präsent. Schon Grundschüler verkünden strammstehend ihre Liebe zu Atatürk. Jugendliche lassen sich seine Unterschrift eintätowieren, ihn zu beschimpfen ist strafbar.

Der Schöpfer der modernen Republik Türkei übernahm mit seiner 1923 gegründeten „Republikanischen Volkspartei“ (türkisch „Cumhuriyet Halk Partisi“, CHP) das Erbe der Jungtürken. Der Erste Weltkrieg war 1918 mit erheblichen Gebietsverlusten verloren worden, die Siegermächte besetzten einen Teil der Großmacht – das Osmanische Reich hörte nach über 600 Jahren auf zu bestehen. Der Traum von einem großtürkischen Reich, das alle turksprachigen Völker Asiens umfasste, war geplatzt. Wenigstens der Befreiungskrieg wurde 1923 nach vier Jahren gewonnen. Unter Führung des Generals Mustafa Kemal (den Beinamen Atatürk erhielt er später) konnte die griechische Armee besiegt werden, und die einstigen Siegermächte wurden zur Revision des Vertrags von Sèvres gezwungen, in welchem von den Alliierten 1920 die Aufteilungspläne der Türkei festgehalten worden waren.

Die türkische Republik


Im Juli 1923 wurde im Vertrag von Lausanne die Türkei in ihren heutigen Grenzen festgelegt, der Staat bekam seine volle, anerkannte Unabhängigkeit – und in bewusster Abgrenzung von der osmanischen Hauptstadt Istanbul wurde Ankara zur Hauptstadt erklärt. Aus den Resten des einst riesigen Imperiums wurde am 29. Oktober die „Türkische Republik“, die „Türkiye Cumhuriyeti“ ausgerufen und Kemal zum Staatspräsidenten ernannt. Mit 42 Jahren bildete der Militärstratege nun das Zentrum der Macht, der Ministerpräsident Ismet Inönü war lediglich sein exekutiver Arm.

Damit war die Türkei das erste islamische Land, welches die Staatsform der Republik annahm. Mit einer Fläche von 784.000 km² ist das Land größer als Deutschland (357.000 km²) und Österreich (84.000 km²) zusammen. Etwa 14 Millionen Einwohner hatte die Republik bei ihrer Gründung – heute leben allein in Istanbul fast 15 Millionen Menschen.

Der Vertrag von Lausanne enthielt einen Passus über den Bevölkerungsaustausch zwischen Griechenland und der Türkei. So mussten etwa eine halbe Million Türken griechisches Territorium verlassen, im Gegenzug wurden etwa eineinhalb Millionen Griechen gezwungen, aus der türkischen Ägäis und aus Anatolien in Richtung Griechenland umzusiedeln.

Am 20. April 1924 wurde die erste Verfassung der Republik verabschiedet. Seine Vorstellung von einem Nationalstaat prägte Kemal mit dem Ausspruch: „Wie glücklich derjenige, der sagt: Ich bin Türke!“ (türkisch „Ne mutlu Türküm diyene!“) Der Spruch hat bis heute Kultcharakter, ist auf riesigen Plakaten in der Öffentlichkeit zu sehen.

In einer unvergleichlich hastigen Kulturrevolution zwang Kemal der Gesellschaft seine eigene Vorstellung des Fortschritts auf. Er wollte das Land weg vom Orientalismus und nach Europa hinführen, nach dem Vorbild der französischen Aufklärung mit ihrem radikalen Antiklerikalismus. Religion wurde zu einer Privatsache erklärt.

Der Westen, gegen den im Befreiungskrieg noch gekämpft wurde, galt nun in Teilen als gesellschaftliches Ideal. Es war ein radikaler Bruch mit der Vergangenheit. Trauer um das alte Reich war nicht gestattet, Nationalismus und Patriotismus waren angesagt. Was anderswo Jahrzehnte dauert, wurde in der Türkei innerhalb von wenigen Jahren durchgesetzt. „Wir müssen unnachgiebig an unserer Aufgabe festhalten. Wir werden unser Reformprogramm durchsetzen“, bestimmte Kemal.

Der Reformer Kemal Atatürk


Um nur die prominentesten Reformen unter Kemal zu nennen: Mit der Abschaffung der politisch-weltlichen Macht des Sultanats 1922 und der geistlichen Autorität des Kalifats 1924 wurden die starken Symbole der Vergangenheit beseitigt. Justizminister Seyit Bey begründete diese Entscheidung mit den Worten „Im Islam gibt es keine Geistlichkeit und keine Religionsverwaltung“. Der letzte osmanische Kalif, Abdülmecit II., verließ das Land. Denn „das Kalifat ist ein Märchen der Vergangenheit, das in unserer Zeit keinen Platz mehr hat. Religion und Staat müssen getrennt werden“, sagte Kemal. An dessen Stelle wurde das Präsidium für Religionsangelegenheiten, die „Diyanet“ gegründet. Dieses unterstand direkt dem Ministerpräsidenten und ist bis heute zuständig für Fragen des Glaubens, die Verwaltung der Gebetsstätten und für die religiöse Aufklärung. Die „Diyanet“ sorgt für Imame im In- und Ausland. Religiöse Gerichte wurden abgeschafft.

Im Jahre 1925 wurde das Hutgesetz verabschiedet, das das Tragen des Fes verbot und nur noch Hüte nach europäischem Vorbild erlaubte. „Es war notwendig, den Fes abzuschaffen, der auf den Köpfen unserer Nation als ein Zeichen von Ignoranz, Nachlässigkeit, Fanatismus und Hass auf Fortschritt und Zivilisation saß“, begründete Kemal die Vorschrift, dabei hatte er selbst einst einen Fes getragen. Wer sich nicht an das Verbot hielt, dem drohten Haftstrafen. Weil sich einige Widerspenstige weigerten, ihren Fes abzunehmen, wurden sie hingerichtet. Für Frauen gab es keine Kleidervorschriften, das Kopftuchverbot in öffentlichen Einrichtungen wurde erst 1980 durch die Militärs eingeführt.

Der muslimische Kalender wurde durch den gregorianischen Kalender ersetzt, neuer wöchentlicher Ruhetag war fortan der Sonntag. Nach europäischem Vorbild wurden 1926 das Straf- und Zivilrecht geändert, die Zivilehe eingeführt, ein gleichberechtigteres Scheidungsrecht trat in Kraft. Noch kurz zuvor, im August 1925, hatte sich Kemal nach nur zweieinhalb Jahren Ehe von seiner Frau Latife Uşşaki nach islamischem Recht getrennt – er löste die Partnerschaft einseitig auf. Latifes Bruder Münci sagte über die Scheidung, Kemal sei ein Macho gewesen: „Meine Schwester war eine großartige Frau. Aber den Gazi [ein Ehrentitel Kemals] hat sie behandelt, wie man irgendeinen gewöhnlichen Mann behandelt.“ Dies habe das Staatsoberhaupt nicht verkraften können.

Der Islam als Staatsreligion wurde 1928 abgeschafft, und keine Regierung hat diese Entscheidung bisher zurückgenommen. Das arabische Alphabet wurde durch das lateinische ersetzt, Bücher mussten neu geschrieben werden. Das Land wurde laizistisch, Religion und Staat getrennt. „Unsere Inspiration beziehen wir nicht aus dem Himmel […], sondern aus dem Leben“, bestimmte der Staatspräsident. Die Gesellschaft war fortan gespalten in „weiße Türken“– die Kemalisten, die säkulare Mittel- und Oberschicht – und „schwarze Türken“, die anatolische Peripherie. Eine Spaltung, von der Erdoğan später profitieren sollte.

Weil es eines ideologischen Überbaus bedurfte, formulierte Kemal 1931 sechs Prinzipien, die als politische Leitlinie galten: Nationalismus, Laizismus (das heißt Säkularismus), Etatismus, Reformismus, Republikanismus und Populismus wurden allesamt Bestandteile der Verfassung. Diese Prinzipien, symbolisch durch sechs weiße Pfeile dargestellt, sind bis heute das Parteiemblem der CHP. Sogenannte Volkshäuser sollten nur gute, politische Nachrichten unter dem Volk verbreiten.

Im Jahr 1934 verbot die Regierung Zivilisten das Tragen religiöser Gewänder, Frauen erhielten das aktive und passive Wahlrecht, die Vorschrift, einen Nachnamen zu tragen, wurde eingeführt und die Pilgerfahrt nach Mekka verboten. Mustafa Kemal bekam den Ehrennamen Atatürk („Vater der Türken“), den bis heute niemand sonst führen darf. 1937 wurde der Kemalismus, auf Türkisch „Kemalizm“ oder „Atatürkçülük“, in der Verfassung verankert. „Wir müssen uns von der östlichen Zivilisation abwenden und der westlichen zuwenden“, lautet eine Atatürk-Überlieferung. Eine weitere: „Ich bin die Türkei. Mich vernichten wollen bedeutet: die Türkei selbst vernichten wollen.“ Der Kemalismus – wie die politische Ideologie Atatürks genannt wird – bestimmt heute noch das politische, kulturelle und religiöse Leben in der Türkei.

Ein generelles Parteienverbot sicherte Kemal die alleinige Herrschaft – so konnte rücksichtslos regiert werden. Zwar wurde 1930 eine Oppositionspartei genehmigt. Aber die „Freie Republikanische Partei“ (türkisch „Serbest Cumhûriyet Fırkası“, SCF) hatte so großen Zulauf, dass sie schon nach drei Monaten wieder verboten wurde. Widerstand gegen den Übervater wurde nicht geduldet. Als 1926 der Plan eines Attentats gegen Kemal aufflog, entledigte er sich mit einem Rundumschlag seiner Kritiker und ließ sie hinrichten. „Ich habe das Land erobert. Ich habe die Macht erobert. Warum darf ich nicht auch mein Volk erobern?“, sagte er am Tag der Vollstreckung der Todesurteile.

Am 10. November 1938 morgens um 09:05 Uhr starb Atatürk im Dolmabahçe-Palast in Istanbul an einer Zirrhose, angeblich wegen seines zu hohen Rakikonsums. Die in allen Zeitungen gedruckte Regierungsmeldung lautete: „Durch dieses schmerzliche Ereignis hat das türkische Vaterland seinen großen Schöpfer, die türkische Nation ihr überragendes Haupt, die Menschheit ihren großen Sohn...

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