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Geniale Störung

Die geheime Geschichte des Autismus und warum wir Menschen brauchen, die anders denken

AutorSteve Silberman
VerlagDUMONT Buchverlag
Erscheinungsjahr2016
Seitenanzahl608 Seiten
ISBN9783832189259
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis11,99 EUR
»Faszinierend zu lesen - ein Buch für jeden, der sich für Autismus und das menschliche Gehirns interessiert.« Oliver Sacks Was ist Autismus? Eine verheerende Entwicklungsstörung, eine lebenslange Behinderung? Oder aber eine ganz normale kognitive Eigenheit, verwandt mit Formen des Genies? In Wahrheit ist Autismus das alles und noch mehr. In einer einzigartigen Mischung aus Historie, Reportage und wissenschaftlicher Studie kommt Steve Silberman in seinem bahnbrechenden Buch dieser bis heute mysteriösen neuronalen Besonderheit auf die Spur. Er hat jahrelang die geheime Geschichte des Autismus recherchiert. Zudem findet er überraschende Antworten auf die Frage, warum die Zahl der Diagnosen in den letzten Jahren gestiegen ist. Dabei nimmt Silberman den Leser mit auf eine Kreuzfahrt nach Alaska - an Bord die führenden Programmierer des Silicon Valley. Oder auch ins London des 18. Jahrhunderts, wo der exzentrische Henry Cavendish das ohmsche Gesetz entdeckte - aber niemandem davon erzählte. Und wir hören die Geschichte von Hans Asperger, der seine kleinen Patienten vor den Nazis zu beschützen versuchte. Am Ende aber zeigt uns Steve Silberman in seinem wunderbar erzählten, empathischen Buch, dass wir Autisten und ihre Art zu denken brauchen.

Steve Silberman arbeitet seit mehr als 20 Jahren als Wissenschafts- und Kulturjournalist, u. a. für Wired, The New Yorker und Time Magazine. Er lebt in San Francisco. 2015 wurde sein Buch >Geniale Störung< mit dem renommierten Samuel-Johnson-Preis ausgezeichnet. HARALD STADLER promovierte auf dem Gebiet der Medienwissenschaften. Er hat viele Sachbücher übersetzt, für DuMont 2015 >Kluge Gefühle< von Eyal Winter und 2016 >Der Narzissten-Test< von Craig Malkin. BARBARA SCHADEN übertrug u. a. Bücher von Margaret Atwood, Nadine Gordimer, Kazuo Ishiguro, Siddhartha Mukherjee, Dava Sobel und Jayne Anne Phillips ins Deutsche.

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Leseprobe

EINLEITUNG

Jenseits des Geek-Syndroms

Nicht nur ein Weg führt zum Ziel.

Larry Wall

An einem strahlenden Morgen im Mai 2000 stand ich auf dem Deck eines Schiffs, das mit mehr als einhundert Computerprogrammierern an Bord zur Inside Passage von Alaska tuckerte. Die glitzernden Türme von Vancouver verschwanden hinter uns, als wir unter der Lions Gate Bridge hindurch in die Salish Sea hinausfuhren. Anlass war die erste »Geek-Kreuzfahrt« – der Versuch eines Unternehmers, statt Hightech-Konferenzen in leblosen Kongresszentren erfrischende Schifffahrten mit exotischen Zielen zu bieten. Ich buchte eine Passage an Bord der Volendam, um für das Magazin Wired über die »Jungfernfahrt« zu berichten.1

Der unangefochtene Geek-Star unter den zahllosen legendären Programmierern an Bord war Larry Wall, der Erfinder von »Perl«, einer der ersten und meistverwendeten quelloffenen Programmiersprachen der Welt. Tausende Webseiten, auf die wir täglich vertrauen – darunter die von Amazon, Craigslist und die Internet Movie Database –, würden gar nicht funktionieren ohne Perl, dem geliebten »Schweizer Armeemesser« gestresster Systemadministratoren weltweit.2

Die Programmiersprache ist in einem ungewöhnlichen und schillernden Maße Ausdruck des Geistes ihres Erfinders, eines jungenhaft wirkenden ehemaligen Linguisten mit einem Schnurrbart, der an die Zeichentrickfigur Yosemite Sam erinnert. Einzelne Abschnitte des Codes beginnen mit Epigrammen aus Larrys Lieblingsbuch, Der Herr der Ringe. Alle möglichen albernen Backronyme wurden erfunden, um den Namen »Perl« zu deuten (darunter »Pathologisch eklektischer Ramsch-Lister«), doch Larry erzählte mir, dass er ihn dem »Gleichnis der kostbaren Perle« im Matthäus-Evangelium entlehnt habe.3 Der Code sollte in seiner eigenen bescheidenen Art wie Jesus sein, erklärte er: »Frei, lebensverändernd und allgemein zugänglich.« Ein häufig verwendeter Befehl heißt bless – »segne«.

Das Geheimnis der Vielseitigkeit von Perl besteht darin, dass auch die klugen Köpfe von Larrys weit gespanntem Mitarbeiternetz darin ihren Ausdruck finden: die globale Community von Perl-Hackern. Der Code ist so angelegt, dass Programmierer dazu angeregt werden, ihren eigenen Stil zu entwickeln, und jeder ist dazu eingeladen, zu seiner Verbesserung beizutragen; das offizielle Motto dieser Community lautet: »Nicht nur ein Weg führt zum Ziel.«

So hatte Perl eine florierende digitale Meritokratie hervorgebracht, in der Ideen nicht nach persönlichem Charisma oder nach Einfluss beurteilt werden, sondern nach ihrer Brauchbarkeit und Originalität. Aufgrund dieser Werte – Flexibilität, Demokratie und Offenheit – konnte der Code omnipräsent werden; laut Perl-Hackern ist er »das Klebeband, das das Internet zusammenhält«.

Während die Volendam in offenes Wasser hinaussteuerte, sah ich voller Bewunderung zu, wie meine Reisegefährten Ethernet-Kabel, Router und anderes Vernetzungszubehör auspackten, um die Kommunikationssysteme des Schiffs hochzurüsten. Anstatt neben dem Pool auf Liegestühlen zu dösen, waren meine streberhaften Schiffskameraden eifrig dabei herauszufinden, wie alles Mögliche funktionierte und sich verbessern ließ. Bereits nach wenigen Tagen konnten sie den Kapitän überreden, sie durch den Maschinenraum zu führen.

Auf der Route zum nördlichen Polarkreis bot Larry jeden Abend einen dramatischen Auftritt, wenn er in neonfarbenem Smoking und Rüschenhemd am Arm seiner Frau, Gloria, den Speisesaal betrat. Jeden Abend trug er, dank eines Räumungsverkaufs in seiner Heimatstadt, einen Smoking in einer anderen Farbe – in einem netzhautreizenden Spektrum von Orange über Senfgelb und Limone bis Himmelblau. Larry und meine anderen Kameraden am »Tisch der Genies« widerlegten das stereotype Bild, wonach eingefleischte Programmierer langweilige und unbeholfene Gesprächspartner sind, und zeigten eine erstaunliche Gabe für Wortspiele und Witzelei. An einem Abend unterhielt sich die Runde über theoretische Physik, am nächsten Abend über die Gleittöne in der Kanton-Oper, gefolgt von Erörterungen der Frage, warum so viele Programmierer und Mathematiker zugleich auch Schachspieler und Musiker sind. Ihre unerschöpfliche Neugier verlieh diesen leicht angegrauten Genies etwas liebenswert Jugendliches. Es schien so, als hätten sie Möglichkeiten gefunden, pubertäres Streben nach obskurem Wissen in einträgliche Berufe zu verwandeln. Am Wochenende programmierten sie gleichsam zur Entspannung und lancierten so Nebenprojekte, welche die Grundlagen für neue Technologien und Start-ups bildeten.

Nach einigen Tagen an Bord hatte ich den Eindruck, dass meine Mitreisenden nicht nur eine Gruppe von IT-Experten waren, die zufällig mit denselben Instrumenten arbeiteten. Sie kamen mir eher wie ein Stamm von digital natives vor, mit einer eigenen Geschichte und Überlieferung sowie eigenen Ritualen, Werten und Spielformen. Auch wenn der zentrale Fokus in ihrem Leben die Arbeit war, die sie in Abgeschiedenheit verrichteten, so genossen sie doch sichtbar die Gesellschaft anderer, die auf der gleichen Wellenlänge funkten. Sie bildeten ein geselliges Häuflein von Leuten, die sonst nicht sonderlich umgänglich sind.

Ihre Vorgänger im Mittelalter verbrachten ihre Tage vielleicht damit, Handschriften zu kopieren, Musikinstrumente gestimmt zu halten oder unedle Metalle in Gold verwandeln zu wollen. Ihre Geistesverwandten in der Mitte des 20. Jahrhunderts richteten Teleskope auf Gestirne, bastelten sich aus Bausätzen vom Versandhaus Radios oder ließen in der Garage Laborgläser explodieren. In den letzten vierzig Jahren wanderten einige Angehörige dieses Stammes von den Rändern der Gesellschaft zum Mainstream und arbeiten derzeit für Unternehmen wie Facebook, Apple und Google. Dabei haben sie die Populärkultur nach ihrem eigenen Bild umgeformt; inzwischen gilt es als cool, auf Dinosaurier, Periodentabellen und Science-Fiction-Serien abzufahren – in jedem Alter. Aus Kids, die früher als Streber und Intelligenzbestien verspottet wurden, sind inzwischen Architekten unserer Zukunft geworden.

Als die Volendam zur Halbzeit unserer Reise in Glacier Bay ankam, trieben wir mit abgeschalteten Motoren durch eine natürliche Kathedrale aus Eis. Das Donnern von Gletschern, die ein paar Hundert Meter entfernt kalbten, hallte über das Deck. Um drei Uhr in jener Nacht senkte sich die Sonne nur knapp zum Horizont, bevor sie wieder aufstieg.

Kurz bevor wir wieder in Vancouver eintrafen, fragte ich Larry, ob ich ihn in seinem Haus im Silicon Valley noch einmal ausführlicher interviewen könnte. »Kein Problem«, erwiderte er, »aber Sie sollten wissen, meine Frau und ich haben eine autistische Tochter.« Ich nahm dies zur Kenntnis, dachte aber nicht weiter darüber nach. Alles, was ich über Autismus wusste, hatte ich aus dem Film Rain Man von 1988, in dem Dustin Hoffman einen Menschen mit dem Savant-Syndrom spielte, der ganze Telefonbücher auswendig lernte und die Anzahl von Zahnstochern auf einen Blick erfasste. Diese Figur des Raymond Babbitt war sicherlich unvergesslich, doch die Chance, im wahren Leben solch einer Person zu begegnen, schien doch eher gering. Soweit ich wusste, war Autismus eine sehr seltene und fremdartige neurologische Störung, und Savants wie Raymond waren sogar noch seltener.

Larry zeigte sich während unseres Interviews freundlich und mitteilsam. Er schilderte, wie Perl als streng geheimes Projekt bei der National Security Agency (NSA) entstanden war. Sein Vorgesetzter hatte ihm damals aufgetragen, ein Softwaretool zu entwickeln, mit dem sich zwei verschiedene Computer, einer an der Ostküste und einer an der Westküste, aus der Ferne konfigurieren ließen. Larry, der einmal geschrieben hat, die drei großen Tugenden der Programmierer seien deren Faulheit, Ungeduld und Selbstüberschätzung4, hatte jedoch keine Lust, einen ganzen Monat lang ein Steuerelement zu programmieren, das nur einer einzigen Aufgabe diente. Stattdessen entwickelte er Perl und schmuggelte ein Magnetband mit dem Quellcode in seine Tasche, bevor er Adieu sagte.

Während ich mit Larry über seine berühmte Erfindung plauderte, leuchtete an der Wand hinter uns eine Glühbirne auf. Er hatte das Tonsignal seines Wäschetrockners gegen eine unaufdringliche Lampe ausgetauscht, weil ihn das Klingeln am Ende eines jeden Trockengangs verrückt machte. Solches Tüfteln passte zu einem Mann, dessen Code es einem Perl-Hacker namens Bruce Winter ermöglicht hatte, sämtliche Geräte in seinem Haushalt zu automatisieren und sich seine E-Mails über das Telefon vorlesen zu lassen – und das bereits 1998. Erst viel später wurde mir klar, dass Larrys Empfindlichkeit gegenüber Geräuschen vielleicht eine Verbindung darstellte – zwischen dem Zustand seiner Tochter und dem exzentrischen Stamm von Einzelgängern, die unsere moderne digitale Welt erfanden.

Einige Monate später begann ich, ein Profil über eine der angesehensten Frauen im Silicon Valley auszuarbeiten. Die Unternehmerin Judy Estrin hatte in den 1970er-Jahren als Doktorandin an der Stanford University dem Informatiker Vinton Cerf geholfen, die TCP/IP-Protokolle zu entwickeln, die zur Grundlage des Internets werden sollten.5 Judy legte eine großartige Karriere hin; sie lancierte Start-ups und managte Risikokapital in der von Männern beherrschten Hightechindustrie. Um ihre persönliche Lebensgeschichte näher zu beleuchten, nahm ich Kontakt zu ihrem Schwager Marnin Kligfeld auf. Ich...

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