ANGSTRÄUME UND LITERARISCHE GEGENWELTEN
Vorwort von Joachim Walther
Wenn es ihn so locke, solle er doch versuchen, trotz des Verbotes hineinzugehen: So spricht der Türhüter in Kafkas Parabel „Vor dem Gesetz“ zu dem, der Einlass begehrt, ihn aber zu Lebzeiten nicht erhält, obwohl, so beteuert der Türhüter, dieser Eingang nur für ihn offen gehalten werde, und merkt noch an, er sei mächtig, doch nur der unterste der Türhüter, die von Tür zu Tür mächtiger würden, so dass den Anblick bereits des dritten nicht einmal er mehr ertragen könne.
Hier haben wir in literarischer Fiktion die Wirklichkeit gewordene Metapher des Totalitären. Das nicht einsehbare Innere der Staatsgewalt. Das streng bewachte, doch inexistente Geheimnis, die Verhüllung des Kerns durch verschwörerische Geheimhaltung. Die demonstrativ ausgestellte Macht, die mehrfach gesicherten Zugänge zu dem pyramidalen, hierarchisch organisierten Bau. Die über allem schwebende, unberechenbare Drohung und die daraus landesweit gewebte engmaschige Angst. Die DDR fügte Kafkas Alptraum die zynische Arroganz der Dialektikjongleure mit ihrer komplementär gewendeten marxistischen Semantik hinzu: die Deklaration des Zwanges als Freiheit, des Diktatorischen als demokratisch, des Verschlossenen als offen, des Innen und Außen als verbunden, des hartleibigen Provinzialismus als propagierte Weite und Vielfalt. Dazu noch: Die alles durchdringende Konspiration und Kontrolle. Die Abschnürung als fortschreitende Selbststrangulation. Die Aushärtung einer Idee zur fixen Ideologie bis hin zu deren sklerotischer Selbstlähmung. Die Verhinderung geistiger Osmose mit der Welt als kontraproduktiver Effekt, der das Vakuum im Inneren und damit die Implosionsgefahr fortwährend erhöhte. Das Selbstzerstörerische des Stabilisierungswahns der zu keiner Zeit legitimierten und deshalb unsicheren Machthaber. Die systematisch organisierte Überwachung der Bilder und Worte, so dass jeder Kreative vor dem Gesetz zu erscheinen hatte, das ihm die Tür zur ohnehin beschränkten Öffentlichkeit entweder mit dem Vorbehalt, den Zugang jederzeit und ohne weitere Begründung wieder versperren zu können, öffnete oder aber vorübergehend bis dauerhaft schloss.
Definiert man die DDR als moderne Diktatur, als poststalinistisches, totalitäres System der angestrebten totalen Kontrolle, so folgt daraus, dass sowohl das offiziell gesteuerte, funktionalisierte, kollektive Gedächtnis als auch das unbegrenzte und deshalb in Diktaturen generell der Eliminierung unterworfene kulturelle Speichergedächtnis und also die gesamten Literaturverhältnisse der sicherheitspolitischen Kontrolle der Partei und des Staates unterworfen sein mussten. Das hieß auch: Verhinderung eines Gegen-Diskurses oder der Entstehung eines Gegen-Gedächtnisses, Implantation einer staatlich-sakralen Erinnerungskultur mittels Mausoleen, Wimpeln, Plakaten, Abzeichen, Fahnen, Spruchbändern, Symbolen, Jahrestagen, Mahnmalen etc. Dazu: Schutzschilde vor häretischer Entzauberung, paranoide Verfolgung des freien Wortes, Gleichzeitigkeit von Kanonisierung und Zensurierung, Honorierung des Angepassten und Stigmatisierung des Kritischen. Das alles gehört unabdingbar zu dem fundamentalen, existentiell überlebenswichtigen Repertoire der Machtsicherung derart verfasster Gesellschaften.
Es ist offensichtlich, dass der literarische Raum in der DDR von der alles bestimmenden Partei bemessen, seine interne Ordnung von ihr bestimmt und überwacht, die einzelnen Literaturproduzenten durch die Türhüter eingelassen oder abgewiesen wurden, ebenso wie die literarischen Texte, die nach den kulturpolitischen Leitlinien der Partei einer selektierenden Bewertung unterlagen, deren Kriterien im normgebenden Konzept des „Sozialistischen Realismus“ und in daraus abgeleiteten Urteilsdichotomien wie formalistisch / dekadent – realistisch / sozialistisch; wahr – falsch; fortschrittlich – reaktionär oder simpel schädlich – nützlich gründeten.
Hier ist nicht der Ort, die Zensurgeschichte der DDR zu schreiben, doch sei auf die Kontinuität dieser speziellen Wortaufsicht hingewiesen. Schon in der Gründungsverordnung des Amtes für Literatur und Verlagswesen von 1951 bildete den Kern des Ganzen die Inhaltskontrolle und Begutachtung der von den Verlagen ausnahmslos zur Veröffentlichung einzureichenden Literatur. Auch später ging es der Partei immer wieder um die Verhinderung einer Literatur, die nicht mit den von ihr erlassenen Gesetzen des von ihr geschaffenen und kontrollierten Staates in Einklang stand, die ihr Meinungsmonopol und damit ihre Alleinherrschaft gefährdete. An diesem so schlichten wie rigiden Diktum änderte sich bis zum Staatsuntergang 1989 grundsätzlich nichts.
1984 erschien in Köln Erich Loests Bericht „Der vierte Zensor – Vom Entstehen und Sterben eines Romans in der DDR“, in dem er neben der staatlich institutionalisierten Zensur die Zensur durch die Verlage, die Selbstzensur und die Parteizensur als Zensurkomplex benannte. Erst nach dem Untergang der DDR wurde nach Öffnung und Sichtung der schriftlichen Hinterlassenschaften der Staatssicherheit ein weiterer Teil dieses Zensurkomplexes bekannt: die streng konspirativ gehandhabte Zensur durch eben dieses Ministerium. Dieser fünfte Zensor war der politisch konsequenteste und der einer modernen Diktatur adäquateste, da er sich bei der Bewertung literarischer Texte primär auf das politische Strafrecht konzentrierte und seinen Apparat und seine Methodik perfekt im unsichtbaren Bereich hielt. Der fünfte Türhüter war die schärfste Waffe gegen das freie Wort und verfügte flächendeckend über ein engmaschiges Netz hauptamtlicher und inoffizieller Mitstreiter. Er war die militärbürokratisch organisierte letzte Instanz. War ein Manuskript samt Autor durch alle vier Vorkontrollen geschlüpft, konnten es oder er noch immer in die MfS-Endkontrolle geraten und dort entweder strafrechtlich bewertet oder „operativ bearbeitet“ werden. Freilich funktionierte auch die vierfache Vorkontrolle in der DDR bereits vorzüglich, so dass die Staatssicherheit nicht selten lediglich die gemeldeten literarischen Abschüsse zu registrieren hatte und selbst nicht mehr einzugreifen brauchte.
Orwells negative Utopie „1984“ formierte sich in der DDR vor und nach 1984 mehr und mehr zur Realität. Der Oberzensor des Landes nannte sich offiziell „Stellvertretender Minister für Kultur“ und ließ sich gern mit dem Schmeichelnamen „Bücherminister“ titulieren, die Zensurbehörde hieß seit 1963 „Hauptverwaltung Verlage und Buchhandel“, die staatlich organisierte Buchzensur „Druckgenehmigungsverfahren“. Auch fühlten sich die hauptamtlich bestallten Zensoren subjektiv nicht etwa als Verhinderer, sondern als Förderer der Literatur und fanden nach der Revolution von 1989 – stilistisch sensibel –, der Begriff Zensur sei unangebracht, weil er zu viele negative Assoziationen hervorrufe. Den Begriff meiden und die Praxis schönen: Einige der einstigen Sprachinspektoren wollten uns im Nachhinein weismachen, sie hätten in den letzten Jahren der DDR so rastlos wie selbstlos daran gearbeitet, das „Druckgenehmigungsverfahren“ zu vereinfachen und gar abzuschaffen, leider sei dem die Abschaffung des Staates zuvorgekommen. Die aktenkundige Wahrheit ist, dass die Zensur niemals abgeschafft, sondern lediglich besser kaschiert werden sollte. Bei ihrer Vorverlegung in die Verlage ging es um einen weiteren Schritt in Richtung brave new world, dessen ideales Endziel das Etablieren der Zensur in den Köpfen war. Jeder sein eigener Zensor, die Schere im Kopf, davon träumten die Retuscheure der Diktatur. Allein die individuell verinnerlichte Zensur ist die perfekte Zensur.
Auch die Zensur der Staatssicherheit zielte letztendlich auf das ideale Endstadium einer modernen Diktatur: auf die freiwillige Selbstzensur der Autoren. Die Allgegenwart der Staatssicherheit im literarischen Raum war schlimm, doch war sie nicht das Schlimmste. Noch schlimmer war, dass sie durch ihre Omnipräsenz einen gesamtgesellschaftlichen Angstraum erzeugte, der auch ohne direkte Repression wirkte, unsichtbar, subtil als Selbstzensur, als Denkblockade und als schwarzer Fleck. Zur ganzen Wahrheit einer Literatur in der Diktatur gehören nicht nur das Verstümmelte und das Unveröffentlichte, zu ihr gehören das Verhinderte, das Ungeschriebene und selbst das Ungedachte, was in kein Archiv der Welt je Eingang findet. 1980 meinte Jurek Becker, das meiste von dem, was verboten sei, werde gar nicht erst geschrieben. Doch auch mit diesem Satz sind wir noch nicht im Zentrum des Unheils angekommen, im geheimen Inneren moderner Diktaturen, die immer auch Gesinnungsdiktaturen sind.
In dem Roman „Kindheitsmuster“ schreibt Christa Wolf, die Galionsfigur der kritisch-loyalen DDR-Autoren, 1976 von ihrer Angst, zu viel zu erfahren und in eine Zone der Nichtübereinstimmung gedrängt zu werden. Noch 1984 spricht sie in einem Vortrag von ihrer Angst vor zu weit gehenden Einsichten als einem besonders starken, hartnäckigen und zugleich...