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E-Book

Große Ambitionen

Chinas grenzenloser Traum

AutorEvan Osnos
VerlagSuhrkamp
Erscheinungsjahr2015
Seitenanzahl600 Seiten
ISBN9783518740941
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis11,99 EUR

Acht Jahre lang lebt und arbeitet Evan Osnos in China - in dieser Zeit wird er Zeuge einer unglaublichen Transformation: Das Land verändert sich in einem Tempo und Ausmaß, das selbst das der industriellen Revolution übertrifft. (Tatsächlich berührt der Wandel alle Gesellschaftsbereiche und jeden Einzelnen.) Osnos spürt diesen Umwälzungen nach und zeichnet ein eindrückliches Bild des Kampfes um Glück, Erfolg und Wahrheit, der China und seine Einwohner im 21. Jahrhundert prägt.
Sein einzigartiges Porträt Chinas versammelt die Geschichten der Männer und Frauen, die alles dafür geben, ihr eigenes Leben oder gleich das ganze Land zu verändern - Osnos spricht mit Glücksrittern auf der Jagd nach Reichtum, begleitet den Künstler Ai Weiwei und den Friedensnobelpreisträger Liu Xiaobo, trifft lyrikverliebte Straßenkehrer und Internetmillionäre. Die Erwartungen, Hoffnungen und Enttäuschungen der Menschen werden durch seine fundierten Schilderungen greifbar und erlauben ein tieferes Verständnis der heutigen chinesischen Gesellschaft.



<p>Evan Osnos, geboren 1976, ist ein US-amerikanischer Buchautor und Journalist. Seit 2008 ist er Redakteur beim Magazin The New Yorker. Zusammen mit Kollegen erhielt er 2008 den Pulitzer-Preis für investigativen Journalismus. Sein Buch <em>Große Ambitionen. Chinas grenzenloser Traum</em> wurde 2014 mit dem National Book Award ausgezeichnet.</p>

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Leseprobe

Prolog


Immer wenn sich ein neuer Gedanke in China ausbreitet – sei es eine neue Mode, eine neue Philosophie oder eine neue Lebensart –, sprechen die Chinesen von einem »Fieber«. In den ersten Jahren nach der Öffnung des Landes fingen sich die Leute »Westliches-Geschäftsanzug-Fieber«, »Jean-Paul-Sartre-Fieber« und »Mobiltelefon-Fieber« ein. Es war schwer zu sagen, wann und wo der Virus ausbrechen und welche Folgen er haben würde.

In dem 1564 Einwohner zählenden Ort Xiajia brach ein Fieber aus, in dessen Zentrum die amerikanische Polizeiserie Hunter stand, die in China Kommissar Heng Te heißt. Als das chinesische Fernsehen in den neunziger Jahren mit der Ausstrahlung begann, versammelten sich die Bewohner von Xiajia, um Sergeant Rick Hunter und seiner Partnerin Sergeant Dee Dee McCall vom Los Angeles Police Department bei ihren Undercover-Einsätzen zuzusehen. Und diese Bewohner erwarteten, dass Sergeant Rick Hunter in wirklich jeder Folge wenigstens zwei Mal seinen Lieblingsspruch »Arbeit für mich« zum Besten gab – obwohl ihn der auf Chinesisch zu einem religiös veranlagten Menschen machte, weil aus seinem Markenzeichen aufgrund eines Übersetzungsfehlers »Was immer Gott verlangt« geworden war. Das Fieber griff von einem zum anderen über und wirkte sich doch auf jeden unterschiedlich aus. Als die Polizei einige Monate später das Haus eines Bauern durchsuchen wollte, erklärte der, sie sollten wiederkommen, wenn sie einen »Durchsuchungsbefehl« hätten – diesen Begriff hatte der Mann von Kommissar Heng Te gelernt.

Als ich 2005 nach China zog, war es üblich, die Geschichte von Chinas Wandel in dramatischen, ausladenden Pinselstrichen nachzuzeichnen, mit Hinweisen auf große Veränderungen in Politik und Wirtschaft wie auch auf die Tatsache, dass ein Sechstel der Weltbevölkerung in diesem Land lebte. Schaute man jedoch genauer hin, ereigneten sich die einschneidendsten Veränderungen auf der intimeren Ebene der individuellen Wahrnehmung; sie waren hinter den alltäglichen Routinen der Bevölkerung verborgen, weshalb man sie leicht übersehen konnte. Das stärkste Fieber von allen war dabei der Ehrgeiz: der schiere Glaube an die Möglichkeit, sich ein neues Leben aufbauen zu können. Manche, die sich daran versuchten, hatten Erfolg, andere hingegen nicht. Eindrucksvoller war jedoch, dass all diese Menschen einer historischen Erfahrung trotzten, die ihnen nahelegte, es erst gar nicht zu versuchen. Lu Xun, der meistgefeierte chinesische Autor der Moderne, schrieb einmal, die Hoffnung sei »wie die Straßen im Antlitz der Erde; sie waren nicht da gewesen; die Füße der Wanderer hatten sie geschaffen«.

Ich habe acht Jahre in China verbracht und wurde dabei Zeuge, wie das Zeitalter der großen Ambitionen Gestalt annahm. Vor allem handelt es sich bei diesem um eine Ära des Überflusses – um den Gipfel hundertmal größerer und zehnmal schnellerer Veränderungen, als sie jene Umwälzungen der ersten industriellen Revolution darstellten, die das moderne Großbritannien schufen. Heute hungert das chinesische Volk nicht mehr nach Nahrung – ein durchschnittlicher Chinese isst mittlerweile sechsmal so viel Fleisch wie noch im Jahr 1976 –, sondert nach etwas ganz anderem: nach einer Zeit, in der ein Drang nach neuen Gefühlen, neuen Ideen und neuem Respekt im Volk erwacht. China ist der größte Energie- und Platinverbraucher weltweit; die Menschen dort schauen die meisten Filme und trinken das meiste Bier; außerdem bauen sie mehr Hochgeschwindigkeitseisenbahnstrecken und Flughäfen als alle anderen Länder der Welt zusammen.

Der Boom in China hat dafür gesorgt, dass ein paar seiner Bewohner unermesslich reich geworden sind: Nirgendwo sonst wächst die Zahl der neuen Milliardäre so schnell wie in diesem Land. Einige der neuen Plutokraten gehören zu den leidenschaftlichsten Dieben des Planeten, andere haben hohe Staatsposten inne. Auf manche trifft beides zu. Für den Großteil der Chinesen brachte der Aufschwung jedoch keinen gewaltigen Wohlstand: Stattdessen ermöglichte er ihnen die ersten zögerlichen Schritte heraus aus der Armut. Die Früchte von Chinas Aufstieg zeitigten einerseits hochgradig widersprüchliche und andererseits überaus tiefgreifende Veränderungen, die zu einer der umfassendsten Wohlstandssteigerungen in der Moderne geführt haben. Im Jahr 1978 betrug das Durchschnittseinkommen rund zweihundert Dollar; 2013 waren es bereits sechstausend Dollar. Es ist beinahe egal, welchen Maßstab man anlegt: Die Bevölkerung des heutigen China hat eine höhere Lebenserwartung, sie ist gesünder und verfügt über einen höheren Bildungsstand als je zuvor in der Geschichte des Landes.

In den Jahren, die ich in Peking lebte, gewann ich den Eindruck, dass das Vertrauen in die eigenen Vorstellungen (insbesondere im Hinblick auf die Zukunft des Landes) sich umgekehrt proportional zu der Zeit verhält, die man dort verbringt. Die Komplexität der Lage dämpft den Impuls, der Sache eine allzu simple Logik aufzuzwingen. Und so suchen wir in gewisser Weise Zuflucht in Statistiken, um hinter alldem ein Muster zu erkennen: Während meiner Zeit in China verdoppelte sich die Zahl der Flugzeugpassagiere, während sich die Verkaufszahlen von Mobiltelefonen verdreifachten und sich die Größe des Pekinger U-Bahn-Netzes vervierfachte. Von diesen Angaben war ich jedoch weniger beeindruckt als von einem Spektakel, das sich nicht so einfach in Zahlen ausdrücken lässt: Noch vor einer Generation war es die absolute Gleichheit im Land, über die Chinareisende am meisten staunten. Außenstehende erkannten im Großen Vorsitzenden Mao den »Herrn der blauen Ameisen«, wie er in einem denkwürdigen Buchtitel genannt wurde – einen weltlichen Gott in einem Land der »Produktionsbrigaden« und einheitlichen Baumwollanzüge. Klischees, nach denen es sich bei den Chinesen um kollektiv denkende, undurchschaubare Drohnen handelte, konnten sich zum Teil gerade deshalb halten, weil die Politik des chinesischen Staates sie stützte: Beständig erinnerte das offizielle China seine Gäste daran, dass es ein Land der Arbeitseinheiten, Volkskommunen und unermesslichen Opfer war.

In dem China, das ich kennenlernte, wurde die landeseigene Geschichte nicht mehr wie früher von einem Ensemble dargeboten, sondern fächerte sich in Milliarden Einzelgeschichten auf – Geschichten aus Fleisch und Blut, Geschichten über persönliche Eigenarten und einsame Kämpfe. Es handelt sich um eine Zeit, in der die Beziehungen zwischen den beiden mächtigsten Ländern der Welt, der Volksrepublik China und den Vereinigten Staaten von Amerika, durch den Ehrgeiz eines einzelnen Bauernanwalts auf den Prüfstand gestellt werden konnten, der den Zeitpunkt genau wählte, an dem er sein Schicksal für immer zu verändern gedachte. Es handelt sich um eine Phase der Geschichte, in der eine Bauerntochter derart schnell vom Fließband in den Sitzungssaal aufsteigen kann, dass keine Zeit bleibt, die Traditionen ihres Dorfes zu verletzen oder dort Ängste zu schüren. Es handelt sich um eine Epoche, in der das Individuum zu einer stürmischen Macht im politischen, ökonomischen und privaten Leben und damit so zentral für das Selbstbild einer aufstrebenden Generation geworden ist, dass der Sohn eines Bergarbeiters in dem Glauben heranwächst, nichts sei wichtiger als sein Name auf einem Buchdeckel.

In gewisser Weise profitiert die Kommunistische Partei Chinas am meisten vom Zeitalter der großen Ambitionen. Im Jahr 2011 feierte sie ihren neunzigsten Geburtstag – ein Meilenstein, der zum Ende des Kalten Krieges noch undenkbar schien. In den Jahren nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion studierten die chinesischen Führer die Geschichte deren Niedergangs und schworen, dass sie nie dasselbe Schicksal erleiden würden. Als die arabischen Diktaturen 2011 fielen, blieb die chinesische bestehen. Um ihr Überleben zu sichern, ließ die Kommunistische Partei von ihrer heiligen Schrift ab, hielt jedoch an ihrem Heiligen fest: Sie gab Marx' Theorien auf, beließ Maos Antlitz allerdings, wo es war: am Tor des Himmlischen Friedens, von dem es auf den Tiananmen-Platz hinabblickt.

Mittlerweile verspricht die Partei keine vollkommene Gleichheit oder das Ende aller Mühen mehr, sondern nur noch Wohlstand, Stolz und Stärke. Und für eine Weile war das auch genug. Im Lauf der Zeit begannen die Menschen jedoch, sich nach mehr zu sehnen – vielleicht nach nichts mehr als nach dem Zugang zu Informationen. Neue Technologien brachten eine flüchtige politische Kultur hervor; was früher einmal geheim war, ist es heute nicht mehr; die Menschen sind nicht mehr allein, sondern verbunden. Und je mehr sich die Partei darum bemüht zu verhindern, dass das chinesische Volk an ungefilterte Ideen kommt, desto mehr fordert es eben diese ein.

Das heutige China ist von Widersprüchen zerrissen: In keinem Land der Welt werden mehr Louis-Vuitton-Produkte verkauft, und nur die Vereinigten Staaten nehmen mehr Rolls-Royce und Lamborghinis ab als China, aber trotzdem wird das Land von einer marxistisch-leninistischen Partei regiert, die am liebsten das Wort »Luxus« von den Werbetafeln streichen würde. Hinsichtlich Lebenserwartung und Einkommen entspricht das Gefälle zwischen den reichsten Städten Chinas und seinen ärmsten Provinzen dem zwischen New York und Ghana. China verfügt über zwei der größten Internetunternehmen der Welt; täglich gehen dort mehr Menschen online als in den Vereinigten Staaten, und das obwohl der chinesische Staat seine Anstrengungen im Zuge des größten Zensurvorhabens in der Geschichte verdoppelt hat. China ist nie facettenreicher, urbaner und wohlhabender gewesen, und doch ist es das einzige Land der Welt, in dem ein...

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