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E-Book

Gustav Schickedanz

Biographie eines Revolutionärs

AutorGregor Schöllgen
VerlagBerlin Verlag
Erscheinungsjahr2010
Seitenanzahl464 Seiten
ISBN9783827072191
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis6,99 EUR
Jahrzehntelang war er eine Institution in Millionen deutschen Haushalten: der Quelle-Katalog. Er war das Medium, das nicht nur für eine besonders enge Verbindung zwischen dem Unternehmen und seinen Kunden sorgte, das darin präsentierte Produktangebot prägte vielmehr auch entscheidend den Geschmack und die Alltagskultur im Wirtschaftswunderland. Gregor Schöllgen, der wohl profilierteste Kenner deutscher Unternehmerfamilien, legt nun die erste umfassende Biographie des Quelle-Gründers Gustav Schickedanz vor. Auf der Grundlage bislang nicht zugänglicher Informationen schildert er die Anfänge des Versandhauses seit den 1920er Jahren und beschreibt den Aufbau jenes Industrieimperiums, mit dem Gustav Schickedanz seinem Unternehmen während der 1930er Jahre ein zweites Standbein neben dem Versandhandel verschaffte. Nach dem Krieg wurde Schickedanz deshalb vorgeworfen, Nutznießer von Arisierungen gewesen zu sein. Auch wenn sich die Vorwürfe am Ende als unhaltbar erwiesen, gelingt es Schöllgen doch, exemplarisch die Grauzonen aufzuzeigen, in denen sich jedes Wirtschaftsunternehmen in einer Diktatur unweigerlich bewegt. Die Zeit des Wirtschaftswunders und der aufbrechenden Konsumgesellschaft bedeutete für Quelle schließlich einen beispiellosen Aufschwung, ein Erfolg, der - so Schöllgens Fazit - am Ende ohne das unternehmerische Genie von Gustav Schickedanz keine Zukunft haben konnte. Schöllgens Werk ist die gleichermaßen faszinierende wie differenzierte Darstellung eines zentralen Kapitels der deutschen Wirtschaftsgeschichte des 20. Jahrhunderts.

Gregor Schöllgen, Jahrgang 1952, ist Professor für Neuere Geschichte an der Universität Erlangen, wo er das Zentrum für Angewandte Geschichte (ZAG) leitet. Er war Gastprofessor in New York, Oxford und London, ist Mitherausgeber der Akten des Auswärtigen Amtes und des Nachlasses von Willy Brandt. Er schrieb zahlreiche Bücher zur Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, darunter den Bestseller «Willy Brandt» (2001). Im Berlin Verlag ist von ihm erschienen: «Gustav Schickedanz» (2010).

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Leseprobe

 

Der Suchende

1895–1929

Fürth ist nicht gerade der Nabel der Welt. Aber in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist Fürth für einige Jahrzehnte mit dem Rest der Welt so eng verbunden wie kaum eine zweite Stadt in Deutschland. Denn hier, mitten im beschaulichen Franken, hat das größte Versandhaus Europas seinen Sitz. Die Quelle, der größte Privatkunde der Deutschen Bundespost, ist das Lebenswerk von Gustav Schickedanz.

Als der kleine Gustav am Neujahrstag 1895 in Fürth das Licht der Welt erblickt, ist diese Karriere natürlich noch nicht vorhersehbar – seine eigene nicht und die seiner Stadt auch nicht. Allerdings hat Fürth schon damals einen guten Ruf als Ort des Handels und des Gewerbes. Denn sie kann dem einen wie dem anderen einiges bieten, zum Beispiel eine gute Anbindung an das Eisenbahnnetz Bayerns, zu dem Fürth nach einem kurzen, aber für die wirtschaftliche Entwicklung der Stadt nicht unwichtigen Intermezzo unter preußischer Herrschaft seit 1806 gehört.

Wie sich überhaupt der Name Fürth in besonderer Weise mit der Eisenbahn, dem Motor der rasanten industriellen Entwicklung der Zeit, verbindet. Hier nämlich endete im Dezember 1835 – nach rund sechs Kilometern und aus Nürnberg kommend – die Reise des »Adler«, jener legendären Lokomotive mit der Achsfolge 1A1, welche die Ludwigsbahn mit ihren Passagieren nach Fürth zog und damit das Eisenbahnzeitalter in Deutschland einläutete. Zwar ging der überregionale Verkehr danach erst einmal für rund vierzig Jahre an Fürth vorbei, aber jetzt, an der Schwelle zum 20. Jahrhundert, ist die bald 50000 Einwohner zählende Stadt unter anderem durch Strecken der Bayerischen Staatsbahnen und der Münchener Lokalbahn-Aktiengesellschaft mit der Außenwelt verbunden.

Im Übrigen ist Fürth Sitz eines Land- und eines Amtsgerichts, eines Rent- und eines Hauptzollamtes, einer Reichsbanknebenstelle und einer Agentur der Bayerischen Notenbank sowie eines Bezirksgremiums für Handel und Gewerbe. Schon Mitte des 19. Jahrhunderts wurden hier in rund 3000 Betrieben fast 7000 Beschäftigte gezählt, und seit die Maschinenfabrik Engelhardt 1844 die erste Dampfmaschine in Betrieb genommen hat, erarbeitet sich Fürth rasch einen Ruf als aufstrebende Industriestadt. 1907 sind in den dortigen Gewerbebetrieben 28000 Beschäftigte in Lohn und Brot. Als Jakob Wassermann, der 1873 in Fürth geboren wurde und nach dem Ersten Weltkrieg zu den meistgelesenen deutschen Schriftstellern zählt, 1921 auf seine Jugend als »Deutscher und Jude« in dieser »protestantischen Fabrikstadt« zurückblickt, erinnert er sich an eine »Stadt des Rußes, der tausend Schlöte, des Maschinen- und Hämmergestampfes, der Bierwirtschaften, der verbissenen Betriebs- und Erwerbsgier«.

Neben der traditionsreichen Spiegelindustrie spielen in Fürth die Blattmetall- und die Bronzefarbenindustrie und nicht zuletzt das Holz verarbeitende Gewerbe eine bedeutende Rolle. Dort ist auch Johann Leonhard Michael Schickedanz tätig. Als sein Sohn Gustav geboren wird, arbeitet er als Geschäftsführer bei der Möbelfabrik Hemmersbach. Er selbst ist gebürtiger Nürnberger, denn dorthin hat es seinen Vater Johann Nicolaus Schickedanz, Gustavs Großvater, 1840 verschlagen.

Ursprünglich schrieb sich die Familie »Schicketanz«. Der Name stammt aus dem schlesisch-sächsischen Raum. Das mittelhochdeutsche »schick« stand ursprünglich nicht nur für »schicklich« und »geschickt«, sondern auch für »ordnen« und »rüsten«, und »Schicketanz« bedeutete so viel wie »Tanzordner« oder auch »Tanzlehrer«. In den sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts hat Johann Nicolaus »Schiketanz« übrigens vorübergehend von der alten Schreibweise des Familiennamens Gebrauch gemacht, um sich von einem nicht verwandten Namensvetter in der Stadt abzugrenzen, und auch später, zum Beispiel in den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts, bedient sich ein Briefpartner von Gustav Schickedanz, der Maler Matthäus Schiestl, gelegentlich der ursprünglichen Schreibweise.

Die Familie ist seit 1624 im hessischen Dietzenbach nachgewiesen. Von Johann Mendel Schickedanz, dem Vater von Johann Nicolaus und Urgroßvater von Gustav Schickedanz, wissen wir, dass er dort als »Ackermann« gearbeitet hat und mit Maria, geborene Gaubatz, verheiratet war. Ihr gemeinsamer Sohn Johann Nicolaus Schickedanz, der am 17. August 1812 in Dietzenbach zur Welt gekommen ist, tritt zum Jahresende 1829 bei einem Schreiner- und Glasermeister in die Lehre, wird drei Jahre später als Geselle freigesprochen und begibt sich wohl 1833 auf Wanderschaft.

Damit folgt er nicht nur den Gepflogenheiten der Zeit, sondern trägt auch den schweren wirtschaftlichen und sozialen Umbrüchen Rechnung, die in jenen Jahren ganze Landstriche entvölkert. Binnenwanderung, Industrialisierung und Verstädterung sind gleichermaßen Folgen wie Begleiterscheinungen dieses komplexen und folgenreichen Prozesses. Die Bevölkerung Nürnbergs beispielsweise wächst in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts jährlich um gut ein Prozent; um die Jahrhundertmitte zählt die Stadt 54000 Einwohner und damit fast 50 Prozent mehr als ein halbes Jahrhundert zuvor.

Zu ihnen gehört auch der Geselle Johann Nicolaus Schickedanz. Seit 1836 ist Gustavs Großvater bei dem »Schreinermeister und Spielwaarenmacher« Johann Nicolaus Löhner tätig, der auf der Sebalder Seite Nr. 1159 eine Holzgalanteriewarenfabrik betreibt. Elf Jahre lang findet der Zuwanderer aus Dietzenbach, der die »Schreinerprofession« erlernt hat und unweit seines Arbeitsplatzes, auf der Sebalder Seite Nr. 1056, wohnt, hier sein Auskommen. Dann macht er sich selbständig.

Ende Juni 1847 ersucht der jetzt Fünfunddreißigjährige den Magistrat der Stadt Nürnberg um »Ertheilung eines Licenz-Scheins zur Verfertigung von Holz-Galanterie-Waaren u. Spiegel-Rahmen«. Als Galanteriewaren gelten diverse Luxusartikel, wie zum Beispiel »unechte Bijouterien«, die zu »Putz und Zier« dienen und »in Form und Wesen von der Mode abhängig« sind. So jedenfalls steht es damals im Brockhaus zu lesen. Dass sich Johann Nicolaus Schickedanz ausgerechnet in diesen Krisenzeiten auf die Herstellung von Luxusgütern verlegt, ist bemerkenswert. Offensichtlich handelt er antizyklisch, also so, wie man es eigentlich von einem Kaufmann mit dem rechten Gespür fürs Geschäft erwartet. Ganz ähnlich wird es später sein Enkel Gustav halten.

Schon am 9. Juli 1847 wird dem Schreiner der »Licenzschein ertheilt«. Denn Johann Nicolaus Schickedanz hat einen »guten Leumund«, gilt als »geschikter & fleißiger Mann«, hat während seiner Gesellenzeit 500 Gulden zurückgelegt und damit »einen Sinn für Fleiß und Sparsamkeit« unter Beweis gestellt. Und auch sein Geschäftssinn trägt in dieser Zeit einmal mehr Früchte. Schickedanz hat nämlich seine Ersparnisse sowie eine Erbschaft, insgesamt immerhin 1400 Gulden, einer »Bierbrauers-Witwe« geliehen. Die 1000 Gulden, die ihm die Dame im September 1847 zurückzahlt, steckt er in sein neues Geschäft, und weil er schon innerhalb weniger Monate einen Umsatz von 1200 Gulden macht und davon ein Viertel als Gewinn verbleibt, hat der Armenpflegschaftsrat der Stadt keine Einwände, als der umtriebige Unternehmer sich in Nürnberg als Schutzbürger niederlassen und in den Stand der Ehe eintreten will.

Inzwischen hat die große Krise, die als sogenannte Märzrevolution von 1848 in die Geschichte eingegangen ist, den Deutschen Bund und seine Einzelstaaten fest im Griff. Mitte des Monats zwingen die Kämpfe in Wien den österreichischen Staatskanzler Clemens Lothar Wenzel Freiherrn von Metternich zur Flucht nach England, wenige Tage später veranlassen die Barrikadenkämpfe in Berlin König Friedrich Wilhelm IV. von Preußen, seine Truppen aus der Stadt abzuziehen, am 20. März dankt Ludwig I., der König von Bayern, angesichts schwerer Unruhen in München zugunsten seines Sohnes Max II. ab, seit dem 31. März tagt in Frankfurt ein sogenanntes Vorparlament, und am 18. Mai 1848 schließlich tritt in der dortigen Paulskirche eine verfassungsgebende Nationalversammlung zusammen, um einen ersten Versuch zur Parlamentarisierung und Demokratisierung Deutschlands zu unternehmen.

Unruhige Zeiten wie diese sind eigentlich nicht der rechte Augenblick, um sesshaft zu werden und eine Familie zu gründen. Aber Johann Nicolaus Schickedanz, »Schreiner von Dietzenbach«, hat offenbar einen triftigen Grund, um auch in dieser Hinsicht, wenn man so will, antizyklisch zu handeln. Am 12. April 1848 bekundet er mit dem Gesuch an die Stadt Nürnberg seinen Willen, »als Schutzbürger dahier sich niederzulassen, und mit der ledigen Maria Barbara Amm … von hier 21 Jahre alt sich … zu verehelichen«. Die Tochter des »Güterladers« Adam Gustav Amm und seiner Frau Anna Luzia, geborene Lauermeyer, verfügt zwar über kein »baares Vermögen«, wohl aber über eine »standesgemäße Ausstattung«. Zweifellos ist ihre Hochzeit mit dem Großvater von Gustav Schickedanz eine gute Partie, und so überrascht es nicht, dass Adam Gustav Amm rasch seinen »väterlichen Consensus« zu der »vorhabenden Verehelichung« erteilt.

Offenbar ist hier Eile geboten. Denn als der »Holzgalanteriewaarenverfertiger« Johann Nicolaus Schickedanz am 3. September 1848 seine Braut heiratet, ist er bereits Vater. Im Juli 1848 hat seine Frau Maria Barbara die erste gemeinsame Tochter zur...

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