Um den Wechsel der DDR-Arbeitshelden von der ersten zur zweiten Periode sowie die Differenz zwischen der ästhetischen Struktur und der wirtschaftspolitischen Funktion dieser unterschiedlichen Heldenfiguren in den Blick zu bekommen, ist es unumgänglich, sich zunächst den Quellen der DDR-Arbeitshelden der ersten Periode zuzuwenden.
Die DDR-Arbeitshelden der ersten Periode sind weit mehr als bloße Produkte des SED-Agit/Prop-Apparats. Sie entstammen zwei großen historischen Heroen-Geschlechtern, und zwar den mythologischen und den sowjetischen Heroen der Arbeit. Diese beiden Heroen-Geschlechter und ihre Berührungspunkte sollen im Folgenden kurz skizziert werden, denn ohne diese beiden Quellen wären die DDR-Arbeitshelden sonst kaum, im Grunde genommen gar nicht verständlich.
Die griechische Mythologie und ihre Helden gehören nach wie vor zum kulturellen Grundbestand der westlichen Moderne. Erinnert sei hier nur an den Trojaner Äneas (Aeneas), dem bereits Vergil in seiner „Aeneis“[53] als Gründungsvater Roms ein literarisches Denkmal gesetzt hat, und an die Langzeitwirkung dieses Epos‘[54] oder an den Kriegshelden Achill (Achilleus), der bis in unsere Tage sehr kontrovers interpretiert wird, wie die Texte von Effe[55], Wolf[56] und See[57] sowie der Film von Petersen[58] sehr anschaulich zeigen. Worauf basiert diese anhaltende Faszination der archaischen Erzählungen und Helden?
Es ist das große Verdienst von Klaus Heinrich in seinen legendären „Dahlemer Vorlesungen“ auf diese Frage ebenso überzeugende wie differenzierte Antworten gegeben zu haben. Schlagwortartig verkürzt zeigt Heinrich in seinem Vorlesungszyklus, dass die griechische Mythologie keine Fantasiewelt fernab der Realität darstellt, sondern komprimierte Modelle der Realgeschichte liefert. Und dies mindestens in dreifacher Hinsicht, als Gattungsgeschichte, als Individualgeschichte und als aktuelle, gegenwärtige Geschichte. In den Vorlesungen und Schriften Heinrichs sind immer alle drei Dimensionen präsent, wenn auch jeweils in unterschiedlicher Gewichtung.
Allein „Tertium Datur. Eine religionsphilosophische Einführung in die Logik“ (Dahlemer Vorlesung 1)[59], „Arbeiten mit Ödipus. Begriff der Verdrängung in der Religionswissenschaft“ (Dahlemer Vorlesung 3)[60], „Vom Bündnis denken. Religionsphilosophie“ (Dahlemer Vorlesung 4)[61] oder „Der Gesellschaft ein Bewußtsein ihrer selbst geben“ (Reden und kleinere Schriften 2)[62] bilden ein theoretisches und methodologisches Reservoir, das bislang auch nicht ansatzweise an-, geschweige denn ausgeschöpft ist[63].
Dies gilt auch und gerade für die Helden-Figur des Herakles, dem Arbeitsheros par excellence. Bevor ich gestützt auf die 9. Dahlemer Vorlesung von Klaus Heinrich einige Facetten und Funktionen des Herakles-Mythos skizziere, möchte ich zuvor noch einmal stichpunktartig die Taten des Herakles und die Wirkungsgeschichte des Mythos in Erinnerung rufen.
Der so genannte Dodekathlos umfasst die zwölf kanonisierten Taten des Herakles. Dies sind im Einzelnen[64]: Die Erlegung des Nemëischen Löwen, die Tötung der neunköpfigen Hydra, das Einfangen der Kerynitischen Hirschkuh, das Einfangen des Erymanthischen Ebers, das Ausmisten der Rinderställe des Augias, die Vertreibung der Stymphalischen Vögel, das Einfangen des Kretischen Stiers, die Zähmung der menschenfressenden Rosse des Diomedes, die Herbeischaffung des Wehrgehänges der Amazonenkönigin Hippolyte, der Raub der Rinderherde des Riesen Geryon, das Pflücken der goldenen Äpfel der Hesperiden und das Heraufbringen des Wachhundes der Unterwelt, Kerberos, an die Oberwelt.
Neben diesen kanonisierten Taten werden Herakles auch noch weitere Arbeiten zugeschrieben, so etwa, dass er der lydischen Königen Omphale drei Jahre als Sklave diente, Jason beim Zug der Argonauten unterstützte, den Tyrannen Syleus und die Kerkopen bestrafte, Prometheus befreite, mit dem Giganten Antaeus kämpfte, den feuerspeienden Cacus tötete oder dass er mit seinen Gefährten in Troja eindrang, König Laomedon und dessen gesamte Familie bis auf seine Tochter Hesione und seinen jüngsten Sohn Priamos auslöschte[65].
Das folgende Mosaikbild[66] (Abbildung 4) zeigt den Heros beim Ausmisten der Rinderställe des Augias:
Abbildung 4: Herakles beim Ausmisten der Rinderställe des Augias (Mosaik)
Herakles hat bereits in der Kunst und Literatur des antiken Griechenland als mythologische Gestalt eine zentrale Rolle gespielt[67]. Er und seine Taten gehörten schon für Homer, wenn es ihn denn gab, Hesiod oder Pindar nicht der aktuellen, sondern einer fernen Vor- und Frühgeschichte an und dürften damit in eine Zeit weit vor den sogenannten „dunklen Jahrhunderten“, also dem Zeitraum vom 12. bis 8. vorchristlichen Jahrhundert, zurückreichen[68]. Seit der Antike bis in unsere Tage wurde der Herakles-Mythos immer wieder neu bearbeitet, interpretiert und gedeutet[69]. Die Herakles-Mythologie prägte nicht nur das Christentum[70], auch Schiller[71] und Hegel[72] und über Letzteren auch Marx[73] und Lenin[74], sind davon beeinflusst.
Dabei gilt für meine, wie für jede andere Diskussion des Herakles-Mythos, ein grundlegender Hinweis, den Heinrich seinen Zuhörerinnen und Zuhörern in seiner zweiten Herakles-Vorlesung gab, und zwar, „dass Sie niemals den Schnitt machen können zwischen der Interpretation und der Instrumentalisierung der Figur des Heros“[75]. Wer behauptet, dies zu können, dessen Deutungen sind mit Vorsicht zu genießen, weil er „sich nicht nur verstrickt, sondern in den Dienst vertrackter und verhängnisvoller Instrumentalisierung tritt“[76].
Wenn vom Heros Herakles die Rede ist, dann sind es vor allem vier Facetten dieses Heros, die den mythologischen Helden mit den frühen sowjetischen und den DDR-Heroen der Arbeit verbinden. Herakles ist zugleich Revolutionsheros, Arbeitsheros, Zivilisationsheros und Kulturheros. Diese vier Facetten des Heros sollen im Folgenden kurz umrissen werden.
Herakels ist ein Revolutionsheros, weil er und seine Taten in einer bestimmten Revolution angesiedelt sind und, vor allem, weil sie den Kern dieser Revolution zum Ausdruck bringen. Sie sind eine der großen Erzählungen über diese Revolution. Diese Revolution ist die so genannte neolithische oder jungsteinzeitliche Revolution, die auch als Neolithisierung bezeichnet wird. In diesem Neolithisierungsprozess vollzogen sich drei eng miteinander verflochtene Übergänge, und zwar der Übergang vom Jagen zur Viehzucht, vom Sammeln zum Ackerbau und vom Nomadisieren zur Sesshaftigkeit[77].
In Europa umfasste die Neolithisierung ungefähr den Zeitraum vom 9. bis 2. Jtd. v. Chr. Ausgangspunkt war hier der „fruchtbare Halbmond“, also ein Gebiet im Vorderen Orient, das zwischen Persischem Golf, Euphrat und Tigris sowie dem Totem Meer lag. Von dort aus breitete sich die jungsteinzeitliche Revolution schubweise vom 7. bis 2. Jtd. v. Chr. südwestlich in Nordafrika sowie westlich, nordwestlich und nordöstlich in ganz Europa aus[78].
Der Begriff der „neolithischen Revolution“ stammt von dem marxistischen Archäologen Vere Gordon Child und ist umstritten. Gegner halten diesen Terminus für verfehlt und irreführend, weil ein Prozess, der sich über mehrere Jahrtausende hinzieht ihrer Meinung nach nicht als Revolution, sondern nur als Evolution bezeichnet werden kann. Meines Erachtens ist dieser Streit aus zwei Gründen müßig: Zum einen dürfte feststehen, dass die Neolithisierung, egal wie man diesen Vorgang auch immer benennen mag, einer der größten menschheitsgeschichtlichen Umbruchprozesse war. Zum anderen ist der Zeithorizont, aus dem die Neolithisierung jeweils betrachtet wird, relativ. Gemessen an den verschiedenen Revolutionen der Moderne ist die Neolithisierung ein evolutionärer Prozess, gemessen an der Menschheitsgeschichte, die ungefähr 2 Millionen Jahre umfasst, kann dieser Prozess mit Fug und Recht als revolutionär bezeichnet werden, insbesondere wenn man bedenkt, wie tiefgreifend, differenziert und folgenreich die genannten drei Übergänge waren. Dies zeigen nicht zuletzt auch neuere Forschungsergebnisse[79].
Wenn man eine Landkarte mit der schubweisen Ausbreitung der neolithischen Revolution in Europa betrachtet[80] und diese mit den Ortsangaben aus dem Dodekathlos des Herakles vergleicht, dann mutet diese Karte wie eine Wegbeschreibung des Revolutionsheros an....