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Herausforderndes Verhalten von Menschen mit geistiger Behinderung. Eine Herausforderung für Psychiatrie und Heilpädagogik

AutorUwe-Eduard Zeides
VerlagGRIN Verlag
Erscheinungsjahr2012
Seitenanzahl158 Seiten
ISBN9783656180340
FormatePUB/PDF
Kopierschutzkein Kopierschutz/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis39,99 EUR
Diplomarbeit aus dem Jahr 2003 im Fachbereich Soziale Arbeit / Sozialarbeit, Note: 1,3, Hochschule Niederrhein in Mönchengladbach (Fachbereich Sozialwesen Studiengang Sozialarbeit), Sprache: Deutsch, Abstract: In der vorliegenden Arbeit wird untersucht, welche Herausforderungen sich ergeben bei einer Betreuung und/oder Behandlung von Menschen mit geistiger Behinderung, die herausforderndes Verhalten zeigen. Der Titel der Arbeit deutet bereits darauf hin, dass sich dabei einige Fragen stellen, die als Grundlage zunächst beantwortet sein wollen. Nach einer kurzen Erläuterung dazu, was mich persönlich mit diesem Thema in Berührung kommen lies, wird in Kapitel 3 der Begriff 'herausforderndes Verhalten' diskutiert und abgegrenzt von Bezeichnungen, die den gleichen oder einen ähnlichen Sachverhalt definieren (sollen). Zudem wird darauf hingewiesen, dass die Terminologie von Begriffen wie zum Beispiel 'Aggression' stigmatisierend sein kann. In Kapitel 4 wird der ICD-10 vorgestellt, der als Diagnoseschlüssel dazu dient, bestimmte Verhaltensweisen mittels einer differenzierten Symptomatik konkret zu benennen. Insbesondere die Definition von 'geistiger Behinderung' ist hier von entscheidender Bedeutung. Ferner werden die konkreten Diagnosen der in dieser Arbeit betrachteten Fallbeispiele dargestellt. Daran anschließend werden in Kapitel 5 ausgewählte Behandlungskonzepte vorgestellt und diskutiert. Wichtig ist hierbei vor allem die Unterscheidung verschiedener Therapie- oder Verfahrensformen voneinander. In Kapitel 6 wird untersucht inwieweit die vorgestellten Behandlungskonzepte in der Praxis überhaupt berücksichtigt werden. Forschungsgrundlage waren zahlreiche Gespräche und Interviews mit Mitarbeitern aus verschiedenen Professionen und Einrichtungen. Dabei zeigt sich, dass es zwar kein einheitliches, theoretisches Konzept für geistig behinderte Menschen mit herausforderndem Verhalten gibt, aber durchaus erfolgreiche Einzelfalllösungen. Letzteres stimmt auch mit meinen persönlichen Erfahrungen überein, die in Kapitel 7 anhand von drei ausführlichen Fallbeispielen dargelegt werden. Auch hier in Abstimmung mit den betreuenden bzw. behandelnden Mitarbeitern der verschiedenen Einrichtungen. Kapitel 8 widmet sich neueren Ansätzen der Forschung wie Empowerment, Video-Interaktions-Begleitung und Deeskalationsstrategien und stellt einen Zusammenhang zu den Fallbeispielen her. Im Fazit wird schließlich versucht, die wissenschaftlichen Forschungen in einen Gesamtkontext zu stellen, der die operative Zusammenarbeit verschiedener Professionen und Einrichtungen optimieren soll. [...]

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Leseprobe

2 Szenen aus dem Alltag


 

2.1 Warum interessiert mich dieses Thema?


 

Ersten Kontakt mit diesem Thema hatte ich während meines Zivildienstes auf einer gerontopsychiatrischen Station in den Rheinischen Kliniken Mönchengladbach, von Januar 1991 bis April 1992. Dort habe ich mit psychisch kranken und geistig behinderten Menschen gearbeitet. Diese Erfahrungen haben mich sehr beeindruckt und veranlassten mich schon während meines Zivildienstes dazu, mich näher mit diesem Thema zu beschäftigen.

 

Dabei war es (und ist es noch heute) vor allem die Individualität jedes Einzelnen, das Einzigartige, das jeden Menschen an sich auszeichnet, was mich besonders interessierte. Deshalb stellte sich quasi wie von selbst die Frage: Inwieweit dieser Individualität und den damit verbundenen Persönlichkeitsstrukturen und im Hinblick auf eine Ziel gerichtete Behandlung Rechnung getragen wird. Im Grunde war es nichts anderes als ein Hinzulernen - oder der Erwerb von Menschenkenntnis.

 

Seit 1996 studiere ich nun Sozialarbeit und habe Zeitverträge als Pflegehelfer in der Rheinischen Klinik, wo ich auf verschiedenen Stationen[1] eingesetzt werde. Durch die praktische Arbeit in der Klinik und der theoretischen Kenntnis, die ich während des Studiums erwerbe, habe ich interessante Phänomene beobachtet, z.B. Aktion und Reaktion, Nähe und Distanz oder analytische Beobachtung und Authentizität. Was mich wiederum zur Fachliteratur gebracht hat. Mit besonderem Augenmerk auf „Herausforderndes Verhalten“ wie Stereotypien, Verweigerung, Einnässen, Einkoten, Inaktivität sowie autistische Symptomatik, lautes Schreien und psychische Erkrankungen und vor allem aggressive Verhaltensweisen.

 

Aggressives Handeln von Menschen mit geistiger Behinderung tritt zum Beispiel bei Monika Seifert als Sachaggression, Fremdaggression und autoaggressives Verhalten zu Tage. Und interessant ist auch die Erkenntnis, dass das häufig als „nerviger Spleen” verkannte Verhalten möglicherweise nur ein, den Möglichkeiten des Menschen mit geistiger Behinderung entsprechendes Handeln ist, das seinen Bedürfnissen Aus- oder Nachdruck verleiht[2].

 

2.2 Konkrete Szenerie


 

So schien mir jedenfalls meine Begegnung mit Herrn X. und Hr. Y., die ich während meiner Tätigkeit als Pflegehelfer in den Rheinischen Kliniken auf den Akutaufnahmestationen kennen gelernt habe.

 

2.2.1 Bericht über Hr. X.[3] (Geb. 1954)


 

Hr. X. ist ein geistig behinderter Mensch mit schweren Verhaltensstörungen, die sich in Form von Impuls gesteuerten, aggressiven Ausbrüchen und psychotischen Episoden äußern. Immer wieder kommt es raptusartig[4], ohne oder mit äußerem Anlass, zu aggressiven Impulsdurchbrüchen in Form von Schreianfällen, Schlagen des Personals, Werfen von Mobiliar und Zerreißen der Kleidung, um nur einige Formen zu nennen. Hr. X. zeigt sich nicht geduldig und frustrationstolerant. Wenn seine Bedürfnisse nicht sofort befriedigt werden, reagiert er mit schweren Verhaltensstörungen. Fixierungsmaßnahmen und Zimmerverriegelungen werden phasenhaft täglich erforderlich, wenn eine akute Fremdgefährdung vorliegt.

 

Wie sich im späteren Verlauf seiner Krankheitsgeschichte herausstellte, war der Grund seines aggressiven Verhaltens meist sein psychotisches Erleben, hin und wieder gewann man jedoch den Eindruck, dass Hr. X. durchaus ein Ziel verfolgt, nämlich z.B. in den Park gehen oder Süßigkeiten essen, welches er mit diesem Verhalten durchzusetzen versuchte.

 

2.2.2 Bericht über Hr. Y. (Geb. 1981)


 

Noch deutlicher waren diese offenbar Ziel gerichteten Verhaltensweisen im Fall von Hr. Y. zu erkennen. Eine sinnvolle Verständigung war mit Hr. Y. nicht möglich, da er auf Fragen meist nur mit „gut“ oder „danke“ reagierte. Auffällig war einerseits, dass Hr. Y. zeitweise ohne ersichtlichen Anlass laut lachte oder auch Selbstgespräche führte, weshalb Wahrnehmungsstörungen nicht ausgeschlossen werden konnten, andererseits das vollkommen überprotektive Verhalten der Mutter, die Hr. Y. überhaupt keine Grenzen setzen kann und ihn gerne auch auf Station versorgte.

 

Da Hr. Y. unter medikamentöser Behandlung nach einem ca. zweiwöchigen Klinikaufenthalt zunächst keine aggressiven Tendenzen mehr gezeigt hatte, fand eine Beurlaubung zur Belastungserprobung über Nacht statt. Diese verlief laut Angaben der Mutter unproblematisch. Am darauf folgenden Morgen gegen 4.00 Uhr trat dann bei Hr. Y. ein extremer Erregungszustand auf. Er zertrümmerte dabei das Mobiliar im Tagesraum und zerschlug mehrere Tür- bzw. Fensterscheiben. Verbal war er in keinster Weise zugänglich. Da es selbst durch Hinzuziehung sämtlicher verfügbarer Mitarbeiter der Klinik nicht möglich war, Hr. Y. (Körpergewicht: 133 kg) zu überwältigen, musste die Polizei um Amtshilfe gebeten werden. Dieser gelang es ebenfalls erst durch Einsatz eines „Pfeffersprays“, Hr. Y. zu überwältigen. Nach kompletter Fixierung[5] erhielt Hr. Y. je 10 mg Haldol und Diazepam[6] i.v. (intravenös).

 

Auch bei diesem Fallbeispiel liegt die Vermutung nahe, dass dem Verhalten des Hr. Y. eine Ziel gerichtete Motivation zu Grunde lag, vermutlich sein Bedürfnis zu seiner Mutter zurück zu kehren. Diese Vermutung erhärtete sich in den folgenden Tagen. Hr. Y. war jeweils nach Besuch seiner Mutter völlig auf seine sofortige Entlassung eingeengt, was sich durch eine extrem gesteigerte Unruhe äußerte. Im Verlaufsbericht[7] der Aufnahmestation heißt es erklärend: „Die Ursache dieses Verhaltens (...) könnte jedoch Ausdruck des Bedürfnisses nach Zuwendung sein (...)“.

 

2.3 Szenen aus der Literatur


 

Diese und andere Erfahrungen in der Rheinischen Klinik sowie meine Studien an der Hochschule Niederrhein, zum Beispiel das Seminar „Deeskalationsstrategien“[8] oder auch die Schwerpunkte „Arbeit mit Kranken und Behinderten“[9] und „Krisen-Konflikt- Interventionen“[10] animierten mich dazu, in der Literatur nach ähnlichen Beispielen zu suchen.

 

So wurde ich zunächst auf ein Buch von Jacques Heijkoop[11] aufmerksam. Zusammenfassend könnte man sagen, dass es darum geht, dass Herausforderndes Verhalten zwar Ziel gerichtet motiviert sein kann, jedoch nicht unbedingt bewusst gesteuert sein muss. „Das Problemverhalten hat nicht selten die Funktion einer „Notbremse“.“, sagt Heij- koop etwa, gleicht also einem impulsiven Verhalten in einer extremen Stresssituation. Eine ratlose Panik, eigentlich in sich selbst isoliert, die sich in Herausforderndem Verhalten eine Art Ventil sucht, das den Zustand wiederum stabilisiert. Ausbruch und Ruhe.

 

2.3.1 Hans[12]


 

So zum Beispiel bei Hans. Wenn Hans eine Situation nicht mehr überblicken kann, wenn seine Umgebung zu chaotisch für ihn wird, neigt er dazu, Schläge auszuteilen. So verschafft er sich die unumgängliche Klarheit, wer sich mit ihm beschäftigt, wer an welcher Stelle sitzt oder steht. Dann kann er allem wieder folgen. Sein Problemverhalten hat ihm Übersicht und Klarheit verschafft.

 

Die Bedeutung dieses Verhaltens kann in diesem Beispiel aus dem inneren Erleben von Hans verstanden werden. Um einer noch schlimmeren Panik oder Unruhe zuvorzukommen, scheint es für ihn hilfreich, sich in Handlungen und Gedanken einzukapseln. Dieses Verhalten scheint ohne Funktion für sein inneres Erleben oder für die äußere Umgebung zu sein. Es ist allerdings deutlich zu sehen: Hans ist ratlos. Hier stellt sich nun die Frage: „Was kann man tun“? Die Antwort könnte lauten: Beobachten. Was sich auch bei Herrn Y. und Herrn X. in den Rheinischen Kliniken als wichtige Voraussetzung gezeigt hat zur Analyse des Verhaltens und damit als Folge zur Erstellung der Pflegeplanung .[13]

 

2.3.2 Henny[14]


 

Ähnlich ist bei Heijkoop auch das Problemverhalten bei Henny zu sehen.

 

Henny konnte durchaus etwas sprechen. Während der letzten Jahre spricht sie nicht mehr. Sie kreischte immer häufiger und auch durchdringender. Das Gekreisch wird zunehmend als lästiger erfahren, man möchte, dass sie es lässt. Man hat sie an einen anderen Platz gesetzt, man hat eindringlich mit ihr gesprochen, man hat es mit Spiel versucht - nichts hat geholfen. Es änderte sich erst dann etwas, als man auf der Videoaufnahme[15] feststellte, dass Henny aus ihrer Ecke heraus alles mit Augen und Ohren verfolgt. Meist fängt sie dann an zu kreischen, wenn jemand hereinkommt, der sie nicht beachtet, oder wenn die anderen Kinder irgendwas außerhalb ihres Gesichtsfeldes tun.

 

Nachdem die Funktion des Problemverhaltens erkannt wurde, war es einfacher, Alternativen zu finden und das Problemverhalten durch weniger „schmerzhafte“ Verhaltensweisen zu ersetzen. So verringerte sich das Gekreische als jeder Betreuer sie begrüßte, auch wenn sie etwas abseits saß.

 

Ein schönes Beispiel, finde ich, das auch zeigt, dass durch Beobachtung unter Berücksichtigung der Individualität und Umgangsweisen erkannt werden kann, welche Bedürfnisse des Menschen mit geistiger Behinderung durch Herausforderndes Verhalten Ausdruck verliehen werden soll.

 

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