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Im Kopf des Terrors

Töten mit und ohne Gott

AutorNajem Wali
VerlagResidenz Verlag
Erscheinungsjahr2016
Seitenanzahl160 Seiten
ISBN9783701745395
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis13,99 EUR
Eine kritische Kulturgeschichte des Terroristen, der sich auf Gott beruft und ihn durch seine Taten leugnet. Aus der Reihe 'Unruhe bewahren' in Kooperation mit der Akademie Graz und DIE PRESSE Wenn Terroristen in Paris in die Menge schießen und Dutzende Menschen ermorden, wenn die Tugendwächter der Französischen Revolution Tausende enthaupten lassen, um 'aufklärerische Ideale'zu verwirklichen, aber auch wenn Dostojewskis 'Dämonen' morden, weil ihr Nihilismus ihnen jedes moralische Empfinden raubt - was geht dann in ihnen vor? Warum machen sich Menschen zu Herren über Leben und Tod - und damit zu Gott? Auch wenn sie sich auf Gott oder ein politisches Ideal berufen, so Walis provokante These, dann gilt in Wahrheit genau das Gegenteil: Was all diese Mörder antreibt, ist die Faszination der Gewalt, das Gefühl absoluter Macht, der Wunsch, tödliche Angst zu verbreiten und das soziale Fundament des Vertrauens zu zerstören.

Najem Wali wurde 1956 im irakischen Basra geboren, wurde als anders Denkender inhaftiert und gefoltert. Er flüchtete 1980 nach Ausbruch des Iran-Irak-Kriegs nach Deutschland. 1988 Abschluss des Germanistikstudiums in Hamburg und anschließend Studium der spanischen Literatur in Madrid. Er war langjähriger Kulturkorrespondent der arabischen Tageszeitung Al-Hayat und schreibt regelmäßig u. a. für die Süddeutsche Zeitung, die NZZ, die taz und den Spiegel. Er veröffentlichte zahlreiche Romane und Erzählungen. Zuletzt erschien sein Roman 'Bagdad Marlboro', für den er den Bruno-Kreisky-Preis für das politische Buch 2014 erhielt, sowie 'Bagdad. Erinnerungen an eine Weltstadt' (2015). Wali lebt als freier Schriftsteller und Journalist in Berlin.

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Leseprobe

Einleitung


Vor zweieinhalb Jahren, im Frühjahr 2014 also, sprengten sich in der irakischen Hauptstadt Bagdad vier Selbstmordattentäter in die Luft. Die Überraschung, mit der die Medien noch am selben Tag aufzuwarten hatten, war aber, dass die vier, alle zwischen Anfang und Mitte zwanzig, aus Deutschland stammten und deutsche Staatsbürger waren. Und mehr noch: Sie waren nicht bloß im Besitz der deutschen Staatsbürgerschaft, sondern hatten sogar deutsche Väter und Mütter, sie waren mithin – einer später erfolgten Klassifizierung nach – »biologische« Deutsche ohne »Migrationshintergrund«, so die in offiziellen Verlautbarungen und von Experten (oh ja, so viele Experten gibt es heutzutage!) derzeit benutzte Bezeichnung für Kinder von Zuwanderern.

Das war der Zeitpunkt, zu dem eine ganze Reihe von Menschen im Irak von Verwunderung erfasst wurden, unter ihnen auch meine Schwester, die in einem der Außenbezirke von Bagdad wohnt. Wie sollte sie, die drei Kinder hat, von denen das älteste in diesem Jahr an die Universität gekommen ist, und die davon träumt, ihren Kindern ein Studium in Europa zu ermöglichen – wie sollte sie auch verstehen können, dass dieses Europa, das für sie immer ein Leuchtturm des Wissens und der Aufgeklärtheit war, vier junge Selbstmordattentäter losgeschickt hat, um mit ihren Autobomben eine möglichst große Anzahl von Irakern zu töten? Und dies nur aufgrund der schiitischen Glaubensrichtung dieser Menschen?

Es falle ihr schwer zu begreifen, was geschehen sei, sagte sie mir bei einem Telefongespräch. »Kannst du mir das erklären, du, der du seit drei Jahrzehnten in Deutschland lebst?« »Ich verstehe es auch nicht«, antwortete ich, um ihr nicht zu sagen, was ich in eben jenem Augenblick dachte, jedoch für mich behielt. Denn ich hätte ihr gesagt: »Die haben das aus Langeweile gemacht.« Doch ich verkniff es mir, behielt es für mich, denn sicher hätte sie meine Antwort als Scherz aufgefasst. Und als nichts Anderes.

Was damals passiert ist, war nur die Ouvertüre zu dem, was schon bald traurige Alltäglichkeit werden würde. Denn seit dem 9. Juni 2014, dem Tag, an dem der IS die Stadt Mossul erobert und etwas errichtet hat, was am 29. Juni fälschlich als Kalifat des »Islamischen Staates« bezeichnet wird, mit einem ihrer Führer, dem Iraker Ibrahim Awwad Samirani, besser bekannt als Abu Bakr al-Bagdadi, als selbst ernanntem Kalifen, ist der Anblick »biologisch« ausländischer Selbstmordattentäter ein vertrauter geworden. Parallel zur Einwanderung hunderter junger Männer und Frauen aus muslimischen Familien kamen damals dutzende junge Männer und Frauen europäischer Herkunft ins Land, um gegen die »Ungläubigen« zu kämpfen und diese zu töten, junge Männer und Frauen, von denen einige erst kurz vor ihrer Reise zum Islam gefunden hatten, andere noch nicht einmal genug Zeit gehabt hatten, das fünfmal am Tag zu verrichtende Gebet zu erlernen – eine der fünf Säulen des Islam, deren Befolgung verpflichtend für jeden Muslim ist. Ja, die meisten dieser »internationalen« Gotteskrieger dürften in ihrem Leben noch nicht einmal in einer Moschee gewesen sein und ihr Wissen über den Islam haben sie nur aus dem Internet bezogen.

In den zwei Jahren, die seit der Eroberung Mossuls durch den IS vergangen sind, ist die Zahl der europäischen Terroristen angewachsen und mit ihr die der Terroranschläge, es scheint ein Wettstreit stattzufinden zwischen den Terroristen islamischer Herkunft und ihren »bio-europäischen« Kameraden. Richtig ist, dass beide Gruppen gleichzeitig entstanden, gewachsen sind und mindestens eine gemeinsame allgemeine Unterweisung erhalten haben. Das zumindest versucht uns die offizielle Politik der europäischen Staaten weiszumachen. Richtig ist auch, dass beide Gruppierungen ein gemeinsames Ziel teilen, nämlich die Tötung und Vernichtung einer möglichst großen Anzahl von »Ungläubigen«, also all jener, die andere Ansichten oder eine andere Auslegung des Glaubens vertreten, seien es nun Zivilisten oder Militärs, all jene, die man des Abfalls vom wahren Glauben, des Polytheismus und der Heuchelei bezichtigen kann, weshalb ihr Blut zu vergießen ist und ihre Frauen gefangen zu nehmen sind. Dennoch unterscheiden sich die Beweggründe der beiden Gruppierungen, in Terror und Mord Zuflucht zu suchen.

Unterdessen hat parallel dazu eine gegenläufige Abwanderung in Richtung Europa eingesetzt: Die Zahl der jungen Migranten, die aus Gebieten stammen, in die der IS vorgestoßen ist, oder aus daran angrenzenden Regionen, welche die Bedrohung durch den IS spüren, ist in den letzten zwei Jahren markant angestiegen. Gar nicht zu reden von der Flucht etlicher schiitischer Kämpfer, die der sogenannten schiitischen »Volksmobilisierung« (al-Haschd ash-sha’abi) angehörten. Die meisten dieser jungen Männer haben resigniert, sie haben in der Provinz al-Anbar und in Mossul an den Brennpunkten gekämpft, an den gefährlichsten Frontabschnitten, einerseits wissend, dass sie von den Bewohnern, für deren Befreiung sie angetreten waren, gehasst wurden, und andererseits gezwungen, die Korruptheit und Käuflichkeit der eigenen militärischen und politischen Führung mitzuerleben, während sie selbst über Monate keinen Sold erhielten.

Eines müssen wir erkennen: Wir stehen vor einem Modell, das mit zwei konträren Phänomenen aufzuwarten scheint, einer Wanderbewegung aus dem Norden, dem reichen Westeuropa, in die Kriegs- und Krisenregionen, und im Gegenzug einer Abwanderung aus den Krisenregionen, aus dem armen, verwüsteten und perspektivlosen Süden in Richtung Norden, in das reiche Europa. Oder wenn wir die Sprache der Religionen bemühen: eine Migration junger Frauen und Männer, die mehrheitlich christlich erzogen sind – wobei es keine Rolle spielt, ob sie tatsächlich christlicher oder muslimischer Herkunft sind, da in Europa das allgemeine Klima, die Schulen und die tagtäglichen sozialen Kontakte insgesamt christlich geprägt sind –, und auf der anderen Seite eine Abwanderung junger Frauen und Männer, die islamisch erzogen worden sind, wobei es auch hier unerheblich ist, ob es sich um Schiiten aus dem Irak oder Sunniten aus Syrien oder gar Christen oder Angehörige anderer religiöser Minderheiten handelt, da das allgemeine Klima, die Erziehung, die Schule, die Alltagskontakte, alles, was sich außerhalb des häuslichen Umfelds der Familie abspielt, einen islamischen Stempel trägt und sich die jeweiligen Lebenswirklichkeiten voneinander nur der Form nach unterscheiden. Die einen machen sich auf den Weg, um an Krieg und Morden teilzuhaben, und die anderen migrieren auf der Suche nach Arbeit und einem freien, sicheren Zufluchtsort. Was auch der Dialektik des Lebens entspricht: Tod und Leben sind zwei einander unvereinbar gegenüberstehende Pole.

Da mein Interesse in diesem Essay jenen gelten soll, die den Tod produzieren, und nicht jenen, die vor Tod, Hunger und Zerstörung fliehen, werden die nachfolgenden drei Abschnitte versuchen, den Terror selbst und seine mannigfaltigen Gesichter zu erforschen und zu untersuchen, seine Motive und seine Forderungen. Oder mit einem Wort: Wir werden eine Reise in den Kopf des Terrors unternehmen, sofern der Terror denn einen solchen hat, und dies gleichermaßen in der Literatur wie im wirklichen Leben.

Richtig ist, dass der Terror stets ein einziges Ergebnis zeitigt: den Tod. Doch es wäre falsch zu denken, dass wir eine Deutung des Terrors liefern könnten, ohne auf seine vielfältigen Gesichter zu sprechen zu kommen, auf seine verschiedenen Wesenszüge. Denn der Terror ist so alt wie die Menschheit, so vielfältig wie der Mensch und die Orte, an denen er lebt, und seine Gleichsetzung mit einer einzigen Seite, sei es dem Islam, dem Christentum oder dem Judentum, ist bloß eine Maske der Berichterstattung über den jeweils konkreten Terrorakt. Wollten wir uns einen kleinen Scherz erlauben, ließe sich sagen, dass Präsident Bush Junior, jener Bush Junior mit dem abstoßenden, gelangweilten Gesichtsausdruck, nicht in einem einzigen Punkt Recht hatte. Nicht in einem einzigen! Abgesehen von seiner bösartigen Dummheit, die ihn von der »Achse des Bösen« sprechen ließ, in der er fünf Staaten in einen Hut warf: den »sunnitischen Irak Saddam Husseins«, das »sunnitische Libyen Muammar Gaddafis«, den »schiitischen Ayatollahstaat Iran«, das »sunnitische Afghanistan der Taliban« und das »buddhistische, konfuzianische Nordkorea unter der Diktatur Kim Il-Sungs«. Eine erstaunliche, sonderbare Mischung, die Sunniten, Schiiten und Buddhisten in eins setzt!

»Erzähl nie nur eine Geschichte, sonst kentert das Kanu«, lautet eine alte Indianerweisheit, überliefert von dem amerikanischen Schriftsteller und Weltenbürger Ernest Hemingway, der den Indianern als...

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