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Im Schatten des Kreml

Unterwegs in Putins Russland | Der ARD-Experte über Russlands verborgene Seiten

AutorUdo Lielischkies
VerlagVerlagsgruppe Droemer Knaur
Erscheinungsjahr2019
Seitenanzahl496 Seiten
ISBN9783426454015
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
Udo Lielischkies kennt Russland wie nur wenige - seit Wladimir Putin 1999 an die Macht kam, berichtete er für die ARD aus dem riesigen Land. In seinem Buch schreibt er über die Politik des Kreml, das Leben in der atemlosen Metropole Moskau, vor allem aber - mit viel Empathie - über beeindruckende Menschen in den Weiten der russischen Provinz: Den kämpferischen Landarzt im Ural, den todesmutigen Reporter in Togliatti, die Bauern im südlichen Krasnodar, denen Agrarkonzerne die Ernte stehlen, und den gefangenen Soldaten im Tschetschenienkrieg. 'Im Schatten des Kreml' ist ein bestechender, authentischer Blick auf das heutige Russland. 'In diesem Buch wird die ganze Wahrheit des heutigen Russlands lebendig. Aus vielen kleinen Details und ihren Zusammenhängen entsteht ein authentisches Bild des Landes. Udo Lielischkies verbindet aufrechte Zuneigung den russischen Menschen und ihrer Kultur gegenüber mit Kritik am autoritären Regime - und beides begründet er glaubhaft.' Viktor Jerofejew

Udo Lielischkies, geboren 1953 in Köln, war seit 1980 für den WDR tätig. 1994 wurde er Korrespondent im ARD-Studio Brüssel, wechselte 1999 nach Moskau und 2006 nach Washington. 2012 kehrte er nach Moskau zurück und war dort von 2014 bis 2018 ARD-Studioleiter. Seine Filme erhielten drei Nominierungen für den Deutschen Fernsehpreis, weitere für Festivals in New York, Moskau und Monte Carlo.

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Leseprobe

Vorwort


Als ich Ende August 2018 mein Zimmer im ARD-Studio Moskau leer räume, erlebe ich einen schwierigen Moment: In mehreren Schränken stapeln sich alte Manuskripte, vor Jahren zusammengeheftet, mit Agenturmeldungen, Zeitungsartikeln, Interviews, Filmkonzepten, Notizen, Briefen. Die Entscheidung, dieses Buch zu schreiben, ist längst gefallen, jetzt gilt es, die Spreu vom Weizen zu trennen. Was kann ins Altpapier, was will ich mit nach Hause nehmen, als Gedächtnisstütze für die Episoden, von denen ich erzählen will?

Das Sortieren wird zur Zeitreise. Ich sitze auf dem Boden und blättere durch die Seiten eines Päckchens mit der Aufschrift »Russische Treibjagd«. Und auf einmal bin ich wieder in Belgorod, im Jahr 2002. Ich sehe mich einen Schritt zurücktreten und an die Wand lehnen, als könne diese mir Halt geben. Vor mir eine Frau, der in diesem Moment alles entgleitet, was sie bisher so sorgsam zu bewahren versuchte: ihre Haltung, ihren Stolz, ihre Scham. Natascha, die Lehrerin mit den schulterlangen Haaren, stets sorgfältig geschminkt und auch in schwierigen Momenten um Fassung bemüht, geht vor unserer Kamera auf die Knie. Tränen, vermischt mit Wimperntusche, ziehen dunkle Linien über ihr von tiefem Schmerz gezeichnetes Gesicht. Neben ihr fallen zwei weitere Frauen auf die Knie. Alle drei sind Mütter und alle drei falten ihre Hände wie zum Gebet. Ein Gebet, gerichtet an die Zuschauer in Deutschland, in der »ganzen zivilisierten Welt«, die sie anflehen, ihre Söhne zu retten, die ein Richter kurz zuvor zu acht Jahren in russischen Straflagern verurteilt hat.

Ich spüre, wie auch mir die Tränen in die Augen steigen. Ich kenne die Söhne dieser Frauen. Ich weiß, dass sie unschuldig sind. Ich habe lange genug die Gerichtsakten gelesen, mit Zeugen gesprochen. Ich habe gesehen, wie der Staatsanwalt die erlogene Anklage herunterleierte, wie der Gouverneur mit gesenktem Blick eilig unserer Kamera entfloh. Ich weiß, dass hier ein Urteil angeordnet wurde. Wie so oft. Ich weiß, dass russische Gerichte über 99 Prozent aller Angeklagten schuldig sprechen. Dass Verteidiger mit Staatsanwälten zusammenarbeiten und ihre Mandanten betrügen. Doch dieser Augenblick, in dem drei russische Mütter um Gerechtigkeit für ihre unschuldigen Söhne flehen, hat sich eingebrannt in mein Gedächtnis.

Seit fast zwanzig Jahren lebe und arbeite ich in einem Land, das viele solcher Momente hervorbringt: Augenblicke voller Wut, Leid und Resignation. Aber auch rauschhafte voller Lebenslust und stille, getragen von menschlicher Nähe. Vor allem aber beschert Russland mir so viel Rätselhaftes, Unverständliches und Widersprüchliches. Eine Sprache, die gefühlt mehr Ausnahmen als Regeln hat. Gesetze, die auf kafkaeske Art nicht zu befolgen sind. Wundersame Auswege aus Situationen, die ausweglos erscheinen. Aber auch das Gegenteil. Unzählige Reisen, Begegnungen, Interviews und Reportagen haben sich in vergangenen Jahren zu einem Eindruck verformt, festgehalten in Tagebucheinträgen, Stapeln von Manuskripten, Filmen für ARD-Reportagen, Analysen, Kommentare. Die Suche nach Fakten und Zusammenhängen ist journalistischer Alltag. Jenseits der konkreten »Story« waren meine Recherchen aber auch eine ständige Suche nach der verborgenen Textur der russischen Gesellschaft, nach der viel zitierten »russischen Seele«.

In meinem Bücherregal haben Analysen zu Russland und dessen Präsident Wladimir Putin längst die Oberhand gewonnen. Viele Kreml-kritische Bücher stehen da, vereinzelt auch wohlwollende. Deren Autoren geben die Sicht auf Russland und Putins Politik aus der Perspektive des Präsidenten und seiner loyalen Umgebung wieder. Es ist längst nicht mehr die meine. In einschlägigen sozialen Netzwerken werde ich seit einigen Jahren manchmal als »Russland-Hasser« bezeichnet. Sich dagegen zu wehren ist schwierig. Die Logik dieser Angreifer ist so schlicht wie falsch: Sie setzen journalistische Kritik an der Regierung Putin mit einer Verteufelung Russlands und seiner Menschen gleich.

»Russland-Hasser«? Was wohl meine beiden Töchter zu diesem Anwurf sagen würden? Noch sind sie zu klein, noch genießen sie unbeschwert die Sonne im Garten der Datscha, weit weg vom hektischen Moskau. Es ist zwanzig Jahre her, dass ich zum ersten Mal in dieses Familien-Refugium eingeladen wurde. Dort saß ich bald mit drei ehemaligen Obersten der Roten Armee schwitzend in der kleinen Banja, der russischen Sauna: mit dem Vater, dem Onkel und dem Großvater meiner Frau Katia. Mir war etwas mulmig zumute. Aber niemand zeigte Vorbehalte gegenüber dem neuen deutschen Familienmitglied. »Wir haben doch nicht gegen die Deutschen gekämpft, sondern gegen die Faschisten«, hörte ich damals zum ersten, aber längst nicht zum letzten Mal, während Großvater Alexei von den Schlachten der Roten Armee erzählte. Beerdigt haben wir ihn in seiner Uniform. Er hielt mich nicht für einen Russland-Hasser.

Meine russische Familie kennt, so wie die Mehrzahl der Fans, die zur Fußball-WM 2018 in dieses riesige Land kamen, Russland vor allem aus der Perspektive der großen Städte, allen voran Moskau: ein vom Rest des Landes abgekoppeltes Raumschiff, das Zentrum strahlend, glitzernd, ein filmreifes Panoptikum neureicher Selbstdarstellung. Bis in die Moskauer Peripherie strahlt der Glanz des großen Geldes. Metrolinien werden verlängert, immer neue Autobahnzubringer betoniert, gesichtslose Wohnsiedlungen schieben den Stadtrand unermüdlich vor sich her. Der Moloch Moskau wächst und wächst, der Rest des Landes entvölkert sich. In Moskau und Umgebung wird ein Viertel des russischen Bruttosozialprodukts erwirtschaftet. Die Stadt hat im Jahr vor der Fußball-Weltmeisterschaft 1,3 Milliarden Dollar in die Verschönerung von Parks, Straßen und Trottoirs gesteckt – mehr als das Gesamtbudget jeder anderen russischen Stadt mit Ausnahme Sankt Petersburgs. Moskau ist nicht Russland. Moskaus Zentrum ist Russlands Disneyland für das opulente Leben einer kleinen Elite.

Das Russland, das ich in den vergangenen zwei Jahrzehnten bereist habe, kennt meine russische Familie nicht. Auch, weil es im russischen Fernsehen so gut wie ausgeblendet wird. Es ist ein kaltes und dunkles Russland, vernachlässigt, verkommen, weitgehend vergessen. Ein riesiges Land, das den Preis bezahlt für das Leben einer kleinen, sehr reichen und sehr zynischen Elite. Vor allem von diesem Russland und seinen Menschen möchte ich in diesem Buch berichten: Von den Bauern in Krasnodar, denen mächtige Agrarkonzerne mit roher Gewalt die Ernte stehlen. Von Walentina, die für den Diebstahl von fünf Gläsern Eingemachtes viele Jahre ins Straflager ging. Vom Soldaten Sergei, der Tschetschenien überlebte und doch zugrunde ging. Von sterbenden Industriestädten, Dörfern im Ural und einer Beerdigung in Jekaterinburg. Von Schenja, dem Moskauer Lebenskünstler, und Bo Andersson, dem Automobil-Manager in Toljatti.

Mein Herz hängt an den Geschichten der beeindruckenden Menschen, die in ausweglosen Situationen einfach weiterkämpfen, für das Überleben ihrer Betriebe, ihrer Nachbarn, ihrer Freunde. Und oft auch nur für das Überleben von Gerechtigkeit. Sie sind die stillen russischen Helden, die niemand im fernen Moskau kennt, die mich aber bei meinen Reisen so faszinierten. Fast nie endeten ihre Geschichten mit einem Triumph der guten Sache. Fast immer behielten zynische Geschäftsleute, Lokalpolitiker, Geheimdienstler, Richter oder Staatsanwälte die Oberhand. Denn diese Menschen leben im Russland Wladimir Putins. Ein eng gewirktes Netz von Abhängigkeiten, Drohungen, Erpressung und Korruption hat das Land in eine Putin-Matrix verwandelt, die die Selbstbedienung jener unersättlichen Elite absichert, die dem Präsidenten loyal zur Seite steht.

Es gibt inzwischen nur noch wenige russische Journalisten, die es wagen, über dieses System zu berichten. In meinen Filmen waren sie noch lebendig: der Chefredakteur Waleri zum Beispiel, der auf dem Stuhl seines gerade ermordeten Vorgängers Alexei schon ahnte, dass auch er nicht mehr lange die kriminellen Vorgänge im riesigen Automobilwerk von Toljatti würde recherchieren können.

Oder Anna Politkowskaja, meine russische Kollegin von der Nowaja Gaseta, die ich im September 2004 am Flughafen traf. Wie ich war sie auf dem Weg zur dramatischen Geiselnahme in Beslan. Sie hätte vermitteln können zwischen den Terroristen und dem Kreml. Wohl darum kam sie nie in Beslan an, wurde im Flugzeug vergiftet, überlebte aber. Bei einem Abendessen in Moskau 2005 wollte sie darüber nicht reden. Aber sie lachte viel an jenem Abend. Ein Jahr später, am 7. Oktober 2006, wurde sie im Aufzug ihres Wohnhauses in Moskau erschossen.

Das System Putin hat auch Auswirkungen auf Russlands Nachbarn und das Verhältnis zum Westen. Ich war Augenzeuge auf dem Maidan, der Krim und in der Ost-Ukraine. Das waren intensive Momente, in denen ich, obwohl im Nachbarland Ukraine, viel über Russland gelernt habe. Weil die Ereignisse in Kiew, Simferopol, Donezk und Luhansk solch gravierende Auswirkungen für Russland und sein Verhältnis zum Westen haben, schreibe ich auch über die sogenannte Ukraine-Krise, die in Wahrheit ein Krieg ist. Inzwischen, so die letzten Zahlen, sind im ukrainischen Donbas über 13000 Menschen gestorben. Weil Wladimir Putin auf Gewalt setzte, hat er einen kulturell, wirtschaftlich und politisch eng verbundenen Nachbarstaat entfremdet und auf lange Zeit verloren.

Jede Recherche, jede Reise, jede Begegnung erzeugte über die vielen Jahre hinweg einen kleinen Tupfer auf dieser großen Leinwand von Russland. Wenn ich einen Schritt zurücktrete, werden...

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