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E-Book

Individuum und Gesellschaft

Das Problem der Vermittlung

AutorNicole Borchert
VerlagGRIN Verlag
Erscheinungsjahr2012
Seitenanzahl82 Seiten
ISBN9783656335955
FormatPDF/ePUB
Kopierschutzkein Kopierschutz
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis29,99 EUR
Magisterarbeit aus dem Jahr 2007 im Fachbereich Pädagogik - Wissenschaft, Theorie, Anthropologie, Note: 1,7, Technische Universität Darmstadt (Institut für Allgemeine Pädagogik), Sprache: Deutsch, Abstract: Allgemein wird im umgangssprachlichen Gebrauch unter dem Begriff Vermittlung eine Art Schlichtung verstanden, welche von einer dritten Instanz zwischen zwei Parteien ausgeht. So soll beispielsweise eine dritte, vermeintlich neutrale Person zwischen zwei in Streit geratene Menschen 'vermitteln', indem sie beide Seiten anhört und die Diskussion auf ein friedliches Ende hin lenkt. Dabei versucht diese Person die Interessen beider Parteien zu berücksichtigen und möglichst eine Einigung herbeizuführen, die den Bedürfnissen beider entspricht. Der lateinische Terminus Mediation, der übersetzt 'Vermittlung' bedeutet, be-schreibt die 'harmonisierende Vermittlung bei persönlichen oder sozialen Konflikten', wie zum Beispiel zwischen Scheidungsparteien (Duden Band 5: 615). Die verschiedenen Verwendungsweisen des Begriffes stimmen dahin gehend überein, dass Vermittlung etwas ist, was zwischen zwei Seiten beziehungsweise zwischen zwei oder mehreren Subjekten stattfindet. Vermittlung gehört demnach auch zur sozialen Interaktion und setzt eine Beidseitigkeit in dem Sinne voraus, dass eine gegenseitige Bezugnahme erfolgen muss. Was durch diesen Prozess generiert wird, trägt zwar Teile von beiden Seiten in sich, ist aber dennoch etwas völlig 'Neues', das weder dem einen noch dem anderen ähnlich ist. Sprechen wir in diesem Kontext von 'Vermittlung', impliziert eine gegenseitige Bezugnahme auch eine wechselseitige Einflussnahme beziehungsweise Beeinflussung. Dies hat weiter gedacht zur Folge, dass durch die Vermittlung zwischen Individuum und Gesellschaft beide Parteien stetig eine mehr oder weniger gravierende Veränderung erfahren; der gesellschaftliche Kontext hat Einfluss auf das Verhalten und Denken der einzelnen Person, sowie die Verhaltensweisen der Mitglieder einer Gesellschaft diese selbst transformieren. Individuum und Gesellschaft befinden sich seit jeher in einem korrelativen Verhältnis, das auch als ein Abhängigkeitsverhältnis zu beschreiben ist. Einerseits hat man oft das Gefühl, durch die in einer Gemeinschaft notwendige Anpassung ein Stück 'Freiheit' aufzugeben, auf der anderen Seite wird uns gerade in diesem gesellschaftlichen Bereich auch wieder eine gewisse Freiheit eingeräumt. Diese Diskrepanz zwischen Anpassung und dadurch subjektiv eingebüßte, aber gleichzeitig auch daraus resultierende Freiheit macht Vermittlung, verstanden als reflexive Bezugnahme zwischen dem Einzelnen und dem sozialen Umfeld, zu einem komplexen Unterfangen.

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Leseprobe

3. Der Beginn der Vermittlung

 

3.1 Ich und Selbst

 

Das Konzept des Selbst bildet den wichtigsten Ausgangspunkt für die Theorie der emotionalen Entwicklung von D.W. Winnicott. Die terminologische Verwendung von Ich und Selbst sind bei Winnicott etwas irreführend, da die Begriffe eine semantische Trennung und zugleich Verbundenheit implizieren, die wir im umgangssprachlichen Gebrauch meist nicht differenzieren.

 

Während man im Alltag das „Ich“ und „Selbst“ oft synonym zur Bezeichnung für eine bereits entwickelte Persönlichkeit gebraucht, verortet Winnicott im „Ich“ den Ausgangspunkt jeglicher Entwicklung. Er versteht jedoch das frühe Ich eines Säuglings nicht als eine Art „leere Hülle“, die durch Entwicklungsprozesse einfach gefüllt werden muss, sondern das Selbst muss als Ziel eines sich entwickelnden Ichs mitgedacht werden.

 

Im Gegensatz zu anderen psychoanalytischen Theorien versteht Winnicott nicht die Triebe als Ausgangspunkt der menschlichen Entwicklung, sondern eine naturgegebene Potenzialität, welche den Menschen als „Ich“ charakterisiert.

 

Das „ererbte Potenzial“ enthält demnach bereits die vollen Möglichkeiten zu einer individuellen Persönlichkeitsentwicklung und damit zusammenhängend auch eine angeborene „Tendenz zur Integration“. Winnicott selbst nennt diese Potenzialität auch das „primäre zentrale Selbst“, welches eine „Kontinuität des Seins erlebt und auf seine eigene Weise und in seiner eigenen Geschwindigkeit eine personale psychische Realität und ein personales Körperschema erwirbt“ (Davis/ Wallbridge 1995: 52).

 

Aufgrund des vorhandenen Entwicklungspotenzials kann der Zustand des Säuglings als „Ich“ bezeichnet werden. Dieses Ich impliziert eine Bewegungskraft, die dem Menschen sozusagen in die Wiege gelegt worden ist und wodurch ihm eine Entwicklung erst möglich wird. Das Ich als „zentrales Selbst“ beschreibt Winnicott infolgedessen als Ursprung der Spontanität, Kreativität und des kindlichen Spiels (vgl. Davis/ Wallbridge 1995: 53).

 

Von einem Selbst kann nach Winnicott die Rede sein, wenn das Kind beziehungsweise der Mensch Teil seiner Umgebung geworden ist, also wenn er sich über die Tatsache bewusst ist, in und mit einer Umwelt zu leben.

 

Auch wenn Winnicott das Ich an den Anfang eines Lebens setzt, ist eine Abgrenzung von „Ich“ und „Ich bin“ nachzuvollziehen (vgl. Der Anfang ist unsere Heimat, 31f.); Winnicott betrachtet das Ich als die vorhandene Tendenz und Potenzialität zur emotionalen Entwicklung, unabhängig von den Bedingungen und Möglichkeiten dessen Realisierung. Mit der Begrifflichkeit „Ich bin“ ist hingegen schon der Beginn des Prozesses gemeint, den Winnicott als Integration bezeichnet. Um von der Verfasstheit eines „Ich bin“ sprechen zu können, muss eine Einheit zwischen Kind und Umwelt erkennbar sein, und das Kind muss sich auch selbst als eine solche Einheit wahrnehmen. Die Selbstwahrnehmung des Kindes als Teil seiner Umgebung geschieht nach Winnicott lange bevor das Kind dies äußern kann; „es kommt die Zeit, da das Kind, wenn es sprechen könnte, sagen würde: ICH BIN“ (Babys und ihre Mütter: 66).

 

Diese Entwicklungsstufe ist durch ein kindliches Erleben als „Ich bin“, und nicht etwa durch das Vermögen „Ich bin“ sagen zu können gekennzeichnet, da das Kind die Bedeutung verstehen kann, bevor es die Worte aussprechen kann.

 

Am Ende des Prozesses, welcher sowohl die psychische als auch die körperliche Entwicklung meint, steht das „Selbst“. Der beschriebene Zustand des „Ich bin“ ist Voraussetzung für die Herausbildung des Selbst, da das Kind durch das Erleben als „Ich bin“ sein Ich mit der Umwelt in Beziehung bringt. Erst durch diese Verknüpfung kann eine Integration im Sinne Winnicotts Theorie der emotionalen Entwicklung erfolgen. Das Selbst tritt jedoch nicht nur mit der es umgebenden Umwelt in Kontakt, sondern es ist in Form einer Wechselbeziehung integriert; „Das Wort ‚Selbst’ wird sinnvoll, wenn das Kind angefangen hat, seinen Intellekt zu benützen, um das anzuschauen, was andere sehen oder fühlen oder hören und was sie begreifen, wenn sie diesem Säuglingskörper begegnen.“ (Reifungsprozesse, 72f.).

 

Demzufolge kann man das „Ich“ als ererbte Potenzialität bei der Geburt, das „Ich bin“ als ersten (zunächst einseitigen) Kontakt mit der Umwelt und das „Selbst“ als Prozess der Vermittlung von Ich und Umwelt begreifen. Der Kontakt durch und mit der Umwelt ist notwendig für das Kind, um das vorhandene Potenzial überhaupt zu erfahren beziehungsweise erfahrbar zu machen; durch den Zustand des „Ich bin“ kann das im Ich liegende Potenzial zur Realität werden.

 

Dies geschieht über Objektbeziehungen, welche das Kind eingeht, sobald es die Existenz einer Umwelt außerhalb der Einheit Mutter-Kind wahrnimmt.

 

Die Wahrnehmung als „Ich bin“ schließt auch eine Negativabgrenzung mit ein; eine Auseinandersetzung mit der Umwelt ermöglicht demzufolge auch die notwendige Erfahrung eines „Ich bin nicht...“, wodurch die Wahrnehmung als „Ich bin...“ unterstützt wird. Das Selbst kann nur in diesen Sinnzusammenhängen existieren, da für ein Wissen über das eigene Sein auch ein Wissen über die Nichtzugehörigkeit dieses Seins erforderlich ist. Die Frage „wer bin ich?“ schließt die Frage „wer bin ich nicht?“ notwendig mit ein, zumindest stehen die Antworten auf beide Fragen in einem engen Zusammenhang.

 

An dieser Stelle ist es wichtig darauf hinzuweisen, dass unter dem Selbst nicht ein Zustand verstanden werden kann, der sich auf kurz oder lang einstellt; im Gegensatz zum anfänglichen Ich ist das Selbst nicht einfach da, sondern es muss durch Nutzung des naturgegebenen Potenzials herausgebildet werden. Dieser Prozess der Entwicklung des Selbst wird von verschiedenen Faktoren beeinflusst. Auch wenn Winnicott eine angeborene Tendenz zur Integration unterstellt, ist das „Gelingen“ derselbigen der Normalfall eines „gesunden“ Kindes; demnach kann nur bei einem psychisch und emotional „gesunden“ Menschen von der Existenz eines solchen Selbst ausgegangen werden (vgl. Davis/ Wallbridge 1995: 52).

 

Die Umwelt spielt hierbei eine tragende Rolle, da sie Integration fördern und zulassen, aber eben auch erschweren oder sogar verhindern kann. Das Selbst kann also als Prozess des „Werdens“ beschrieben werden, ein Werden, das gewollt und ermöglicht werden muss.

 

3.2 Ich-Integration

 

Das Kind kommt bereits als potenziell integriertes Wesen zur Welt. Zu Beginn des Lebens bildet der Säugling eine Einheit mit der Mutter, eine Verschmolzenheit, die mit dem Eintreten des Realitätsprinzips allmählich partiell aufgelöst wird. Aus der mütterlichen Einheit geht das Kind Stück für Stück in eine andere Einheit über, die der sozialen Umwelt.

 

Unabhängig vom Eintreten in das gesellschaftliche Umfeld betrachtet Winnicott den Säugling bereits im Alter von einem Jahr als Individuum mit einer integrierten Persönlichkeit. Sind bestimmte Umweltbedingungen gegeben, findet in diesem Zeitraum Integration statt; sie entsteht aus einem „primären unintegrierten Zustand“ (vgl. Familie und individuelle Entwicklung, 12 f.).

 

Auch wenn Integration aus einer Entwicklung heraus erfolgt und von den gegebenen Umweltbedingungen abhängt, betrachtet Winnicott Integration als den Normalzustand eines gesunden Menschen. Das Kind kommt jedoch nicht als bereits integrierte Person zur Welt, sondern mit einer natürlichen aktiven Tendenz zur Integration (vgl. Sesink 2002: 23). Die Umwelt sieht und empfängt das Kind bereits als Einheit, auch wenn das Kind für sich selbst nicht von Anfang an diese Einheit darstellt; „Der Beobachter kann von Anfang an sehen, dass ein Säugling schon ein menschliches Wesen, eine Einheit ist“ (Familie und individuelle Entwicklung, 12 f.).

 

Die Integration eines Menschen ist eine Entwicklungsaufgabe, die sich mit der Geburt stellt. Die Bedingungen für die Erfüllung dieser Aufgabe müssen von der gesellschaftlichen Umwelt gegeben werden. Diese Entwicklungsaufgabe stellt die Vermittlung zwischen Selbst und Umwelt dar; das „ererbte Potenzial“ als „Material“ (vgl. Sesink 2002: 25) muss in eine gesellschaftliche „Form“ gebracht werden. Dieser Prozess der Bezugnahme der Potenziale des Kindes auf die Objekte der Umwelt stellt die vermittelnde Integration dar.

 

Das Ich des Säuglings bildet den Ausgangspunkt und stellt noch keine integrierte Person dar, sondern die Tendenz zur Integration. Das Ich impliziert jedoch schon die Möglichkeiten eines Selbst, das sich unter der Bedingung einer „hinreichend fördernden Umwelt“ entwickeln und entfalten kann. Auf dem Weg zur psychischen Verfassung eines Selbst erreicht das Kind eine Stufe des „Ich bin“, einen „Zustand der Einheit, zu dem persönlichen Fürwort ‚ich’, zu der Ziffer eins; sie ermöglicht ein ‚ich bin’, das dem ‚ich tue’ erst einen Sinn gibt.“ (Der Anfang ist unsere Heimat, 31). Das „ich bin“...

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