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E-Book

Inklusion im Sekundarbereich

AutorEwald Kiel
VerlagKohlhammer Verlag
Erscheinungsjahr2014
Seitenanzahl166 Seiten
ISBN9783170263864
FormatPDF/ePUB
KopierschutzWasserzeichen/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis24,99 EUR
Die Inklusionsdebatte ist über weite Strecken geprägt von bildungspolitisch-programmatischen Statements. Die Frage nach den Umsetzungen und nach den Herausforderungen eines inklusiven Bildungssystems wird bislang selten gestellt. Vor allem der Unterricht in den weiterbildenden Schulen, gestaltet von den hier tätigen Lehrern, wird zu einer Nagelprobe der Inklusion. Das Buch wird diesen bislang kaum behandelten Schauplatz der Inklusion vor einem möglichst breiten Themenhorizont erschließen. Es bietet auf diese Weise Basiswissen dazu, wie die weiterführenden Schulen und die Lehrkräfte die an sie gestellte Aufgabe Inklusion im realen Unterricht bewältigen können.

Professor Dr. Ewald Kiel hat den Lehrstuhl für Schulpädagogik an der Ludwik-Maximilians-Universität München.

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Leseprobe

Was bedeutet Inklusion für das Anforderungsspektrum von Lehrerinnen und Lehrern in der Sekundarstufe?


Sabine Weiß


1          Einleitung


Mit der Verabschiedung der Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen (2009) verpflichtete sich die Bundesrepublik Deutschland unter anderem, ein inklusives Schulsystem zu schaffen. Mit der Umsetzung dieses Ziels sind tiefgreifende Veränderungen des Schulsystems, aber auch ein Wandel des Selbstverständnisses und des Anforderungsspektrums der Regelschulen verbunden. Doch muss hier die Regelschule differenziert betrachtet werden, denn der Inklusionsgedanke ist in den einzelnen Bildungsstufen unterschiedlich verankert (vgl. Bertelsmann-Stiftung, 2012): Der Anteil der Kinder und Jugendlichen mit einem diagnostizierten sonderpädagogischen Förderbedarf, die inklusiv unterrichtet werden, nimmt von Bildungsstufe zu Bildungsstufe ab. Während er in den Kindertageseinrichtungen noch bei mehr als zwei Dritteln liegt, beträgt er in weiterführenden Schulen nur noch 21,9 %. Betrachtet man Gymnasium und Realschule einzeln, sinkt die Quote auf nur 4,3% und 5,5%.

Diese Statistiken spiegeln sich in bestehenden Publikationen und Befunden wider. Diese sind weitgehend auf die Grundschule konzentriert, in der Inklusionsbemühungen schon weiter entwickelt sind (vgl. z. B. Dumke/Eberl, 2002; Kahlert, 2012). Gleiches gilt für das Selbstverständnis von Lehrerinnen und Lehrern. In weiterführenden Schulen ist der Gedanke, inklusiv zu beschulen, weniger fortgeschritten. Daher sind nicht nur institutionelle Reformen erforderlich, es muss sich auch das Selbstverständnis von Lehrpersonen ändern. Erschwert wird dies dadurch, dass Lehrerinnen und Lehrer, trotz einer positiven Grundstimmung gegenüber inklusiven Maßnahmen, Unsicherheit und Schwierigkeiten kommunizieren (Amrhein, 2011; Avramidis/Bayliss/Burden, 2000; Eberl, 2000). Diese lassen sich subsummieren in einer Unklarheit bezüglich des Anforderungsspektrums der Arbeit mit Schülerinnen und Schülern mit Förderbedarf sowie einer fehlenden diesbezüglichen Ausbildung – Befunde, die bereits seit den ersten Forschungsansätzen zum Gemeinsamen Unterricht bestehen (Dumke, 1989; Larrivee, 1981; vgl. auch die Metaanalyse von Center/Ward, 1987).

Soll sich das Selbstverständnis von Lehrerinnen und Lehrern ändern, müssen diese Klarheit über die neuen Aufgaben und Anforderungen erhalten und auch dafür ausgebildet werden (Ainscow, 2007; Biewer/Fasching, 2012). An dieser Stelle setzt die in diesem Kapitel vorgestellte Untersuchung an, die der Identifikation von Anforderungen der Arbeit mit Schülerinnen und Schülern mit Förderbedarf in der Sekundarstufe nachgeht.

2          Die Identifikation von Anforderungen an Lehrpersonen in der Arbeit mit Schülerinnen und Schülern mit Förderbedarf


Die Untersuchung von Anforderungen im Lehrerberuf


Die Auseinandersetzung mit der Identifikation von Anforderungen im Lehrerberuf ist in Deutschland stark beeinflusst worden von der Einführung von Standards in den USA (z. B. NBPTS, 2003). Ansätze der Standardisierung verfolgen das Ziel, verbindliche Anforderungen an das Lehren und Lernen zur Sicherung und Steigerung der Qualität pädagogischer Arbeit zu etablieren. Die Standards sollen Eltern, Lehrpersonen, Schülerinnen und Schüler sowie die Bürokratie über verbindliche Ziele orientieren und ein Monitoring des Erreichens dieser Ziele möglich machen (Klieme et al., 2003). Solchen Standards fehlt, in Deutschland wie in den USA, häufig eine empirische Überprüfung. Es gibt wenig konkrete Umsetzungsvorschläge für den Unterricht, die mangelnde Integration verschiedener Standards in ein Gesamtkonzept von Lehrerbildung wird beklagt (Borko/Whitcomb, 2008). Gleiches gilt für die Arbeit mit Schülerinnen und Schülern mit Förderbedarf. Auch die einzelnen Förderschwerpunkte unterliegen dem Trend der Standardisierung (KMK, 1994; Verband Sonderpädagogik, 2009) – und auch diese Standards werden vielfältig kritisiert, z. B. aufgrund mangelnder Konkretion, eines hohen Allgemeinheitsgrades und geringer Operationalisierbarkeit (Berner/Halbheer, 2011; Wember/Prändl, 2009).

Daneben bestehen verschiedene Ansätze und Studien, die auf die Anforderungen an Lehrpersonen abzielen. Auf theoretischer Ebene lassen sich z. B. Professionalisierungstheorien nennen (vgl. Hericks/Kunze, 2002; van den Berg, 2002). Auf empirischer Ebene ist die Auseinandersetzung mit Anforderungen geprägt durch Metaanalysen und große Studien wie die von Seidel und Shavelson (2007) oder die von Hattie (2009). Die bekannteste Studie im deutschsprachigen Raum stammt von Oser und Oelkers (2001), die in einer Delphi-Studie Standards für die Lehrerbildung entwickelten. Andere Untersuchungen wie COACTIV (Kunter et al., 2011) oder TEDS-M (Blömeke/Kaiser/Lehmann, 2010) fokussieren auf den Bereich des Fachwissens bzw. der Wissensvermittlung.

Allen diesen Ansätzen und Untersuchungen ist gemeinsam, dass sie die Arbeit mit Schülerinnen und Schülern mit Förderbedarf ebenso wenig thematisieren wie inklusive Schulsettings. Anforderungen an Lehrpersonen in der Inklusion, im Besonderen in der Sekundarstufe, stellen einen »blinden Fleck« der Forschung dar. Um entsprechende Anforderungen herausarbeiten zu können, müssen grundlegende Merkmale inklusiver Schulsettings sowie der Arbeit mit Schülerinnen und Schülern mit Förderbedarf berücksichtigt werden.

Merkmale der Tätigkeit mit Schülerinnen und Schülern mit Förderbedarf


Ein inklusives Schulsystem zeichnet sich dadurch aus, dass von Anfang an auf jede Form der Separation auf unterschiedliche Schularten verzichtet wird. Vielmehr besuchen idealerweise alle Schülerinnen und Schüler eines Viertels eine gemeinsame Stadtteilschule, ohne dass sie irgendwelche Voraussetzungen erfüllen (Wocken, 2011). Damit verbunden ist eine maximale Heterogenität hinsichtlich der Fähigkeiten, Interessen und Lernbedürfnisse der Schülerinnen und Schüler. Das Ziel eines konstruktiven Umgangs mit dieser komplexen Ausgangslage besteht darin, jedes Kind und jeden Jugendlichen entsprechend seines individuellen Potentials in der allgemeinen Lerngruppe zu fördern (Preuss-Lausitz, 2012). Feuser (1998) spricht vom gemeinsamen Lernen am gemeinsamen Gegenstand. Der Erfolg inklusiver Schulen vor Ort hängt maßgeblich vom Engagement und der Kompetenz aller beteiligten pädagogischen Fachkräfte ab (Amrhein, 2011; Biewer/Fasching, 2012). Insgesamt betrachtet besteht, wie schon erwähnt, eine grundsätzliche Offenheit gegenüber der Idee der Inklusion von Seiten der Regelschulkräfte (Avramidis et al., 2000; Dessemontet/Benoit/Bless, 2011; Horne/Timmons, 2009). Doch werden von den Lehrpersonen die eigenen, dafür notwendigen Kompetenzen meist als gering oder nicht vorhanden eingeschätzt; dies betrifft insbesondere Lehrerinnen und Lehrer in der Sekundarstufe (Amrhein, 2011).

Bezüglich der Anforderungen ist anzumerken, dass sich eine sonderpädagogisch ausgerichtete Erziehung und Unterrichtsgestaltung nicht prinzipiell von allgemeiner pädagogischer Arbeit unterscheidet (Drave/Rumpler/Wachtel, 2000). Dennoch verweisen Lehrerinnen und Lehrer darauf, dass es für die Arbeit mit Schülerinnen und Schülern mit Förderbedarf nicht ein Anforderungsprofil gibt, sondern den unterschiedlichen Förderschwerpunkten Rechnung getragen werden muss (Avramidis/Norwich, 2002; Cook/Tankersley/Cook/Landrum, 2000; Eberl, 2000): Unterschiedliche Bedürfnisse spiegeln sich in divergierenden Anforderungen wider. Das zeigt sich auch darin, dass die einzelnen Förderschwerpunkte »unterschiedlich inklusiv arbeiten« (vgl. Bertelsmann-Stiftung, 2012): »Vorreiter« ist der Bereich Emotionale und soziale Entwicklung, während inklusiver Unterricht im Bereich Geistige Entwicklung praktisch keine Bedeutung hat (Avramidis et al., 2000; Dumke/Eberl, 2002; Gebhardt et al., 2011).

Darüber hinaus ist die Arbeit mit Schülerinnen und Schülern mit Förderbedarf insgesamt als zeitintensiver und belastender beschrieben (Eberl, 2000). Ebenso wird auf das in besonderem Maß zum Tragen kommende Gefälle zwischen den Schülerinnen und Schülern sowie den Pädagoginnen und Pädagogen verwiesen (vgl. Benkmann, 2011). Herausforderungen struktureller Natur bzw. der Nicht-Vorhersagbarkeit wie das Ertragen von Paradoxien und das Ausbalancieren von (strukturellen) Widersprüchen (Dlugosch/Reiser, 2009) bilden eine Kernanforderung.

Anforderungen der inklusiven Tätigkeit in der Sekundarstufe


Für den Bereich der Arbeit mit Schülerinnen und Schülern mit Förderbedarf besteht ein empirisches Forschungsdefizit bezüglich der zu erfüllenden Anforderungen...

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