Sie sind hier
E-Book

Innovation

Streitschrift für barrierefreies Denken

AutorWolf Lotter
Verlagedition Körber-Stiftung
Erscheinungsjahr2018
Seitenanzahl224 Seiten
ISBN9783896845368
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis13,99 EUR
Allerorten werden die innovativen Kräfte in Wirtschaft, Technik, Politik und Gesellschaft beschworen - es herrscht eine regelrechte lnnovationsinflation. Wolf Lotter, Mitbegründer und ständiger Autor des Wirtschaftsmagazins 'brand eins', fordert in seinem Essay einen Kulturwandel: weg von den Routinen der Erneuerung, hin zu einem barrierefreien Denken. Innovation bedeutet für Lotter die Bereitschaft zu beständiger Infragestellung und zum Experiment, Das heißt, die Forderung nach Interdisziplinarität und Kreativität ernst zu nehmen. Und es heißt auch, den Mut zu Irrtum und Irrweg zu haben und das Feld der Innovation nicht nur den Jungen zu überlassen. 'Innovatoren sind Unternehmer', schreibt Lotter. 'Ihre Arbeit braucht Begeisterung, Ausdauer, Nüchternheit, Know-how, Leidenschaft, Pragmatismus, von allem reichlich.'

Wolf Lotter ist Journalist und Autor. Er ist Gründungsmitglied des Wirtschaftsmagazins 'brand eins', für das er seit 2000 die Leitartikel zu den Schwerpunktthemen verantwortet. Lotter gilt als einer der Vordenker in der Entwicklung von der alten Industriegesellschaft hin zur neuen Wissensgesellschaft. Er ist Autor zahlreicher Bücher.

Kaufen Sie hier:

Horizontale Tabs

Leseprobe

Die Erneuerung als Revolutionsoper


Am 24. Januar 1984 trat ein gerade mal 28-jähriger Mann vor die Aktionäre des Unternehmens, das er gemeinsam mit Freunden acht Jahre zuvor in einer Garage im Silicon Valley gegründet hatte. Steve Jobs galt stets als äußerst selbstbewusster Macher. Doch an diesem Tag war er nervös. Es ging für ihn um alles, nicht nur im ökonomischen Sinn. Als Steve Jobs sein Modell »Macintosh« präsentierte, gewährte er der Welt Einblick in sein Inneres – und hielt auch uns einen Spiegel vor. Hier wurde nicht nur ein Computer präsentiert, sondern ein Archetyp einer Vorstellung von Innovation, die die unsere heute wesentlich prägt.

Technische Details, Geschwindigkeit, Speichervermögen, Benchmarks – darum ging es nur vordergründig. Alles, was Jobs in diesem Jahr 1984 rund um die Einführung des Macintosh auf die Beine stellte, brachte eine Lebenseinstellung zum Ausdruck – eine Innovationskultur.

Ihr Kern ist uralt: Das Junge ist gut. Das Alte ist böse. Am deutlichsten wird das im berühmten Superbowl-Werbespot für den Macintosh, den der Starregisseur Ridley Scott im Auftrag von Steve Jobs gedreht hat. Das Alte und Böse ist damals der Technologiekonzern IBM, dessen Personal Computer die Marktführerschaft Apples bei Mikrocomputersystemen angegriffen hat. Apple ist das Revolutionäre, Junge, Gute. Scott verleiht dem Konkurrenten das Antlitz von Big Brother aus George Orwells »1984«. Dieser bellt von einer Leinwand in einem düsteren, grau-bläulichen Saal eine willenlose Masse an. Doch dann sprintet eine junge Athletin los, schwingt ihren Hammer, zielt auf die Leinwand – und trifft. Peng. Das Symbol der Niedertracht geht in einem gewaltigen Blitz unter, ein Urknall. Dann lesen wir: Apple Macintosh. Damit 1984 nicht 1984 wird.

Schließlich betritt Steve Jobs die Bühne und rezitiert einen lyrischen Text:

Come writers and critics

Who prophesize with your pen

And keep your eyes wide

The chance won’t come again

And don’t speak too soon

For the wheel’s still in spin

And there’s no tellin’ who that it’s namin’

For the loser now will be later to win

For the times they are a-changin’10

Bob Dylan schrieb diese Zeilen, sie stammen aus dem Titelsong seines dritten Studioalbums »The Times They Are a-Changin’«, der Marseillaise der 1960er Jahre, die fast auf den Tag genau 20 Jahre vor dem Apple-Event in San Francisco erschien. Ein Innovator zitiert einen Innovator.

Dylan wie Jobs haben eine neue Innovationskultur geschaffen. Heute ist ihr Werk allgegenwärtig, selbst dort, wo es nur unbewusst zitiert wird, wie in der Kultur der Startups, aber auch der jungen Rebellen. Es geht nicht um Computer, es geht nicht um Songs, es geht nicht um Software. Eine Kultur macht keine Gefangenen. Sie verschlingt alles, sie durchdringt und verändert das Bewusstsein. Das klingt so großartig wie erschreckend. Das eigentliche Ziel jeder Kultur aber ist ebenso banal wie größenwahnsinnig: Sie will sich so verbreiten, dass niemand mehr ihre so selbstverständliche Existenz wahrnimmt, geschweige denn hinterfragt.

So sind auch Jobs’ Innovationen weder als Erfindungen noch als Novitäten gedacht. Er hat begriffen, dass Technik, Produkte und auch Ideen nicht genügen, wenn man das Neue wirklich in die Welt bringen will. Eine echte Innovation verändert das Denken ihrer Benutzer. Sie löst ein ganzes System von Folgen aus, wird Vorbild, kopiert, mutiert zu wieder Neuem und schafft auf diese Weise unaufhörlich weitere Innovationen. Sie ist ein Weltbild, ein Universum. Der »persönliche Computer« ist damit keine technische Errungenschaft, sondern vor allem eine kulturelle. Das gilt natürlich auch für die mit ihm verbundenen Innovationen, die längst als selbstständige Größen gesehen werden: das Internet, die sozialen Medien, die digitalen Technologien – samt all ihren unzähligen Vorgängern in der Menschheitsgeschichte. Nichts von dem, was Jobs schuf, war ein Zufall, es war ihm vielmehr bewusst, wie Kulturen funktionieren und wie man sie erschafft. Das macht ihn und sein Innovationsbild, wie der Autor Reinhard K. Sprenger es nennt, zum »gegenwärtig Lebendigsten unter den Toten«.11 Seinem Vorbild und Muster folgen viele.

An diesem Januartag des Jahres 1984 hat Steve Jobs eine Kultur begründet, in der sich die Menschen der späten Konsumgesellschaft wiederfinden können. Jobs’ Produkte werden »Kult«, sakrale Gegenstände. Sie gehören zu einer Glaubensgemeinschaft, in der sich die fortschreitende Individualisierung und Personalisierung unseres sozialen und kulturellen Systems zeigt. Jobs hat verstanden, was die Erneuerung des 21. Jahrhunderts im Innersten zusammenhält: der Abschied von der Massengesellschaft, dem Kollektiv, hin zum Selbst und zur Person.

Innovation heißt Differenz, Unterscheidung.

Innovation ist das Andere, das Individuelle, das der Norm und der Masse, der Routine und der Regel widerstrebt, bis es selbst der Norm und der Masse anheimfällt und selbst zur Routine und Regel wird. Innovation ist die Störung der herrschenden Verhältnisse zugunsten einer neuen Idee. Und Ideen können die Welt retten, nun ja, wenigstens Unternehmen. Gut 13 Jahre nach der Macintosh-Präsentation entwickelt die Werbeagentur TBWA eine von Steve Jobs angeregte Kampagne mit dem Titel »Think Different« – »Denke das Andere«. Es ist die Einführungskampagne für den iMac, von dessen Erfolg die Existenz der Firma abhängt. Das »i« steht nicht allein fürs populäre Internet.

Es ist Jobs’ ewiges Mantra: Die Technik soll das Individuum befreien. Jobs schickt Dylans Schlachtgesängen ein ganzes Evangelium hinterher. Die Evangelisten waren Bekehrer. Evangelisten heißen bei Apple auch die, die für das Unternehmen in der Öffentlichkeit »Zeugnis ablegen«. Die Heiligen in der Kampagne sind bekannte Gesichter, die die alten und neuen Innovationsmythen in sich tragen: Helden, Genies, außergewöhnliche Persönlichkeiten – die großen Innovatoren Albert Einstein, Bob Dylan, Martin Luther King jr., Thomas Edison, Pablo Picasso. Ein Produktmanager für ganz normale Computer oder Autos hätte wohl Ingenieure oder Erfinder gewählt. Jobs hingegen weiß, dass es eben darum geht, das alte Innovationsbild der Industriegesellschaft – das vom Erfinder, Tüftler, Techniker – ad acta zu legen. Die Maschine ist der Erfüllungsgehilfe des Geistes. Das ist ein der Wissensgesellschaft würdiger Glaube, nicht die Botschaft der alten Industrie, der die Kultur bestenfalls als Erfüllungsgehilfe für die Mechanik dient – ein Ungeist, der sich in der alten Fabrik und dem vermeintlich neuen Digitalismus gleichermaßen findet. Genau auf die haben es Jobs und seine Agenturleute abgesehen, sie adressieren ihren Kampagnentext »An alle, die anders denken«:

Die Rebellen,

die Idealisten,

die Visionäre,

die Querdenker,

die, die sich in kein Schema pressen lassen,

die, die Dinge anders sehen.

Sie beugen sich keinen Regeln,

und sie haben keinen Respekt vor dem Status quo.

Wir können sie zitieren, ihnen widersprechen,

sie bewundern oder ablehnen.

Das einzige, was wir nicht können,

ist sie zu ignorieren,

weil sie Dinge verändern,

weil sie die Menschheit weiterbringen.

Und während einige sie für verrückt halten,

sehen wir in ihnen Genies.

Denn die, die verrückt genug sind zu denken,

sie könnten die Welt verändern,

sind die, die es tun.12

Das ist, zweifelsohne, große Revolutionsoper. Und sie begeistert all jene, die in der alten, starren Welt der industriellen Organisation nach Alternativen, also Innovationen, und gleichsam sich selbst suchen. Eine Werbekampagne als Nabucco der aufkommenden Wissensgesellschaft. Und in jeder Oper ist die Inszenierung spielentscheidend.

Man kann sich daran berauschen, man soll es auch, das wäre ganz im Geiste des Erfinders.

Vorsicht.

Denn auch Jobs’ Macintosh-Inszenierung – und die seiner zahlreichen Kopisten und Epigonen – steht einem neuen Bild von Innovation im Weg. Jobs’ Richtung ist konsequent. Individuum, Wissensgesellschaft, Automation der Arbeit und Entwertung des Massenhaften und Industriellen sind naheliegende Erscheinungen einer Welt, die so wohlhabend und satt geworden ist, dass sie fortan nach sich selbst suchen kann, ein Projekt, das lange Jahre nur den Eliten erlaubt war – und auch denen nur unter großen Vorbehalten. Jobs’ Problem ist, dass er auf das Personal setzt, mit dem schon alle vorhergehenden Revolutionen gescheitert sind.

Ist Innovation zwangsläufig nur etwas für »Rebellen«, »Idealisten«, »Visionäre« und »Querdenker«? Und was heißt es denn, wenn die Eigenschaft zur Veränderung nur einer kleinen Gruppe von Außenseitern zugeschrieben wird? Es ist offensichtlich. Sie tickt anders als der überwiegende Teil der Welt, ihrer Organisationen, Kulturen und Menschen.

Die Innovation ist der Gegensatz zur Normalität. Die Innovation macht einen Unterschied. Die Innovation ist die Alternative zur Regel. Die Innovation ist das Andere. Das alles klingt angenehm – zumindest in den Ohren der Innovatoren. Die statische Wohlstandswelt, in der wir leben, besteht hauptsächlich aus Besitzstandswahrern und Verteidigern der Normalität ihrer Machtbereiche und Regeln. Damit ist jeder, der ernsthafte Innovation betreibt, ein Außenseiter, jemand, den man nicht...

Blick ins Buch

Weitere E-Books zum Thema: Gesellschaft - Männer - Frauen - Adoleszenz

Die Sehnsucht nach einer verlogenen Welt

E-Book Die Sehnsucht nach einer verlogenen Welt
Unsere Angst vor Freiheit, Markt und Eigenverantwortung - Über Gutmenschen und andere Scheinheilige Format: ePUB

Freiheit und Eigenverantwortung statt Ideologie und Bürokratie - Günter Ederer analysiert auf Basis dieser Forderung die existenziellen Probleme unserer Gesellschaft: Bevölkerungsrückgang,…

Die Sehnsucht nach einer verlogenen Welt

E-Book Die Sehnsucht nach einer verlogenen Welt
Unsere Angst vor Freiheit, Markt und Eigenverantwortung - Über Gutmenschen und andere Scheinheilige Format: ePUB

Freiheit und Eigenverantwortung statt Ideologie und Bürokratie - Günter Ederer analysiert auf Basis dieser Forderung die existenziellen Probleme unserer Gesellschaft: Bevölkerungsrückgang,…

Mitten im Leben

E-Book Mitten im Leben
Format: ePUB/PDF

Die Finanzaffäre der CDU hat nicht nur die Partei und die demokratische Kultur der Bundesrepublik in eine ihrer tiefsten Krisen gestürzt, sondern war auch der Auslöser für Wolfgang Schäubles Verzicht…

Mitten im Leben

E-Book Mitten im Leben
Format: ePUB/PDF

Die Finanzaffäre der CDU hat nicht nur die Partei und die demokratische Kultur der Bundesrepublik in eine ihrer tiefsten Krisen gestürzt, sondern war auch der Auslöser für Wolfgang Schäubles Verzicht…

Klartext.

E-Book Klartext.
Für Deutschland Format: ePUB/PDF

Streitbarer Querulant, umstrittener Politiker, Nervensäge, wandelndes Medienereignis - all das und mehr ist Jürgen Möllemann. Nach langem Schweigen redet das Enfant terrible der deutschen Politik zum…

Klartext.

E-Book Klartext.
Für Deutschland Format: ePUB/PDF

Streitbarer Querulant, umstrittener Politiker, Nervensäge, wandelndes Medienereignis - all das und mehr ist Jürgen Möllemann. Nach langem Schweigen redet das Enfant terrible der deutschen Politik zum…

Klartext.

E-Book Klartext.
Für Deutschland Format: ePUB/PDF

Streitbarer Querulant, umstrittener Politiker, Nervensäge, wandelndes Medienereignis - all das und mehr ist Jürgen Möllemann. Nach langem Schweigen redet das Enfant terrible der deutschen Politik zum…

Weitere Zeitschriften

Menschen. Inklusiv leben

Menschen. Inklusiv leben

MENSCHEN. das magazin informiert über Themen, die das Zusammenleben von Menschen in der Gesellschaft bestimmen -und dies konsequent aus Perspektive der Betroffenen. Die Menschen, um die es geht, ...

Arzneimittel Zeitung

Arzneimittel Zeitung

Die Arneimittel Zeitung ist die Zeitung für Entscheider und Mitarbeiter in der Pharmabranche. Sie informiert branchenspezifisch über Gesundheits- und Arzneimittelpolitik, über Unternehmen und ...

BEHINDERTEPÄDAGOGIK

BEHINDERTEPÄDAGOGIK

Für diese Fachzeitschrift arbeiten namhafte Persönlichkeiten aus den verschiedenen Fotschungs-, Lehr- und Praxisbereichen zusammen. Zu ihren Aufgaben gehören Prävention, Früherkennung, ...

Berufsstart Bewerbung

Berufsstart Bewerbung

»Berufsstart Bewerbung« erscheint jährlich zum Wintersemester im November mit einer Auflage von 50.000 Exemplaren und ermöglicht Unternehmen sich bei Studenten und Absolventen mit einer ...

caritas

caritas

mitteilungen für die Erzdiözese FreiburgUm Kindern aus armen Familien gute Perspektiven für eine eigenständige Lebensführung zu ermöglichen, muss die Kinderarmut in Deutschland nachhaltig ...

Das Grundeigentum

Das Grundeigentum

Das Grundeigentum - Zeitschrift für die gesamte Grundstücks-, Haus- und Wohnungswirtschaft. Für jeden, der sich gründlich und aktuell informieren will. Zu allen Fragen rund um die Immobilie. Mit ...

Deutsche Hockey Zeitung

Deutsche Hockey Zeitung

Informiert über das nationale und internationale Hockey. Die Deutsche Hockeyzeitung ist Ihr kompetenter Partner für Ihren Auftritt im Hockeymarkt. Sie ist die einzige bundesweite Hockeyzeitung ...

DHS

DHS

Die Flugzeuge der NVA Neben unser F-40 Reihe, soll mit der DHS die Geschichte der "anderen" deutschen Luftwaffe, den Luftstreitkräften der Nationalen Volksarmee (NVA-LSK) der ehemaligen DDR ...

dima

dima

Bau und Einsatz von Werkzeugmaschinen für spangebende und spanlose sowie abtragende und umformende Fertigungsverfahren. dima - die maschine - bietet als Fachzeitschrift die Kommunikationsplattform ...