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Irren ist nützlich

Warum die Schwächen des Gehirns unsere Stärken sind

AutorHenning Beck
VerlagCarl Hanser Verlag München
Erscheinungsjahr2017
Seitenanzahl320 Seiten
ISBN9783446256163
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
Die Anforderungen an unser Gehirn sind höher als je zuvor. Wir werden von Informationen bombardiert, mailen, chatten und surfen gleichzeitig. Und es scheint, als sei unser Gehirn nicht für das digitale Zeitalter gemacht. Es ist permanent abgelenkt, ungenau und vergesslich. Für genau diese Schwächen jedoch sollten wir ihm dankbar sein! Denn die Hirnforschung zeigt: Erst durch die Irrtümer des Gehirns sind wir kreativ - etwas, was Künstliche Intelligenz noch in 100 Jahren nicht erreichen wird. Dieser Ratgeber ist ein neurobiologischer Mutmacher, der auf ungewöhnlichem Weg zu besserer Konzentration, größerer Entscheidungsstärke und mehr Kreativität verhilft.

Henning Beck wurde 1983 an der südhessischen Bergstraße geboren und studierte Biochemie in Tübingen. Nach seinem Diplom-Abschluss promovierte er an der dortigen Graduate School of Cellular & Molecular Neuroscience. Er arbeitete an der University of California in Berkeley, publiziert regelmäßig in der Wirtschaftswoche und im GEO-Magazin und hält Vorträge und Workshops zu Themen wie 'Neurobiologie und Kreativität'. Henning Beck lebt in Frankfurt und ist am dortigen Scene Grammar Lab tätig. Sein Buch 'Hirnrissig' erschien 2014 bei Hanser.

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Leseprobe

EINLEITUNG


Dies ist kein Buch, das Ihnen zeigt, wie toll das Gehirn funktioniert. Zumindest nicht auf den ersten Blick. Dies ist auch kein Buch, in dem Sie lesen können, wie perfekt das Gehirn arbeitet. Das tut es nämlich nicht.

Und wenn Sie nach dieser Lektüre mit Ihrem Gehirn noch schneller und konzentrierter denken wollen, muss ich dem gleich zu Beginn eine Absage erteilen: Auch das wird nicht passieren, denn das Gehirn ist alles andere als präzise oder flott im Rechnen. Es ist ein verträumter Schussel, oft abgelenkt und unkonzentriert, nie zu hundert Prozent verlässlich, es verrechnet sich, irrt ständig und vergisst mehr, als es behält. Kurzum: Es ist ein etwa 1,5 Kilo schwerer Fehler. Sie alle tragen diesen schlampigen Zeitgenossen ständig im Kopf mit sich herum – und ich gratuliere herzlich dazu.

Nachdem ich nun einen Großteil der Leserschaft verschreckt haben dürfte, gibt es eigentlich nur noch einen Grund, dieses Buch weiterzulesen: weil es Ihnen zeigt, dass es gerade das Nichtperfekte, das Fehlerhafte, das scheinbar Ineffiziente ist, was Ihr Gehirn so einzigartig und so erfolgreich macht.

Jeder kennt es aus dem eigenen Leben: Das Gehirn macht Fehler – manchmal größere, manchmal kleinere; es vergeht kein Tag, an dem nicht auch Ihr Gehirn irgendwelchen Unsinn baut, sich verrechnet oder irrt. Sie schätzen die Zeit falsch ein, haben vergessen, was Sie gerade erst gelesen haben oder lassen sich von Ihrem Handy ablenken. Und gerade das ist eine prima Sache. Denn es sind die vermeintlichen Schwächen und Ungenauigkeiten, die Ihr Gehirn so anpassungsfähig, dynamisch und kreativ machen.

Wer denkt, dass ich da etwas übertreibe, hier eine kleine Kostprobe Ihrer geistigen Leistungsfähigkeit:

Was ist tausend plus zehn?

Plus tausend?

Dann plus fünfzig?

Plus tausend?

Plus dreißig?

Plus tausend?

Und nochmal plus zehn?

 

Kurz nachdenken, überlegen … sind es fünftausend? Natürlich nicht, es sind viertausendeinhundert. Gut gemacht! An alle, die auf eine andere Zahl gekommen sind, kein Problem, Ihr Gehirn vertauscht schnell mal ein paar Dezimalstellen und rutscht zwischen den Ziffern hin und her. So kann selbst einfaches Addieren kompliziert werden. Wie oft steht in der nächsten Zeile der Buchstabe M?

 

MMMMMMMMMMMMMMMMMMMMMMMMMMM

 

Genug gesummt, gar nicht so einfach, auf die richtige Lösung zu kommen. Hier sieht man schon: Das Gehirn scheint gar nicht darauf ausgerichtet zu sein, maschinengleich Informationen zu verarbeiten. Im Gegenteil, es verzettelt sich regelmäßig.

»Aus Fehlern wird man klug, drum ist einer nicht genug«, sagte mein Chemielehrer. Dann zündete er das Silberacetylid an und sprengte ein Loch in den Schulhof. Merke: Nicht immer ist Trial and Error das Mittel der Wahl. Manchmal aber eben doch – mein Nachbar zeigt, wie es geht. Der ist wirklich eine außergewöhnliche Persönlichkeit, mittlerweile gute zwei Jahre alt und schon ein richtig cleverer Kerl. Er beherrscht Dinge, die jeden Supercomputer zur Verzweiflung bringen: Ohne Probleme erkennt er das Gesicht seiner Mutter in einer Menschenmenge und sich selbst im Spiegel; nach einmaligem Spielen mit einem Auto weiß er, was ein Auto ist; er identifiziert Rauchmelder an der Decke und findet Kartoffeln lecker – Aufgaben, die kein heutiger Computer in endlicher Zeit lösen kann. Dabei macht der Kleine ständig Fehler: Bis vor kurzem konnte er noch nicht mal sicher laufen, seine Bewegungen sind tapsig, seine Sprache bruchstückhaft, und er schläft mehr als die Hälfte des Tages, ist in dieser Zeit also komplett funktionsuntüchtig. Jeder Ingenieur würde die Hände über dem Kopf zusammenschlagen: »Was für eine Fehlkonstruktion. Zwei Jahre, und es läuft immer noch nicht rund.« Wie ein Windows-Betriebssystem.

Trotzdem macht mein Nachbar gewaltige Fortschritte. Tag für Tag – in einem Tempo, mit dem keine Rechenmaschine Schritt halten kann. Jeder Fehler, jede Ungenauigkeit ist Ansporn, es das nächste Mal anders und damit vielleicht ein kleines bisschen besser zu machen. Sein Gehirn ist alles andere als perfekt – und das wird es auch niemals sein. Im Laufe der Zeit wird es sich zwar immer besser an seine Umgebung anpassen, aber vollendet und fertig wird es nie, sondern sich immer die Fähigkeit zum Irrtum bewahren. Denn nur, wer Fehler in sein Handeln einbaut, wird irgendwann auch Neues entwickeln. Wer hingegen immer versucht, möglichst »richtig« zu denken, bewegt sich auf dem Niveau eines Computers: effizient, präzise und schnell – dafür auch unkreativ, langweilig und vorhersehbar.

Stattdessen bauen wir auch im Erwachsenenalter noch lauter geistigen Mist. Wir vergessen Namen und Gesichter genauso, wie, ob wir die Tür abgeschlossen haben. Wir lassen uns bei der Arbeit leicht von einer WhatsApp-Nachricht ablenken oder verlieren in der E-Mail-Flut des Tages den Überblick. Uns liegen Namen auf der Zunge und fallen uns doch nicht ein. Wir schätzen die Zeit genauso falsch ein wie Wahrscheinlichkeiten oder Zahlen. Wir tun uns schwer damit, Entscheidungen zu treffen, wenn die Auswahl groß ist. Wir haben genau dann einen Blackout, wenn wir vor Publikum einen Vortrag halten müssen. Wir können nach einem anstrengenden Tag nur schwer abschalten und lernen unter Druck am schlechtesten.

Auf der anderen Seite gibt es kein Organ, kein System, geschweige denn einen Computer, der in der Lage ist, komplizierte Aufgaben so spielerisch zu lösen, wie wir es tun: 35 × 27 = ? Schwierig ohne Taschenrechner. Einen Helene-Fischer-Song erkennen? Kein Problem. Die Rechenaufgabe, so simpel sie ist, können wir kaum im Kopf lösen, doch ein Lied, das Gesicht eines lieben Verwandten oder auch dessen Stimme erkennen wir sofort. Und das, obwohl es vom Rechenaufwand her ungleich aufwendiger ist, einen bestimmten Sänger auf der Bühne zu erkennen.

Es scheint, als würde unser Gehirn das besonders schlecht können, was wir in unserer gegenwärtigen technisierten und digitalen Welt vermeintlich benötigen. Wir wollen Optimierung und Genauigkeit, sprich: Perfektion. Und unser Gehirn? Macht das Gegenteil und entzieht sich diesem Anspruch. Viele stellen sich vor, wie schön es wäre, wenn eine fehlerfreie Rechenmaschine in unserem Kopf arbeiten würde. Wie konzentriert, effizient und schnell könnte man damit seine Aufgaben lösen. Und in der Tat: Computer machen keine Fehler – und wenn sie es tun, dann stürzen sie ab. Gehirne stürzen hingegen nicht ab (außer, man hilft von außen nach, aber das ist eine andere Geschichte …). Und das liegt daran, dass sie nach einem völlig anderen Verfahren arbeiten. Es ist der Irrtum, die Ungenauigkeit im Denken, die uns den Computern überlegen macht. Allen Schreckensvisionen, dass die Computer schon in wenigen Jahrzehnten die Weltherrschaft an sich reißen und uns in den geistigen Schatten stellen werden, erteilt die Biologie an dieser Stelle eine klare Absage. Das scheint dem Trend der Digitalisierung, dem Zauberwort unserer modernen Welt, zu widersprechen: Schulklassen wie Unternehmen sollen vernetzt, Daten ausgetauscht und effizient ausgewertet werden. »Klassenzimmer der Zukunft«, »Big Data Analysen«, »Industrie 4.0« – kein Lebensbereich, der sich nicht mit der Rechenpower der Computerwelt modernisieren möchte. Doch die großen Ideen der Welt werden auch in Zukunft nicht digital, sondern analog gedacht. Von Gehirnen, nicht von Smartphones. Computer lernen Dinge – wir verstehen sie. Computer befolgen Regeln – wir können sie ändern.

Computer mögen uns in Schach oder Go schlagen, das ist nicht verwunderlich, weder kreativ noch besorgniserregend. Ich würde mir erst ernsthafte Sorgen machen, wenn ein Computer anfängt, Fehler zu machen, und anschließend verkündet: »Schach? Och nö, keine Lust mehr, ist langweilig. Ich zocke jetzt mal eine Runde World of Warcraft!« Solange das nicht passiert, bleibt das menschliche Gehirn immer noch das Maß aller Dinge. Gerade weil es so vermeintlich schlecht funktioniert.

In diesem Buch möchte ich Ihnen zeigen, was hinter den Kulissen der vermutlich fehlerhaftesten Denkstruktur der Welt (Ihrem Gehirn) passiert. Wie es Irrtümer nutzt, damit es sich in sozialen Situationen bestmöglich zurechtfindet, auf neue Ideen kommt und Wissen erzeugt. Ja, dabei macht es manchmal Fehler, doch das Paradoxe dabei ist: In unseren Irrtümern und Unkonzentriertheiten steckt unsere wahre Denkpower. Die meisten der vermeintlichen Denknachteile bergen einen gewaltigen Vorteil. Dass wir uns an Namen nicht sofort erinnern können, ist wichtig, damit wir überhaupt dynamische Erinnerungen aufbauen können. Dass wir uns so leicht ablenken lassen, nützt uns, um kreativ zu denken. Und dass wir mitunter zu spät zu einer Verabredung kommen, weil wir die Zeit falsch einschätzen, ist eine klasse Sache, denn würde unsere innere Uhr exakt gehen, könnten wir nicht so schnell von Erinnerung zu Erinnerung springen, wir wären gefangen in einem statischen Gedächtnis.

Nun ist dies kein Buch, das ausschließlich unsere geistigen Schwächen preisen soll. Nicht jeder Fehler hat ja etwas Gutes. Doch wer erkennt, warum ein Gehirn manchmal nicht wie auf Knopfdruck funktioniert, der hat schon den entscheidenden Schritt gemacht, diese Schwäche zu verstehen. Das hilft uns, im richtigen Moment konzentrierter zu sein, kreative Ideen zuzulassen oder Erinnerungen besser zu behalten. Das Gehirn ist wahrscheinlich das beste Beispiel dafür, wie man aus seinen Schwächen Stärken machen kann.

P.S.: Ach ja, wie jedes Produkt des Gehirns unterliegt auch dieses Buch biologischen Schwankungen und ist daher nicht fehlerfrei. Bestimmt haben sich hier und da kleine Tipp-, Schreib- oder Zeichenfehler eingeschlichen. Doch nach dieser Lektüre werden Sie wissen,...

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