Aufbruch
Am 19. April 1853 begibt sich der junge Brahms mit Reményi zum ersten Mal auf Konzerttournee. Ihr erstes Ziel ist Hannover, wo Reményi den jungen berühmten Geiger und Hofkonzertmeister des Königs, Joseph Joachim, treffen will. Die Reise führt über Celle und Lüneburg, wo die zwei ungleichen Musiker, der temperamentvolle Ungar und der stille, introvertierte Norddeutsche, die ersten Konzerte geben. Doch Reményi, so stellt Brahms fest, will ihn beherrschen und gibt sich als Aufschneider. Bereits in Hamburg kursierte die Legende vom »ungarischen Wundergeiger«, der sich in den Revolutionstagen von 1848 todesmutig ins Kampfgetümmel gestürzt hätte, die Beethoven’sche ›Kreutzer-Sonate‹ will er spielen, »daß sich Haore fliegen« und die Konzertsätze der Klassiker versieht er mit schwungvollen, brillanten Csárdás-Schlussfloskeln, die die Wirkung noch verstärken sollen. Dann, Ende Mai, treffen sie in Hannover ein. Die beiden sind Joachim gemeldet, der ein ehemaliger Kommilitone Reményis ist und für das junge Künstler-Duo die nächsten Konzerte organisieren soll. Joachim, der eine glanzvolle Solistenkarriere vor sich hat, wurde 1831 im burgenländischen Kittsee geboren und ging nach Wien, um sich im Fach Violine ausbilden zu lassen. Bereits als 12-Jähriger debütierte er am Leipziger Gewandhaus, wo ihn Mendelssohn förderte, und daraufhin trat er in London mit dem bis dahin als kaum spielbar geltenden Violinkonzert Beethovens auf. Nach Mendelssohns Tod wurde er Gewandhaus-Vizekonzertmeister, doch schon 1850 entschloss er sich, zu dem berühmten Franz Liszt nach Weimar zu gehen und schließlich nach Hannover, wo ihn am Hof eine hoch dotierte Konzertmeisterstelle erwartete.
Joachim empfängt die Ankömmlinge herzlich, und nun berichtet Reményi von seinen Erfolgen, die er – angeblich – in Amerika verbucht hätte. Doch während der Ungar so bemüht ist, sich ins rechte Licht zu rücken, in der Hoffnung, Protektion zu erwirken, ist Joachims Interesse an dessen Begleiter erwacht. Der ist freilich befangen – zu sehr bewundert er den nur zwei Jahre älteren Künstler, den er schon 1848 in Hamburg gehört hatte. Doch dann überwindet Brahms die Scheu und berichtet von seinen Zielen: dass er komponieren würde, dass er sich an den Klassikern orientiere und einen musikalischen Weg in die Zukunft suche. Kurz darauf sitzt er schon am Klavier und spielt zwei Sätze aus der Sonate C-Dur sowie das Scherzo es-Moll. Joachim ist überrascht, ja fasziniert, und so genügen nur ein paar Tage, um sich anzufreunden. Bereits am 8. Juni treten Reményi und Brahms vor dem blinden, musikbegeisterten König Georg V. auf. Doch kurz darauf erwartet sie eine böse Überraschung: Die Polizei ist dahintergekommen, dass der »Revolutionär« Reményi aufgetreten ist, und nun wird dieser zum Polizeipräsidenten gebracht und verhört. Reményi, der sich ungerecht behandelt fühlt, gibt sich laut und pathetisch, mit der Folge, dass die Abschiebung ins Fürstentum Schaumburg-Lippe verfügt wird, was natürlich auch für Brahms gilt. Nur dank des hannoverischen Hofpianisten, der sich einsetzt, kann die Ausweisung für ihn gerade noch verhindert werden. Doch Reményi muss sich auf den Weg machen, und so empfiehlt nun Joachim die beiden an den großen Franz Liszt in Weimar.
Am 12. Juni treffen sie im dortigen Fürstentum ein. Für Brahms, der aus kleinbürgerlichem Milieu stammt, ist die Begegnung mit dem auf der Altenburg residierenden, von zahlreichen Anhängern umschwärmten Musikfürsten eher verstörend. Das Selbstbewusstsein dieser exotischen Künstlerschar, Pianisten, die von überall her kommen, und die Selbstverständlichkeit, mit der sie sich über die gesellschaftlichen Normen hinwegsetzen, irritieren ihn. Dem schweigsamen Norddeutschen, dem das äußerlich Imponierende, die Gewandtheit und die Umgangsformen fehlen, fällt es schwer, auf den Grandseigneur, der als Klaviervirtuose zu den bedeutendsten Musikern der Zeit zählt, zuzugehen. Liszt ist ein vornehmer, feinsinniger Künstler, der bewundert sein will. Doch zugleich ist er großmütig, fördert die jungen Musiker und setzt sich für deren soziale Belange ein. Bereits als 13-jähriger trat er als Wunderkind in England, in Frankreich und in der Schweiz auf, und prägt als Pädagoge mehrere Pianistengenerationen. Später wächst seine Bedeutung als Komponist und Mitbegründer der sogenannten Neudeutschen Schule – ein Begriff, der 1859 zum ersten Mal auftritt. Im Gegensatz zu Schubert und Schumann, die nach Beethoven an der traditionellen Sinfonie festhalten und diese fortentwickeln, erklären die »Neudeutschen« diese für unzeitgemäß. Liszt, Richard Wagner und der Franzose Hector Berlioz proklamieren die neuen Formen: im Bereich der Oper das Musikdrama und auf dem Gebiet der Instrumentalmusik die Programmmusik, die Sinfonische Dichtung, die von Sujets aus der Literatur und der Malerei inspiriert sind, und die einem literarisierten Titel, dem »Programm« frei, fantasievoll folgen. Zu den Komponisten, die sich der Programmmusik zuwenden, gehört Hector Berlioz, der 1830 die ›Symphonie fantastique‹ schrieb, in deren Mittelpunkt die »Idée fixe«, ein Motiv, das das Bild der Geliebten verkörpert, steht. Danach folgt Liszt, der bereits mehrere Sinfonische Tondichtungen geschrieben hat, darunter ›Tasso‹, ›Les Préludes‹ und ›Prometheus‹. Liszt selbst prägt 1854 den Begriff der Sinfonischen Dichtung, in der Überzeugung, dass die Sinfonie mit Beethoven ihren Höhepunkt erreicht habe, und dass nun etwas Neues geschaffen werden müsse. Die Neudeutsche Schule macht die Programmmusik zum wichtigsten Bestandteil ihres ästhetischen Konzepts. Gezielt, demagogisch wendet sie sich gegen die »absolute« Musik, die das Eigengesetzliche der musikalischen Vorgänge betont, und ganz besonders gegen die Sinfonien, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in die Konzertsäle gelangen.
Wie die anderen Künstler, so empfängt Liszt auch den jungen Brahms freundlich, erwartungsvoll. Der amerikanische Pianist William Mason, der damals Zeuge dieser Begegnung war, erinnert sich: »Dann endlich kam Liszt herunter. Nach allgemeiner Unterhaltung wandte er sich an Brahms und sagte, ›Es interessiert uns sehr, etwas von Ihren Kompositionen zu hören. Haben Sie wohl Lust, etwas vorzuspielen?‹ Doch Brahms, der offensichtlich sehr nervös war, versicherte, es sei ihm völlig unmöglich, in einer solchen Verwirrung zu spielen, und er war trotz Zuredens von Liszt und Reményi nicht bereit, ans Klavier zu gehen. Liszt sah, daß so kein Weiterkommen war und ging zu dem Tisch, nahm das erste Stück, jenes unleserliche Scherzo, in die Hand und sagte: ›Nun, so werde ich es spielen müssen.‹ Er legte die Noten auf das Pult. … Ich zitterte förmlich, als Liszt das Scherzo auflegte. Er jedoch spielte es wundervoll vom Blatt und machte gleichzeitig kritische Anmerkungen zu dem Gespielten, dass Brahms verblüfft und begeistert war.«
Brahms, der nun Gast auf der Altenburg ist, sieht zwar, wie respektvoll, wohlwollend er von Liszt behandelt wird, und dass ihn dieser sogar einlädt, sich dessen neu entstandene Klaviersonate h-Moll anzuhören. Doch er spürt auch, dass er die musikästhetischen Anschauungen des Komponisten nicht zu teilen vermag, und dass ihn eine Kluft von diesem und seinen Anhängern trennt. Brahms kennt nur die traditionelle »absolute« Musik, die Programmmusik ist ihm fremd, und das wird sich bis zu seinem Lebensende nicht ändern. Mit Brahms’ Auftreten, das nur Ablehnung verrät, verliert Liszt das Interesse an dem jungen Musiker. Dem stolzen Maestro bleibt nicht verborgen, dass diesem seine Werke suspekt sind, und bis heute hält sich die Legende, dass Brahms beim Vortrag der Liszt’schen h-Moll-Sonate sogar eingeschlafen sei. Das ist für einen Musiker, der protegiert werden will, nicht gutzumachen, und so ist für ihn der Aufenthalt in Weimar beendet. Reményi indes, der Liszts Gunst erhofft, ist über Brahms’ Verhalten empört und tut nun alles, um den Verdacht, er könne die Meinung seines Freundes teilen, von sich abzuwehren, und mehr noch: teilt ihm sogar mit, dass er sich trennen und die Konzertreise allein fortsetzen würde.
Brahms ist enttäuscht über den fatalen Ausgang der Tournee. Doch die Situation ist verfahren, und so wendet er sich Hilfe suchend an Joachim. Dieser ist gerade in Göttingen, erholt sich von den anstrengenden Konzerttourneen und freut sich, dass der Freund ihn besuchen will. Spontan lädt er ihn ein, und nun finden sie endlich Zeit, miteinander zu reden, zu wandern und zu musizieren. Brahms erfährt, dass Joachim ebenfalls komponiert, und sie begutachten gegenseitig ihre Stücke. Der Freund nimmt den Jüngeren auch zu studentischen Zusammenkünften mit, wo über die Themen der Zeit, vor allem über...