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Koedukation und Schule. Jungenarbeit im Spiegel des aktuellen Geschlechterdiskurses.

Jungenarbeit im Spiegel des aktuellen Geschlechterdiskurses

AutorChristoph Berens
VerlagGRIN Verlag
Erscheinungsjahr2002
Seitenanzahl73 Seiten
ISBN9783638146418
FormatPDF/ePUB
Kopierschutzkein Kopierschutz/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis20,99 EUR
Examensarbeit aus dem Jahr 2000 im Fachbereich Pädagogik - Schulwesen, Bildungs- u. Schulpolitik, Note: 1, Universität Bremen (Fachbereich Erziehungs- und Gesellschaftswissenschaften), Sprache: Deutsch, Abstract: Die Vorstellungen über 'Geschlechtlichkeit' bzw. über die Geschlechtszugehörigkeit werden durch ein Konglomerat von alltagstheoretischen Grundannahmen bestimmt. Seitdem jedoch das Geschlecht selbst Gegenstand zahlrei¬cher wissenschaftlicher Untersuchungen geworden ist, sind diese alltagstheoretischen Definitionen von Geschlecht zur Disposition gestellt. Ausgehend von dieser Kritik, wird im ersten Kapitel der feministische, sozio¬logische und philosophische Diskurs über die Kategorie Geschlecht verkürzt dargestellt. Das zweite Kapitel beschäftigt sich mit der konkreten Ausgestaltung der männlichen Ge-schlechtsidentität. Existiert eine einheitliche Definition von 'Männlichkeit' oder der männlichen Identität? Kann man von einer statischen männlichen Rolle ausgehen, oder muss man von 'Männlichkeiten' sprechen? Vor diesem Hintergrund werden im dritten Kapitel die Grundzüge männlicher Soziali¬sation dargestellt. Im vierten Kapitel wird der Bezug zur koedukativen Realität hergestellt. Koedukation ist durch die zweite Frauenbewegung, insbesondere durch die feministische Schulforschung, wieder zu einem umstrittenen Konzept geworden. Erst in den letzten Jahren widmete sich eine Reihe von Autoren explizit der Situation von Jungen (Schnack-Neutzling 1990, Ottemeier-Glücks 1994, Böhnisch/Winter 1993, Möller 1997, Zimmermann 1998), dabei beschäftigten sie sich hauptsächlich mit der bisher vernachlässigten Seite der Jungen¬sozialisation. Daher wird in diesem Kapitel die Situation von Jungen in der ko¬edukativen Praxis auf zwei Ebenen darge¬stellt. Auf der einen Seite werden Ergebnisse der feministischen Schulforschung dis-kutiert. Demgegenüber wird verdeutlicht, daß die Be¬dürfnisse und die Lebensrealitäten der Jungen in der Grundschule strukturell nicht aus¬reichend berücksichtigt werden (S. Richter) und daß das Verhalten von Jungen in der Schule einer Neubewertung bedarf. Im fünften Kapitel werden die bisherigen Ergebnisse zu den Möglichkeiten und Formen einer engagierten Arbeit mit Jungen zusammengefasst. Insbesondere wird dabei der Frage nachgegangen, welche Veränderungen im Bereich der Schulstruktur die Basis für die ge-schlechterreflektierende Arbeit bilden. Grundlegend für die Konzeption von Jungen¬arbeit ist jedoch die Rückbeziehung auf die Mädchenarbeit, bzw. auf die koedukative Praxis.

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Leseprobe

2 Die gesellschaftliche Konstruktion von Geschlecht


 

Da sich aus den verschiedenen Konstruktionsprozessen von Geschlechtlichkeit unterschiedliche Konsequenzen für die bildungstheoretische bzw. schulpädagogische Diskussion ergeben, setzt sich das erste Kapitel mit der interaktiven und sozialen Konstruktion von Geschlecht auseinander. Zu Beginn dieses Kapitels wird das sex/gender-System, das lange Zeit die Grundlage vieler wissenschaftlicher Auseinandersetzungen bildete und heute z.T. immer noch bildet, erläutert und kritisch hinterfragt. Darauf aufbauend wird die diskursive Herstellung der Kategorie Geschlecht aus diskurstheoretischer Sicht evaluiert.

 

2.1 Das sex / gender Modell


 

In den westlichen Kulturen wird die Zweigeschlechtlichkeit des Menschen als Faktum betrachtet. Galten früher mystische bzw. religiöse Erklärungen für die Geschlechtlichkeit, geht man heute von der Naturhaftigkeit der Geschlechtsidentität aus. Diese als natürlich diagnostizierte Zweigeschlechtlichkeit durchdringt alle Ebenen der menschlichen Identität, sie normiert den alltäglichen wie auch den wissenschaftlich-theoretischen Blick auf die Geschlechter.

 

Grundlegend an dieser ‘Alltagstheorie’ ist nach Carol Hagemann-White, daß die Geschlechtszugehörigkeit ”als eindeutig, naturhaft und unveränderbar verstanden[5] wird. ”Ohne jede bewußte Überlegung wird davon ausgegangen, dass jeder Mensch entweder weiblich oder männlich sein müsse, was im Umgang erkennbar zu sein hat (Eindeutigkeit); dass die Geschlechtszugehörigkeit körperlich begründet sein müsse (Naturhaftigkeit); und dass sie angeboren ist und sich nicht ändern könne (Unveränderbarkeit).[6]

 

Aus der Kritik an den ”androzentristischen Verkürzungen der ‘main /- male-stream’ Wissenschaft[7] heraus formulierte Gayle Rubin Mitte der 70ger Jahre das sex/gender-Modell. Die elementare Grundlage dieses Modells manifestiert sich in der unterschiedlichen Definition von ‘sex’ und ‘gender’. Sie definiert ‘sex’ als rein biologisch determinierten Status (analog der Anatomie, Morphologie, Physiologie und der Hormone) und ‘gender’ als sozial und kulturell erworbenen Status (analog zur Sozialisation, eingebettet in gesamtgesellschaftliche, geschlechtliche Arbeitsteilung).

 

Die von Gayle Rubin vorgeschlagene Trennung zwischen dem biologischen (‘sex’) und dem sozialen Geschlecht (‘gender’) und das damit einhergehende Differenzpostulat

 

entwickelte sich in der Frauenforschung zum allgemein akzeptierten Analysekriterium.

 

Gildemeister und Wetterer betonen die historische Notwendigkeit dieses Modells, in dem Sinne, daß die ”Unterscheidung zwischen ‘sex’ und ‘gender’ ein ebenso praktisches wie plausibles begriffliches Instrumentarium” darstellte, in dem sie den ”im Alltagsbewußtsein immer noch fest verankerten ‘Natur der Frau’- Argumentationen ein entschiedenes und begründetes Nein entgegensetzen[8] konnte.

 

Seitdem explizit im amerikanisch-englischen Forschungsbereich, aber zunehmend auch in der deutschsprachigen Forschung, das biologische Geschlecht (‘sex’) selbst Gegenstand der Auseinandersetzungen geworden ist, offenbart das sex/gender-Modell einige Aporien. Eine erste Aporie erklärt sich aus der Beibehaltung der ‘natürlichen’ binären Unterscheidung zwischen einem männlichen und einem weiblichen Körper. ”Gleichzeitig wurde mit dem Insistieren auf dieser Trennung jedoch nicht nur die Annahme, unsere geschlechtlichen Körper seien etwas Natürliches, ursprünglich Gegebenes, quasi feministisch ‘festgeklopft’, sondern auch die Behauptung, es handle sich dabei um zwei biologisch eindeutig verifizierbare unterschiedliche geschlechtliche Körper.[9] Der Rekurs der Sozialwissenschaften und der Alltagstheorie auf biologische Grundlagen der Geschlechtsunterschiede erweist sich bei differenzierter Betrachtung als illegitime Bezugnahme. Gildemeister und Wetterer resümieren: ”Biologie und Physiologie erweisen sich dabei überraschenderweise eher als schlechte Ratgeber. Sie treffen eine weitaus weniger trennscharfe und weniger weitreichende Klassifizierung als manche Sozialwissenschaft (und das Alltagsbewußtsein) und entwerfen ein sehr viel differenzierteres Bild des scheinbar so wohlumrissenen binären biologischen Geschlechts.[10] In Bezugnahme auf Lorber / Farell (1991) und Hagemann-White (1984) verweisen sie auf fünf verschiedene Möglichkeiten der somatischen Geschlechterbestimmungen: das Chromosomengeschlecht, das Keimdrüsengeschlecht, das morphologische Geschlecht, das Hormongeschlecht und letztendlich die Bestimmung des Geschlechts durch geschlechtstypische Besonderheiten im Gehirn. In den Alltagstheorien und in den Sozialwissenschaften dominiert die Bezugnahme auf das morphologische Geschlecht. Die binäre Unterscheidung zwischen einem männlichen und einem weiblichen Geschlecht unter Bezugnahme auf rein biologische Faktoren erweist sich demnach als diffizil, da, bezogen auf eine Person, die einzelnen Faktoren keineswegs aneinander gekoppelt sein müssen, so daß in letzter Konsequenz vielmehr von einem geschlechtlichen Kontinuum ausgegangen werden kann. Bestimmungen der Geschlechtsidentität mit dem Hinweis auf die Naturgebundenheit werden demnach von biologischen Definitionen nicht unterstützt: ”Es gibt keine zufriedenstellende humanbiologische Definition der Geschlechtszugehörigkeit, die die Postulate der Alltagstheorien einlösen würde.”[11]

 

Eine zweite gewichtige Aporie der sex/gender Trennung offenbart sich in den philosophisch-diskurstheoretischen Analysen von Judith Butler[12]. Ausgehend von der Annahme, daß das kulturelle Geschlecht (‘gender’) nicht mehr zwangsläufig dem sog. biologischen Geschlecht (‘sex’) folgt, treibt sie die Trennung von anatomischem Geschlecht bzw. der Geschlechtsidentität bis an ihre logische Grenze[13]. Aus folgenden Überlegungen  Butlers ergeben sich ausschlaggebende Konsequenzen für das sex/gender-Modell: ”Setzen wir für einen Augenblick die Stabilität der sexuellen Binarität (binary sex) voraus, so folgt daraus weder, daß das Konstrukt ‘Männer’ ausschließlich dem männlichen Körper zukommt, noch daß die Kategorie ‘Frauen’ nur weibliche Körper meint. Ferner: Selbst wenn die anatomischen Geschlechter (sexes) in ihrer Morphologie und biologischen Konstitution unproblematisch als binär erscheinen (was noch die Frage sein wird), gibt es keinen Grund für die Annahme, daß es ebenfalls bei zwei Geschlechtsidentitäten bleiben muß.[14] Sie weist auf die stillschweigende Parallelisierung von biologischem und sozialem Geschlecht hin, mit der Konsequenz eines entgegen der ursprünglichen Intention des Modells verlagerten Biologismus. Hieraus resultiert die Aufrechterhaltung der traditionellen binären Geschlechtsstruktur, da von der Annahme ausgegangen wird, ”daß zwischen Natur und Kultur also zumindest in Hinblick auf die zweigeschlechtliche Strukturierung ein mimetisches Verhältnis besteht.[15]

 

In eine ähnliche Richtung argumentiert auch Irene Sgier. Sie stellt ebenso fest, daß es nicht ausreiche, Geschlecht als soziale Konstruktion zu betrachten, ”ohne das zugrunde liegende Prinzip der Zweiteilung selbst zu thematisieren.[16] Wie bereits dargestellt beruht die binäre Struktur der Geschlechter auf einer Alltagstheorie der Zweigeschlechtlichkeit, die sich aus der biologischen Beschaffenheit nicht direkt ableiten läßt. Im Falle, daß sich Theorien das Prinzip der Zweigeschlechtlichkeit zur Grundlage machen, erklären sie ”somit eine vortheoretische Annahme zum theoretischen Ausgangspunkt, was zur Reifizierung zentraler Bereiche der Geschlechterverhältnisse führen kann.”[17]

 

Anthropologische und ethnologische Studien unterstützen die Kritik an der Universalisierung des Prinzips der Zweigeschlechtlichkeit. Insbesondere in den Arbeiten von Margaret Mead (1961),  Ortner / Whithead (1981) und Bennhold -Thomsen (1989) wird deutlich, daß zum einen die Anzahl der Geschlechter und zum anderen die Attribute der Geschlechter je nach kulturellem Kontext differieren und variieren können. So existieren z.B. Gesellschaften mit einem Drei-Geschlechter-Modell, in denen homosexuelle Männer eine ‘eigene’ geschlechtliche Kategorie bilden. Ebenso wurden Kulturen gefunden, in denen ein Geschlechtswechsel[18] möglich ist (auch temporär) ohne dies mit einem Irrtum bei der anfänglichen Zuordnung begründen zu müssen.[19]Selbst wenn die meisten bekannten Gesellschaften kulturell zweigeschlechtlich verfaßt sind, gilt also zumindest die Koppelung von ‘sex’ und ‘gender’ als keineswegs so sicher und selbstverständlich, daß sie einfach als ‘naturwüchsig’ gegeben, vorausgesetzt werden kann, wie dies unsere ‘aufgeklärte’ Parallelisierung unterstellt.”[20]

 

2.2 Die moderne Konstruktion der Zweigeschlechtlichkeit


 

Ein wesentlicher historischer Aspekt in der Geschlechterkonstruktion war die veränderte Sichtweise auf die geschlechtlichen Körper. Herrschte bis zum 18....

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