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E-Book

London Calling

Als Deutsche auf der Brexit-Insel

AutorAnnette Dittert
VerlagHoffmann und Campe Verlag
Erscheinungsjahr2017
Seitenanzahl288 Seiten
ISBN9783455001648
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis3,99 EUR
Es ist Liebe auf den ersten Blick, als Annette Dittert 2008 als Korrespondentin der ARD in London ihre Zelte aufschlägt. Nach vielen Jahren beruflichen Nomadentums weiß sie sofort: Hier will ich bleiben. Während ihrer vielen Jahre in der britischen Hauptstadt hat sie im Fernsehen nicht nur über Politik, Kultur und Königshaus berichtet, sondern auch immer wieder über die Eigenarten der Engländer im Allgemeinen und der Londoner im Speziellen. In ihrem Buch erzählt sie sehr persönlich über das Leben in dieser wunderbaren Stadt: über die Leidenschaft zu ihrem Hausboot namens Emilia, über das Prinzip des englischen Sich-Durchwurschtelns, über Straßenkünstler, gentrifzierte Stadtteile, den Bären Paddington - und natürlich den Brexit, der das Lebensgefühl in der Metropole auch für sie ganz persönlich verändert hat.

Annette Dittert ist Auslandskorrespondentin und Filmemacherin für die ARD, wo sie über mehrere Jahre das Morgenmagazin moderierte und seit 2001 als Korrespondentin u. a. in Moskau, New York und Warschau tätig war. Von 2008 bis 2015 berichtete sie für die ARD aus der britischen Hauptstadt, eine Aufgabe, die sie zum 1. Januar 2019 wieder neu aufgenommen hat. Die Wahl-Londonerin lebt und arbeitet auf ihrem Hausboot in Little Venice.

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Leseprobe

Von Emily, diversen Eigenheiten der Engländer und warum der 24. Juni 2016 ein seltsamer Tag war.


Als ich am Abend des 24. Juni, also dem Tag nach dem Referendum, spätabends in Little Venice ankam, einem von Kanälen durchzogenen Teil Londons, wo ich auf einem kleinen, selbstgebauten Hausboot mit dem Namen Emilia lebe, stand ein Eimer mit bunten Tulpen auf dem Bootsdeck vor meiner Eingangstür. In der Mitte prangte ein Zettel mit einer vom Regen leicht verwaschenen Aufschrift:

»Please don’t go.«

Es war das zweite Mal an diesem Tag, dass ich zu heulen begann. Das erste Mal hatte es mich am Morgen erwischt, auf der Rückreise aus Edinburgh. Ich hatte von dort über den Ausgang des Referendums für die ARD berichtet, aber noch nicht wirklich begriffen, was passiert war. Erschöpft ließ ich mich am Fenster des noch fast leeren Großraumabteils nieder, und während die grauen Vororte Edinburghs vor meinem Fenster vorbeiflogen, stand mir noch immer das Gesicht des hageren Kellners vor Augen, der mich zum Taxi gebracht hatte. Ungläubig und entsetzt hatte er mich angesehen, als ob er das Ergebnis noch immer für einen schlechten Witz hielt. Die Schotten hatten den EU-Austritt mehrheitlich nicht gewollt. Auf dem Weg nach London füllte sich das Zugabteil zunehmend mit müden Gesichtern, denen nicht mehr abzulesen war, ob sie für oder gegen den Brexit gestimmt hatten.

Diese Einordnung ging bereits am Tag danach reflexhaft los: Man begann sich gegenseitig zu belauern, versuchte herauszufinden, zu welchem Lager der jeweils andere gehörte: dafür oder dagegen. Seitdem ist so gut wie kein Gespräch mehr möglich, ohne dass vorher geklärt wird, auf welcher Seite das Gegenüber steht. In etwa der Hälfte der Fälle erledigt sich damit auch gleich die Unterhaltung als solche.

Mir gegenüber saß an diesem Morgen ein junges rothaariges Mädchen. Trotz einer Leibesfülle, die Geschlechtsgenossinnen überall sonst auf der Welt verschämt unter Schlabberkleidern tarnen würden, war es in einem dieser verwegenen knallbunten Miniröcke unterwegs, die besonders im Norden Englands ungeheuer populär sind. Ich mag das übrigens. Dieses selbstbewusste Zurschaustellen der eigenen Leibesfülle. Fat can be beautiful, gerade auch in einem Minirock, vorausgesetzt man weiß die Pfunde darunter mit Würde zu tragen. Aber das ist eine andere Geschichte.

Während das Mädchen aufgeregt auf sein Handy eintippte, klingelte meins. Ein Anruf von der Tagesschau. Als ich den Anruf entgegennahm und auf Deutsch zu sprechen begann, breitete sich im ganzen Abteil blitzartig ein Schweigen aus, das ich zunächst nicht deuten konnte. Aber eines war sicher: Es hatte mit mir zu tun. Selbst die kleine Rothaarige mir gegenüber hatte aufgehört zu tippen.

Als ich auflegte, sah sie mich ausdruckslos an.

Während ich noch überlegte, ob ich – zweifelsohne als Deutsche und Europäerin identifiziert – nun womöglich des Zuges verwiesen würde, verzerrten sich ihre Gesichtszüge. Dann brach sie in ein derart hemmungsloses lautes Weinen aus, dass ich den Satz, der sich darunter seinen Weg zu mir bahnte, zunächst kaum verstand.

»I am so sorry, I am so so sorry for this …« Und ich begriff.

Sie hatte diesen Brexit, wie so viele junge Briten, auf keinen Fall gewollt, sie weinte um sich selbst und ihre demnächst so deutlich eingeschränkten Zukunftsperspektiven. Aber das war nicht alles. Sie weinte auch aus Scham mir gegenüber.

»Ich möchte mich wirklich persönlich bei Ihnen dafür entschuldigen«, erklärte sie immer noch schluchzend. »Das ist so unbritisch, so mit Fremden umzugehen, das haben wir hier alle nicht gewollt, dass ihr jetzt wieder nach Hause sollt, das müssen Sie mir glauben.«

Das war der Augenblick, in dem mir klar wurde, dass ich ab sofort nicht mehr selbstverständlich dazugehören würde in diesem Land. Und weil die kleine Rothaarige nicht aufhören konnte zu weinen und ich sie außerdem so nett und offen fand in ihrem Unglück, das ab sofort auch irgendwie meins war, aus all diesen Gründen heulte ich dann mit.

Es war alles in allem ein sehr seltsamer Tag, dieser 24. Juni 2016.

 

Die Tulpen vor meinem Boot wollte im Nachhinein keiner meiner Nachbarn dort hingestellt haben. Und ich habe auch nicht weiter insistiert, denn Gefühle zu zeigen ist schon an normalen Tagen immer noch nicht wirklich üblich auf der Insel. Man will ja niemanden in Verlegenheit bringen. Wie ich außerdem sehr bald begriff, redete schon wenige Tage später generell niemand mehr gern über den Brexit, und schon gar nicht mit Europäern, die man dadurch vor den Kopf gestoßen hatte.

Ich nahm also die Blumen und meinen Koffer, wuchtete beide in das Innere Emilias, des kleinen stabilen Stahlkahns, den ich seit einigen Jahren mein Zuhause nenne, und beschloss, die Politik dort draußen erst einmal zu vergessen. Wenn ich eins gelernt hatte in diesem Land, dann war es, angesichts drohender Katastrophen Ruhe zu bewahren und auf keinen Fall den Humor zu verlieren. Der leicht abgegriffene Spruch Keep calm and carry on ist nicht umsonst zu einer der meistbenutzten sprachlichen Ikonen des britischen Lifestyle geworden. Man braucht das hier. Seit dem Brexit ganz besonders.

Durch diese Geisteshaltung kam ich übrigens auch zu Emilia. Auf diversen Umwegen allerdings. Mein Leben als Londoner Hausbootbesitzerin begann damit, dass mich aus der Heimatredaktion der Auftrag ereilte, neben den üblichen Berichten, die man als Korrespondent so täglich abarbeitet, einen längeren Film über Großbritannien zu drehen. Ich war noch nicht lange auf der Insel und kannte mich noch nicht gut aus, aber eines hatte ich bereits gesehen: ein englisches Kanalboot von innen.

Mein Umzug von New York nach London war einer relativ spontanen Idee geschuldet gewesen, und nachdem ich in der britischen Hauptstadt gelandet war, gab mir eine besorgte Berliner Freundin eine Telefonnummer durch, die ich unbedingt anrufen sollte. Das tat ich, und am anderen Ende meldete sich eine sehr englische, sehr distinguierte Stimme, die zu einem offensichtlich nicht mehr ganz jungen Gentleman gehörte. Ein gewisser Owen, der mich spontan für den nächsten Abend zu einem Dinner bei sich zu Hause einlud.

Auf sein Kanalboot in Little Venice.

An dieser ersten Begegnung mit einem »Eingeborenen« waren, wie ich später erfahren sollte, gleich drei Dinge ungewöhnlich. Erstens das Hausboot – klar. Ganz offensichtlich kein üblicher Wohnort. Was in London aber noch weit seltener vorkommt als ein Kanalbootbewohner, das ist ein Engländer, der einen zweitens spontan zum Dinner einlädt und drittens auch noch bei sich zu Hause. Was sicherlich viel mit der Größe der Wohnungen zu tun hat, aber auch mit einer gewissen Trutzburg-Mentalität. Es hat Jahre gedauert, bis ich nach diesem erstaunlichen ersten Fall von spontaner Gastfreundschaft wieder das Innere einer englischen Behausung gesehen habe.

Die Engländer lieben ihre Eigenheime, vielleicht sogar mehr als jedes andere Volk in Europa. Sie lassen aber selten jemanden hinein.

Für diesen Widerspruch gibt es viele Theorien. Die historische besagt, dass die My home is my castle-Mentalität ihren Ursprung in der viktorianischen Zeit hat, als die jungen Industriestädte heillos überfüllt waren. Wer den ganzen Tag mehr Menschen um sich hat, als ihm lieb ist (und in London ist das eigentlich immer der Fall), der braucht sein Heim als Rückzugsort. Als Bollwerk gegen das unberechenbar gewordene Leben draußen.

Dazu passend ging Ende des 19. Jahrhunderts einer der hellsten Sterne am viktorianischen Wertehimmel auf: die Kernfamilie und ihr unbedingter Zusammenhalt gegen die äußere Welt. Es war im Übrigen ein Deutscher, der ganz wesentlich an dieser Neuorientierung beteiligt war. Und zwar Prinz Albert, der Gatte von Königin Viktoria. Anders als der heutige Prinzgemahl, der sich irgendwann mit Spott und Sarkasmus in sein Schattendasein ergeben hat, ersann Prinz Albert ständig neue Projekte, um seinem Leben einen Sinn zu geben. Eins davon war eine groß angelegte Image-Kampagne, die den Ruf des zuvor etwas unpopulär gewordenen Königshauses aufmöbeln sollte und deren Ziel es war, Fleiß, Bildung und Familienzusammenhalt zu neuen Kerntugenden des Palastes auszurufen.

Mit diesem Projekt wollte er vor allem die Mittelschicht für das Königshaus zurückgewinnen, die dem leicht abgehobenen royalen Treiben Ende des 19. Jahrhunderts zunehmend skeptisch gegenüberstand. Prinz Alberts Kampagne wurde ein durchschlagender und überraschend nachhaltiger Erfolg: Die bürgerliche Welt spielte euphorisch mit, und so entwickelte sich die Kernfamilie, hinter sicheren Mauern gegen die Gefahren der äußeren Welt verschanzt, bald zum Leitbild für große Teile der Mittelschicht.

Bis heute führen ganze Generationen britischer Normalbürger dieses Stück begeistert weiter auf. Die Hauptrolle in »My home is my castle« spielt übrigens die front door, die Haustür, die man mit möglichst niemandem teilen sollte. Ab dem Moment, wo die Tür ins Schloss fällt, will man nur noch unter sich sein. Deshalb besteht das sweet home für den Engländer auch unbedingt aus einem ganzen Haus, egal wie klein – wegen der eigenen Haustür eben. In Wohnungen leben in der Regel die Ausländer.

 

Dass ich bereits in meinen ersten Tagen in London von einem Engländer in sein Zuhause eingeladen wurde, war damit ein Sonderfall.

Es befand sich auf schwankendem Untergrund,...

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