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Onkologische Palliativpatienten im Krankenhaus

Seelsorgliche und psychotherapeutische Begleitung

AutorCorinna Schmohl
VerlagKohlhammer Verlag
Erscheinungsjahr2015
Seitenanzahl316 Seiten
ISBN9783170263772
FormatePUB/PDF
KopierschutzWasserzeichen/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis52,99 EUR
Jährlich sterben in Deutschland ca. 850.000 Menschen. Krebs ist mit ca. 215.000 Sterbefällen die zweithäufigste Todesursache. Die meisten Patienten (ca. 70 %) verbringen ihre letzten Wochen und Tage in stationären Einrichtungen. Die Frage nach Sinn, Wert und Bedeutung des eigenen Lebens und Handelns beschäftigt nicht nur die Betroffenen oft in großer Intensität, sondern vielfach auch Mitarbeitende in den helfenden Professionen, Ehrenamtliche, Angehörige und Nahestehende der Patienten. Das Leiden unter Gefühlen der Sinnlosigkeit, des spirituellen Schmerzes und ungelöster religiöser Fragen bleibt in der Praxis trotz des palliativmedizinischen 'total pain'-Konzepts häufig weitgehend unbeachtet. Sinnzentrierte Seelsorge im Anschluss an die Logotherapie Viktor Frankls würdigt die Individualität des Einzelnen und bietet wichtige Impulse für interdisziplinäre Zusammenarbeit und seelische Gesundheit.

Dr. theol. Corinna Schmohl, Evangelische Pfarrerin, Logotherapeutin, Fachkraft Palliative Care/Seelsorge, arbeitet seit 2005 mit onkologischen Palliativpatienten und ist seit 2013 am Klinikum Stuttgart tätig. Forschungs- und Interessengebiete sind das Grenzgebiet von Seelsorge und Psychotherapie sowie Gesundheit und Spiritualität.

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Leseprobe

1         Psycho(onko)logie und Klinikseelsorge


 

 

 

1.1        Psychoonkologie


Mitte des letzten Jahrhunderts wurde (parallel zum Betreuungskonzept der Palliativmedizin) die Psychoonkologie als interdisziplinäre Spezialdisziplin im Schnittpunkt von Onkologie, Innerer Medizin, Psychiatrie und Psychosomatik entwickelt, um eine ganzheitliche Versorgung der Patienten in allen Stadien ihrer Erkrankung zu gewährleisten. Sie befasst sich mit der Beratung, Begleitung und Behandlung von Problemen und Verhaltensweisen von Krebspatienten in den verschiedenen Erkrankungsphasen, der Rehabilitation und des Sterbens.77

Die Sicht auf Krankheitsbewältigung als individuelles, interaktives und soziales Prozessgeschehen ist speziell das Verdienst der Psychoonkologie. Die Definition des Begriffs Krankheitsbewältigung variiert je nach dem zugrunde liegenden theoretischen Modell und kann die Haltung der Erkrankung gegenüber meinen, die Befindlichkeitsregulation oder Lösung krankheitsbedingter Probleme oder die Anpassung an die durch die Erkrankung veränderte Lebenssituation und die Aufrechterhaltung eines bestimmten Performanzniveaus.78

Die supportive Betreuung der Patienten durch den psychoonkologischen Dienst ist in Qualifikation und Aufgabenprofil als Teil des Gesundheitssystems genau definiert. Nach den Leitlinien der Deutschen Krebsgesellschaft richten sich die psychoonkologischen Interventionen auf die Themen: Angst, Depression, Belastungserleben, Krankheitsverarbeitung, gesundheitsbezogene Lebensqualität und funktioneller Status, Körperbild, Selbstkonzept, soziale Beziehungen, Kommunikation, Sexualität, Fatigue, Schmerzen, Behandlungscompliance und -adherence sowie neuropsychologische Beeinträchtigungen (Aufmerksamkeit, Gedächtnis, Konzentrationsfähigkeit).79

Das zentrale Ziel psychoonkologischer Arbeit ist die psychosoziale Unterstützung der an Krebs Erkrankten und ihrer Angehörigen. Erst seit den 1980er Jahren ist auch die Palliativversorgung von Tumorpatienten Thema der Psychoonkologie.80 Es bleibt weiterhin die Ausnahme, dass Psychotherapeuten in den letzten Stunden noch Kontakt zu ihren Patienten haben. Üblich ist eher ein gestalteter Abschied einige Wochen vor dem Lebensende. Derzeit werden im Bereich der Onkologie für die Leitlinien Psychoonkologie und Palliativmedizin sowohl organspezifische als auch diagnoseübergreifende Leitlinienthemen entwickelt.81

Die im psychologischen Dienst tätigen Psycho(onko)logen arbeiten, sofern sie psychotherapeutisch weitergebildet sind, je nach Ausrichtung der Hochschule in deren Umkreis sie nach dem Studium tätig werden, in der Regel entweder verhaltenstherapeutisch oder tiefenpsychologisch orientiert. Die psychodynamischen wie verhaltenstherapeutischen Richtungen sind in der Psychoonkologie als klassische Therapieverfahren weit verbreitet und von den Kostenträgern anerkannt.82

In der klinischen Psychotherapie ist die Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von Psychotherapie, Religion und Spiritualität traditionell nicht üblich. Die religiöse Seelsorge wird seitens der Psychotherapie eher als „Konkurrenz“ und „Vorläuferin“ angesehen.83 Nicht selten wird von Psychotherapeuten/Psychoonkologen, die in der Klinik Teil des therapeutischen Teams sind, der Anspruch vertreten, es gehe in der Arbeit darum, „objektiv“ festzustellen, was „tatsächlich“ wirkt, ein Anspruch, den der Viktor-Frankl-Preisträger der Stadt Wien (2005)84 und inzwischen emeritierter Professor für Psychotherapie und Klinische Psychologie zu Osnabrück, Jürgen Kriz, mit Verweis auf Heisenberg85 als „maßlos im Vergleich zur Bescheidenheit moderner Physik“ und als „verantwortungslos“86 kritisiert:

„[…] wer so spricht, drückt sich um seine Verantwortung herum, dass es um seine Beziehung zur Psychotherapie, zum Menschen und zur Welt geht, wenn er so tut, als könne er quasi unbeteiligt, objektiv und unschuldig die „Welt“, den Menschen oder die Psychotherapie beschreiben.“87

In der psychoonkologischen Praxis bleibt nach der Erfahrung der Verfasserin auch die Sinn- und Wertfrage, vor allem bei Verhaltenstherapeuten, derzeit in der Regel insbesondere mit Verweis auf die Pflicht zur Neutralität ausgeklammert. Ob Patienten Aspekte von Spiritualität oder Religiosität sowie Sinn- und Wertfragen als sie bewegende Themen in das psychotherapeutische Gespräch einbringen und eine Auseinandersetzung mit diesen Fragen zu einem wichtigen Bestandteil der therapeutischen Arbeit werden kann, dürfte zum Teil auch darauf zurückzuführen sein, ob und wie Therapeuten und Therapeutinnen solche Themen wahrzunehmen und aufzunehmen bereit sind.88 Der Kontext, in dem die praktisch-psychotherapeutische Arbeit stattfindet (ambulante Praxis oder Klinik) spielt dabei ebenso eine Rolle wie der Sozialraum ([groß-]städtisch, ländlich, vorherrschende weltanschauliche Prägungen) und die Therapierichtung, die der jeweilige Psychotherapeut bzw. Psychoonkologe vertritt.89

1.2        Themen psychoonkologischer Forschung


Der Blick auf die psychoonkologische Forschung zeigt ein anderes Bild: Werterleben, Hoffnung und Sinnerleben, Spiritualität und Religiosität sind inzwischen durchaus Themen psychologischer und psychoonkologischer Forschung geworden.90

Hoffnung hat aus der Sicht der Psychoonkologie insgesamt einen deutlich funktionalen Charakter. Gerade bei Krebserkrankungen fällt auf, dass seitens der Medizin, aber auch in der Psychoonkologie sprachlich oft Kriegsmetaphern zum Einsatz kommen. Hoffnung wird dann verstanden als Waffe im Kampf gegen die Krankheit. Es besteht auf Seiten der Patienten eine regelrechte Pflicht zur Hoffnung, verbunden mit dem (unausgesprochenen) Verbot, Angst, Ärger, Sorgen und Traurigkeit zu äußern. Es besteht ein sozialer Druck zur Hoffnung, da Hoffnungsverlust als unerlaubte Waffenniederlegung, als Zustandsverschlechterung ausgelegt wird. Ebenso wird eine Symptomverschlechterung gerne als Niederlage interpretiert.

Der Psychoonkologe Küchler geht darüber hinaus und differenziert:

„[Hoffnung] ist ein Akt der Selbsttranszendenz und wird im Zusammenhang mit den verschiedenen Phasen der Erkrankung gesehen. Hoffnung richtet sich auf etwas Mögliches. Dies unterscheidet sie von anderen Krankheitsbewältigungsstrategien. Sie wird vorwiegend im Kontext von Spiritualität bzw. Religion thematisiert. Damit ist allerdings implizit die transzendente Dimension der Hoffnung bereits angesprochen.“91

Die Frage nach dem Sinn ist gerade in den Krisensituationen an den Grenzen des Lebens zunehmend auch Gegenstand medizinischer, psychologischer und sozialwissenschaftlicher Forschung. Es wird gesehen, dass Sinn- und Wertfragen in engem Zusammenhang mit religiösen und spirituellen Fragen einerseits und medizinischen Fragen andererseits stehen, wobei die Beantwortung dieser Fragen im Setting der Klinik nicht mehr (ausschließlich) aus theologischer Expertise heraus erwartet wird.92

Dieser Wandel hat sich in der psychoonkologischen Forschung niedergeschlagen. Psychoonkologische Untersuchungen der letzten Jahre zeigen, dass sich die Auseinandersetzung mit Sinnfragen auf das Leben von Krebskranken positiv auswirken kann.93 „Sinnerfahrung scheint mit besserer psychischer Anpassung an die Erkrankung einherzugehen“94. Beispielhaft sollen einige Entwürfe kurz skizziert werden.

1.2.1     Meaning-based Coping (Susan Folkman und Steven Greer)


Ein bekanntes Modell der Psychoonkologie ist das sogenannte “meaning-based coping”, im Jahr 2000 vorgestellt von Folkman und Greer.95 Bereits in den 1960er Jahren wurde ausgehend von den Ergebnissen der Stressforschung deutlich, dass die subjektive Bewertung (“appraisal”) des Individuums einen entscheidenden Einfluss auf die Krankheitsverarbeitung hat.96 Beim Eintritt eines kritischen Lebensereignisses kommt es zu subjektiven Bewertungsprozessen, die durch individuelle Lebenserfahrung und Persönlichkeitszüge geprägt sind. Das Ereignis kann so z. B. als Bedrohung oder Herausforderung interpretiert werden. Wenn keine Lösung gefunden werden kann, entsteht Stress. Mit dem Prozess des “meaning-based coping” ist die Fähigkeit gemeint, nicht erreichbare Ziele aufzugeben und neue zu formulieren, die nicht mit den ursprünglichen Zielen übereinstimmen, aber nun als erstrebenswert oder erreichbar erscheinen.97 Nach Martin Fegg, der dieses Modell aufgreift (s. u.), lässt sich dieser Prozess auch beim Übergang von kurativen zu palliativen Behandlungskonzepten beobachten.98

1.2.2     Acceptance and Commitment Therapy (ACT) (Steven C. Hayes et al.)


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