Im Jahre 1995, nach der katastrophal ausgegangenen Intervention in Somalia, der sich immer mehr als Katastrophe erweisenden UN-Mission in Bosnien und Herzegowina und der Paralyse der internationalen Gemeinschaft im Vorfeld des Genozides in Ruanda, veröffentlichte der damalige General-Sekretär der Vereinten Nationen Boutros Boutros-Ghali einen Nachtrag zu seiner im Jahre 1992 veröffentlichten Agenda for Peace. In dieser Beigabe schildert er die Gefahren, die von innerstaatlichen Konflikten ausgehen. Ganz besonders wies er darauf hin, diese Konflikte seien von einer Fragilität der Staatlichkeit begleitet (failing states), die zu einem kompletten Kollaps der staatlichen Institutionen führen kann (failed states)[1]. Durch die Fragilität und das Kollabieren der Staatlichkeit drohten der lokalen Bevölkerung, aber auch dem internationalen Frieden, der Sicherheit und der Wohlfahrt noch größere Gefahren. In diesem Zusammenhang plädierte Boutros-Ghali für einen Paradigmenwechsel, von klassischem peacekeeping weg, hin zum post-conflict-peacebuilding. Er warnte zwar vor einem direkten Auferlegen staatlicher Institutionen seitens der Vereinten Nationen, allerdings argumentierte er für eine Erweiterung der Mandate der internationalen Missionen, um die Rekonstruktion und Reform staatlicher Institutionen in failing states und failed states zu unterstützen.[2]
Tatsächlich beteiligen sich die Vereinten Nationen und die internationale Gemeinschaft seit der 1990er Jahre im Kontext der post-conflict-peacebuilding-Operationen aktiv an state-building-Prozessen, so zum Beispiel in Ost Timor, Kosovo und in Bosnien und Herzegowina.[3] State-building meint hier Konstruktion bzw. Rekonstruktion administrativer Institutionen integrativen Charakters,[4] die langfristig in die Lage versetzt sein sollen, für die lokale Bevölkerung soziale, ökonomische sowie physische Sicherheit im Sinne des good governance bereitzustellen.[5] Nach der Unterzeichnung des Friedensabkommens folgen in der Regel im Rahmen des peacebuilding mehrere zivile und militärische Missionen.[6]
Fast alle Friedensabkommen zur Beendigung von Bürgerkriegen seit 1989 beabsichtigen durch Demokratisierung einen nachhaltigen Frieden zu schaffen. Demnach verfolgen die 33 zwischen 1989 und 1999 eingesetzten Friedensmissionen, trotz mancherlei Unterschiede, alle das Ziel einer schnellstmöglichen Transformation der vom Krieg ruinierten Staaten in „liberale marktwirtschaftlich orientierte Demokratien“.[7] Das gilt auch für Friedensabkommen zwischen ethnisch definierten Konfliktparteien. In ethnisch gespaltenen Nachbürgerkriegsgesellschaften ist der Konfliktgegenstand vor, während sowie nach Friedensschlüssen oft als Disput über den Aufbau staatlicher Institutionen, aber auch über die Definition des demos (Staatsvolks) determiniert.[8] Meistens hat in ethnisch pluralen Gesellschaften eine Politisierung von kollektiver Identität zum Ausbruch kriegerischer Auseinandersetzung geführt, was die Verhandlungen um den Aufbau gesamtstaatlicher administrativer Einheiten komplex und eskalierend macht.[9] Eine nachhaltige Stabilisierung dieser Staaten ist oft nur durch eine Transformation bestehender Strukturen möglich.
Entsprechend der neuen Situation wurden die Mandate der Friedensmissionen erweitert: Durch Etablierung transitiver Administrationen (UNMIK im Kosovo) oder internationaler Institutionen mit administrativen Befugnissen (Office of the High Representative in Bosnien und Herzegowina) sollen unter Obhut externer Akteure im Rahmen des Demokratisierungsprozesses nachhaltig funktionsfähige staatliche Institutionen in Post-Konfliktgesellschaften aufgebaut werden. Zudem solle bei den lokalen Akteuren zumindest ein Minimum eines gemeinsamen Zugehörigkeitsgefühls (Identität) mit der Nation erzeugt werden, ohne welches die aufgebauten administrativen Strukturen nicht existieren können – Nation-Building ist definiert als historischer, sozio-politischer Entwicklungprozess.[10] Bei der Demokratisierung von ethnisch gespaltenen Post-Konfliktgesellschaften setzt das Nation-Building Fortschritte beim state-building und vice versa.[11] Die Förderung der Identifikation der lokalen Bevölkerung mit den neu aufgebauten staatlichen Institutionen ist zusätzlich von immenser Bedeutung, wollen die externen Akteure die Verantwortung im Sinne des ownerhip auf die internen Akteure übertragen.
A priori, sind diese Prozesse nicht als friedensfördernd einzustufen.[12] Im Laufe dieser Prozesse greift die internationale Gemeinschaft direkt beim Abschluss der Friedensabkommen durch ihre Mandate stark in die Interessensbereiche vorhandener Herrschaftseliten und in die Souveränität dieser Staaten ein, was unter anderem auch die ideale Basis für die Entfachung der spoiling capacities werden kann.[13] Nicht jede Konfliktpartei ist nämlich an einer Transformation der bereits im Laufe eines Krieges etablierten Strukturen interessiert. Die Schwierigkeit besteht im Erstellen einer Balance zwischen der Behauptung internationaler Verpflichtungen auf der einen Seite und der Förderung von Selbstverantwortung bei den internen Akteuren auf der anderen Seite.[14]
Die Fragen nach der Übertragung von Verantwortung (ownership) auf die lokalen Strukturen stellen sich somit für die externen Akteure als äußerst brisant dar. Je mehr und je früher Kompetenzen auf der breiten politischen Ebene von den internen Akteuren getragen werden können, desto früher können die externen Akteure ihre Mission als beendet erklären, was langfristig gesehen sicherlich in ihrem eigenen Interesse sein sollte. Allerdings bedarf es einer gründlichen Analyse der Interessen der internen Akteure, bevor der tatsächliche Transfer von Verantwortung stattfinden und ferner zu erwünschten positiven Effekten beitragen kann. Vor allem in Gesellschaften in denen sich die Konfliktparteien nach ethnischen Kriterien definieren, sind diese Prozesse mit enormem Konfliktpotential beladen und damit ergeben sich potenzielle Ambiguitäten und Kontroversen darüber, wie ownership in der Praxis zu operationalisieren ist.
Das Post-Conflict-Peacebuilding in Bosnien und Herzegowina weckt ein großes Interesse der Wissenschaft an sich weil es sich nach wie vor um das massivste Engagement der internationalen Gemeinschaft im Aufbauen politischer, ökonomischer, sozialer und militärischer Strukturen nach Beendigung der kriegerischen Auseinandersetzungen handelt.[15] Diese Hausarbeit diskutiert mit Akzentuierung der Erweiterung der Befugnisse des Office of High Representative-Mission (OHR) durch die Konferenzen von Sintra und Bonn state-building in Bosnien und Herzegowina nach dem Abschluss des Dayton-Friedenabkommens im Jahr 1995. Der zeitliche Rahmen der Untersuchung schließt mit der Übergabe des Amtes von Carlos Westendrop auf Wolfgang Petritsch im Jahre 1999 ab. Diese zeitliche Abgrenzung erweist sich als sinnvoll, als gerade in dieser Anfangsphase die internationale Gemeinschaft mit strukturellen Defiziten bei der Konzipierung der Friedensmission konfrontiert war und erst Ende 1997 mit dem Amtsantritt von Westendrop die gezielte Konditionalität die Basis für ownership schuf.
Vermehrt stehen die Vollmachten dieser Mission innerhalb des wissenschaftlichen und politischen Diskurses unter starker Kritik. Durch ihre uneingeschränkte Machtfülle hätte die OHR-Mission de facto die Eigenverantwortung und Funktionalität der aufgebauten staatlichen Institutionen Bosnien und Herzegowinas mit nachhaltigem Effekt in Frage gestellt.[16] Jedoch sind die Befürworter eines starken Mandats der Meinung, die internationale Gemeinschaft hätte im Kontext der komplexen Post-Konflikt-Situation keine andere Alternative gehabt als sich deutlicher durch härteres Durchgreifen im state-building-Prozess zu engagieren. Um den Demokratisierungsprozess gegen die spoiler zu schützen, sei hartes Durchgreifen zum Wohle der gesamten Bevölkerung legitim gewesen.[17]
Diese Hausarbeit schließt sich keiner der beiden Standpunkte ad hoc an. Vielmehr soll die folgende Frage untersucht werden: Inwieweit trugen die von externen Akteuren bereits am Anfang der Friedenskonsolidierung begangenen Fehler während der Übergabe von Verantwortung auf die ehemaligen Kriegsgegner dazu bei, dass state-building in Bosnien und Herzegowina sich zu einem Fiasko entwickelte und eine Erweiterung der Autorität von HR sogar erforderlich machte, um die zentrifugale Einwirkung der Konfliktparteien einzudämmen und sie zum Aufbauen gesamtstaatlicher Institutionen zu mobilisieren?
Um dieser Frage nachgehen zu können, skizziere ich im ersten Teil des Hauptteils der vorliegenden Arbeit zunächst das Konzept des ownership. Dabei wird der Schwerpunkt auf die von Chesterman in seiner Studie[18] aufgearbeiteten, zentralen Aspekte des ownership in Post-Konflikt-Operationen gelegt und an bestimmten Stellen durch zusätzliche Sekundärliteratur ergänzt. Der Schwerpunkt liegt hier in einer akteurbezogenen...