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E-Book

Pädagogik mit beschränkter Haftung

Kritische Schultheorie

AutorStefan Blankertz
VerlagBooks on Demand
Erscheinungsjahr2019
Seitenanzahl200 Seiten
ISBN9783739267319
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis5,49 EUR
Schüler, Eltern, Lehrer klagen über die Schule. Politiker, Öffentlichkeit und Wirtschaft fordern mehr Leistung. Pädagogen wollen Chancengleichheit, Förderung und Integration. Dieses Buch argumentiert, dass der öffentlichen Schule Konstruktionsfehler innewohnen, die sie unreformierbar macht und verhindert, dass die Schule leistet, was sie soll. Es zeigt aber auch, welchen Interessen die derzeitige Schule dient und warum eine Öffnung zu mehr Eigenverantwortung und mehr pädagogischen Experimenten so heftig bekämpft wird. Der Autor beschäftigt sich seit vierzig Jahren mit Schulkritik, und dieses Buch ist die Quintessenz seiner Forschungen und Überlegungen. Er stellt radikal in Frage, dass Zur-Schule-Gehen für alle Kinder die optimale Form des Lernens und der Vorbereitung aufs Leben ist. Dazu führt er sowohl soziologische als auch genetische Gründe an. Die Fixierung auf Gleichheit, die in Sozialwissenschaften, Pädagogik und Politik vorherrscht, verspielt das Wichtigste: Die individuelle optimale Förderung der Heranwachsenden.

Stefan Blankertz, 1956, "Wortmetz", Lyrik und Politik für Toleranz und gegen Gewalt.

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Leseprobe

Kritische Pädagogik


Die vorherrschenden pädagogischen Strömungen lassen spätestens mit dem beginnenden 20. Jahrhundert kaum eine eigene Logik und Methode in Forschung und theoretischer Entwicklung erkennen: Ob nun in der ersten Hälfte des Jahrhunderts der Historismus in die »geisteswissenschaftliche Pädagogik« eingeht, ob in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts Piaget mit seiner Entwicklungspsychologie zum Propheten vieler Pädagogen avanciert oder ob die Sozialisationstheorie und die psychoanalytische Kritik als ein realistisches Gegengewicht gegen den Edelmut der pädagogischen »Provinz« gesetzt wird – die neuere Geschichte der pädagogischen Theoriebildung ist, von einigen interessanten, offiziell aber nicht zur Kenntnis genommenen Ausnahmen abgesehen, bestimmt durch Impulse und Herausforderungen, die gleichsam »von außen« gekommen sind. Die Ironie dieser Geschichte liegt darin, dass der Verlust der Wissenschaftlichkeit in der Pädagogik zusammenfällt mit den Bestrebungen, als »Erziehungswissenschaft« sich zu etablieren.

Das originär »Pädagogische« scheint nur mit praktischen Projekten der Erziehung verbunden zu sein. Die Bedeutung der Erziehungs»wissenschaft« wird von vielen Pädagogen selber ebenso wie von großen Teilen der Gesellschaft hauptsächlich in dem Ersinnen und Probieren praktischer Wege gesehen, bestimmte Ziele durch geplante Verhaltensweisen, Maßnahmen oder institutionelle Organisationsformen bei der heranwachsenden Generation zu verwirklichen. Jedoch bleibt die Diskussion der Ziele Sache der Philosophie und die Analyse der Praxis wird zu einem Gegenstand der Sozialwissenschaft. Bildungstheorie verkümmert zum Arsenal von Sätzen, die bei Abiturfeiern zitiert werden.

Dass sich Pädagogen, die sich als Erziehungswissenschaftler definieren, fast durchgängig von einem ungebrochenen antizipativen Bezug auf die Praxis leiten lassen, wird ihnen zu Recht als mangelnde Kritikfähigkeit oder Kritikwilligkeit ausgelegt. Sie machen sich umstandslos zu Ideologen des Bestehenden. Dies trägt Andreas Gruschka in seiner »Negativen Pädagogik« vor.32

Vergleichen wir nun allerdings die Pädagogik mit anderen »Wissenschaften«, die der Staat aus rein praktischen (d.h. affirmativen) Interessen ausdifferenziert hat und unterhält, etwa die Jurisprudenz, könnte auch umgekehrt interpretiert werden: Bei der Rechts »Wissenschaft« ist es gelungen, die komplexen Fragen der technischen Handhabung der Gesetzgebung noch radikaler zu trennen von der Frage nach dem Recht des Rechts. Die Frage nach den Rechtsgründen darf in der nach herrschender Intention auf unpraktische (d.h. folgenlose) Aspekte beschränkten Philosophie weiter behandelt werden, während die Praxis der Rechtsetzung außerhalb der Wissenschaft in die durch Macht und Zufall bestimmten Prozesse politischer Entscheidungsfindung verlagert wurde. Dagegen hat sich in der Pädagogik beharrlich, wenn auch als unbequeme Nebenlinie, die kritische Frage nach den Grundlagen und nach der Begründung der Grundlagen gehalten. Anders als bei den Juristen fühlen manche Pädagogen – besonders die, die sich weniger als Erziehungswissenschaftler fühlen – ein »ungelöstes Normproblem der Pädagogik« (Jörg Ruhloff).33

Kann sich auf Reflexion des ungelösten Normproblems der Pädagogik eine spezifisch pädagogische Theorie gründen? Oder konstituiert der »praktische Imperativ« bereits die gesamte Erziehungswissenschaft, verfällt die Pädagogik als Theorie durch diesen Imperativ? Hierauf komme ich zurück, nachdem ich eine ebenfalls »von außen« an die Pädagogik herangetragene Herausforderung dargestellt habe, die von dem Ökonomen Murray Rothbard formuliert wird. Seine Herausforderung aufzunehmen, scheint mir für die Bearbeitung der Konstitutionsfrage kritischer Pädagogik produktiv gewendet werden zu können.

Rothbards zwei Hauptvorwürfe an die Staatsschule lauten, dass sie die Wahlfreiheit negiere und durch eine ungerechte Wirtschaftsordnung finanziert werde. Die Vorwürfe treffen auch auf alle anderen staatlichen Institutionen zu, die Wohlfahrtseinrichtungen, die Straßen, die Gerichte, die Eingriffe in die Wirtschaft, die Zentralbank, die Strom- und Wasserversorgung, die Polizei und die Armee und noch vieles mehr. Die Schule hat für Rothbard keine besondere Bedeutung. Typisch ist etwa die folgende Passage:

»Man könnte die Schulpflicht nebenbei in einem Kapitel über Sklaverei abhandeln; denn welche Institution ist so offensichtlich ein gewaltiges System der Einkerkerung wie die Schulpflicht?« Bewusst bezieht Rothbard keine Stellung zum pädagogischen Problem der Schule. Vielmehr stellt er als »außenstehender« Beobachter befriedigt fest, dass ganz unterschiedliche pädagogische Überlegungen in die gleiche Schulkritik münden: »Bemerkenswert ist, dass die alte liberale Rechte und die Neue Linke von völlig verschiedenen Perspektiven aus […] zu einer sehr ähnlichen Einschätzung des despotischen Charakters der Massenverschulung gelangten. So hat Albert Jay Nock […] das Erziehungswesen angeklagt, ›unbildsame‹ Massen in die Schulen zu zwingen aufgrund des eitlen egalitären Glaubens an die Bildsamkeit von jedem Kind. […] Auf der Seite der Neuen Linken machen Kritiker wie John McDermott und Paul Goodman die Mittelschicht dafür verantwortlich, dass sie die Arbeiterkinder, die vielfach andere Werte und Eigenschaften als die Mittelschicht hätten, in ein öffentliches Schulsystem pressen würden, um diese Kinder an den Mittelschicht-Typus anzupassen.« Rothbard interpretiert diese Kongruenz nicht als zufallig oder nichtssagend, sondern kann von seiner Sicht aus die zugrundeliegende Gemeinsamkeit herausarbeiten: »Damit sollte klar geworden sein, dass die Substanz der Kritik gleich bleibt, ob man nun die eine oder andere Schicht, die eine oder andere Erziehungsmethode bevorzugt: nämlich dass alle Kinder in eine Institution gezwängt werden, die ihren Interessen und Fähigkeiten nicht entspricht.«34

Das Problem sieht Rothbard nicht in unterschiedlichen Auffassungen; die Lösung liegt in sozialer Organisation ihrer Koexistenz. Es wäre widersinnig, gegen den bestehenden Schulzwang nun einen Zwang zu setzen, keine Schule zu besuchen. Schließlich ist denkbar, dass ein Kind eine Schule gerne und freiwillig besucht. Die freiwillige Anerkennung von institutionellen Bedingungen auszuschließen, wäre unlogisch und ein Verstoß gegen das Prinzip der Freiwilligkeit. (Die »institutionellen Bedingungen« werden oft als »Zwänge« bezeichnet; welche Gründe diese Bezeichnung auch für sich haben mag, ist es doch sinnvoll, mit Rothbard zwischen den unter Umständen durchaus unbequemen oder kritikwürdigen »Zwängen« sozialer Organisationen und dem auf Androhung von Gewalt basierenden Zwang der staatlichen Herrschaft zu unterscheiden.) Oder mit anderen Worten: Ein soziales Problem entsteht erst, wenn es aufgrund der politischen Organisation möglich wird, dass eine Auffassung sich der anderen aufzwängen kann:

»Die Schulbürokratie muss viele wichtige und umstrittene Entscheidungen treffen […]: Soll der Unterricht ›traditionell‹ oder ›progressiv‹ abgehalten werden? Marktwirtschaftlich oder sozialistisch ausgerichtet sein? Individualistisch oder egalitär? Allgemeinbildend oder berufsbildend? Religiös oder säkular? Sexualaufklärung, ja oder nein? Oder verschiedene Mischformen zwischen diesen Polen. Der entscheidende Punkt ist, dass wie immer die Behörde entscheidet, selbst wenn sie entsprechend den Wünschen der Mehrheit entscheidet, es immer eine beträchtliche Zahl von Eltern und Kindern gibt, die der von ihnen gewünschten Form der Erziehung beraubt wird. […] Je ›öffentlicher‹ Erziehung wird, um so stärker werden in unnachgiebiger Konformität die Bedürfnisse und Wünsche von Individuen und Minoritäten missachtet. […] In der Erziehung ist es wie in allen anderen sozialen Aktivitäten, dass je mehr staatliche Entscheidungen private Entscheidungsfindungen ersetzen, um so heftiger wird ein erbitterter Kampf zwischen den verschiedenen Interessengruppen entbrennen im verzweifelten Versuch, in wichtigen Fragen die eigene Meinung obsiegen zu sehen« (ebd.).

Wenn ich Rothbard als interessanten Ausgangspunkt für die Konstitution libertärer Pädagogik ansehe, obwohl er jede pädagogisch-inhaltliche Stellungnahme vehement ablehnt, so zunächst darum: Seine beiden Vorwürfe gegen die Staatsschule, mögen sie nicht auf diese begrenzt und nicht an ihr ausführlich dargelegt sein, sollten von der Pädagogik gleichwohl ernst genommen und diskutiert werden. In welchem Verhältnis die Schule zur politischen Organisation der Gesellschaft stehe, ob auf sie die liberale Forderung nach Freiwilligkeit zutreffen könne, ob pädagogische Überlegungen der Freiwilligkeit widersprechen oder sie unterstützen, sollten ebenso zentrale erziehungswissenschaftliche Fragen sein wie diejenige, ob die öffentlich finanzierte Schule vielleicht entgegen der üblichen Annahme eine unsoziale Einrichtung...

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