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E-Book

Pater, ich vergebe Euch!

Missbraucht, aber nicht zerbrochen

AutorDaniel Pittet
VerlagVerlag Herder GmbH
Erscheinungsjahr2017
Seitenanzahl224 Seiten
ISBN9783451811982
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis16,99 EUR
Vier Jahre lang wurde Daniel Pittet vom Kapuziner-Priester Pater Joel misshandelt, zu pornografischen Fotos gezwungen und immer wieder vergewaltigt. In seinem Buch beschreibt Pittet sein Martyrium in allen Details. Ein Martyrium, das schockiert und das vor allem Fragen aufwirft. Warum hat niemand geholfen? Wie kann ein Mensch so etwas tun? Und noch mehr: Wie kann ein Mensch so etwas überleben? Pittets Geschichte ist nicht nur die Geschichte eines unmenschlichen Leidens, sondern auch die einer unglaublichen Starke: Er hat seinen Glauben nicht verloren und seinem Peiniger sogar vergeben. Pittets Buch deckt deshalb nicht nur auf, was Missbrauch wirklich bedeutet, sondern erzählt vor allem vom Überleben und Weiterleben. Sein Buch erschüttert, macht traurig und wütend. Zugleich aber zeigt es einen Mann, der den Weg zurück gefunden hat und der sagt: 'Ich habe ihm vergeben und habe mein Leben auf dieser Vergebung aufgebaut.'

Daniel Pittet, 1959 geboren in der französischen Schweiz, wurde als Kind jahrelang von einem Kapuzinerpater missbraucht. Erst nach Jahren wagte er den Schritt in die Öffentlichkeit und half entscheidend mit, das ganze Ausmaß der Verbrechen des Paters aufzudecken und ihm das Handwerk zu legen. Heute arbeitet Daniel Pittet in Fribourg als Bibliothekar und ist Familienvater von sechs Kindern. Er ist Herausgeber und Autor zahlreicher Veröffentlichungen und stark engagiert in Kirche und Gesellschaft. Sein Buch 'Lieben heißt alles geben' wurden in vielen Sprachen weltweit publiziert und erreichte eine Millionen-Auflage.

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Leseprobe

Das Chaos meiner Kindheit

Am 10. Juni 1959 versucht mein Vater, meine Mutter umzubringen. Er hält ein großes Messer in der Hand und verletzt sie damit am Hals. Voller Panik fleht sie ihn unter den angsterfüllten Blicken meiner älteren Schwester an, sie in Ruhe zu lassen. Vergebens. Mein Vater lässt das Messer fallen, nimmt eine Rasierklinge und ritzt ein Andreaskreuz in ihren Bauch. In den Bauch seiner Frau, in dem ich in diesem Augen­blick lebe, in dem ich mich bewege. Meine Mutter ist im achten Monat schwanger. Ihr Bauch, das bin ich.

Am 10. Juli 1959 erblicke ich das Licht der Welt. Es ist ein schlechter Start ins Leben. Durch den Angriff meines Vaters bin ich für immer gezeichnet. Schon jetzt bin ich ein Überlebender.

Meine Eltern sind ein ungleiches Paar. Mein Vater ist ein kräftiger Mann, er ist Maurer und ein Arbeitstier. Von seiner Familie weiß ich so gut wie nichts. Meine Mutter ist eher intellektuell veranlagt, feinfühlig und wohlerzogen. Ihre Mutter Alice ist französischer Abstammung, sie kommt aus einer Gutsbesitzerfamilie, die über eine gewisse Bildung verfügte. Durch den Krieg war die Familie verarmt, sie hatten Frankreich verlassen müssen. Sie hatten sich in Genf niedergelassen, wo mein Urgroßvater eine Anstellung als einfacher Landarbeiter fand. Meine Großmutter fühlte sich deswegen herabgesetzt in ihrem Stand.

Gleichwohl hatte die Familie die guten Manieren und das tadellose Benehmen ihrer Vorfahren übernommen. Meine Großmutter war stets gepflegt und hatte eine vornehme Ausstrahlung. Sie erzog uns streng, war auf Bildung bedacht. Das Essen wurde in ausgesuchtem Geschirr serviert, wir benutzten Silberbesteck, von dem wir uns immer fragten, wo es herstammte. Zu Tisch saßen wir aufrecht, die Hände korrekt platziert.

Nachdem meine Großmutter geheiratet hatte, verließ sie Genf. Das Paar ließ sich in Romont im Kanton Fribourg nieder. Mein Großvater Élie, Alices Ehemann, war ein Bauernsohn. Wie es damals gang und gebe war, kam auch er aus einer vielköpfigen Familie mit zehn Kindern. Als die Eltern starben, waren die Kinder noch minderjährig. Sobald mein Großvater das entsprechende Alter erreicht hatte, wurde er Fahrer in der Firma seines Onkels. Er kutschierte alle möglichen Leute umher und liebte es, die dabei aufgeschnappten Anekdoten zum Besten zu geben. Doch wie seine Eltern starb auch er jung und ließ meine Großmutter und die drei Kinder ohne jedes finanzielle Polster zurück. Doch in der Familie meiner Mutter waren alle immer sehr solidarisch untereinander. So sagte ihr ein Verwandter irgendwann: »Mach ein Geschäft auf, ich leih dir das nötige Geld!« ­Da­raufhin ließ sie sich beraten und eröffnete einen Schreibwarenhandel, der es ihr zumindest ermöglichte, sich und ihre Kinder durchzubringen.

Mein Großvater Élie hatte eine Schwester, die in den Orden der Paulus-Schwestern eingetreten ist, der gemeinhin Œeuvre de Saint-Paul genannt wird. Sie sollte eine entscheidende Rolle in meinem Leben spielen. Jene Ordensgemeinschaft versteht ihr Apostolat so, dass sie Verkündigung stark über die Medien betreibt, und arbeitet dabei eng mit Laien zusammen. Deshalb hat diese Gemeinschaft den Ruf, sehr weltoffen zu sein. Wie meine Tante, so wollte auch meine Mutter ihr Leben eigentlich der Religion weihen. Sie trat ins Kloster ein und verbrachte etwa ein Jahr bei den Paulusschwestern. Während dieser Zeit lernte sie meinen Vater kennen und verfiel seinem Charme. Sie erzählte ihrer Mutter davon, die sich beim Pfarrer der Gemeinde, aus der der junge Mann stammte, Rat holte. Es war durchaus üblich, sich beim Pfarrer zu informieren. Dieser hatte nichts zu beanstanden und erinnerte sich vielmehr daran, dass mein Vater ein guter Messdiener gewesen sei, was in den Augen meiner Großmutter eine sehr fromme Eigenschaft war. So erteilte sie meiner Mutter die Erlaubnis, das Kloster zu verlassen und zu heiraten. Meine Mutter überkamen jedoch Zweifel an ihrer Entscheidung, als sie sich ihrer Schwester anvertraute. Was zu dieser Zeit noch keiner ahnte: der junge Mann, der einmal mein Vater werden würde, war psychisch krank. So heiratete das Paar, meine Schwester und mein Bruder wurden geboren, und ein paar Jahre später zogen meine Eltern nach Genf.

Jahre später, am 10. Juni 1959. An dem Tag, an dem wie eingangs geschildert mein Vater über meine im achten Monat schwangere Mutter mit dem Messer herfällt. Irgendwann trifft der Rettungswagen ein, bringt meine Mutter in Sicherheit, während mein Vater für mehrere Monate in eine psychiatrische Klinik eingewiesen wird. Es heißt, er leide unter Paranoia. Schockiert und traumatisiert, beschließt meine Mutter, Genf zu verlassen und wieder bei meiner Großmutter in Romont zu leben. Als mein Vater aus der Klinik entlassen wird, kommt er nach – zur großen Verzweiflung meiner Großmutter. In einem Steinmetzbetrieb ganz in der Nähe findet er eine Anstellung. Meine Mutter bekommt noch zwei weitere Kinder von ihm. Kurze Zeit später findet er Arbeit in Lausanne.

Ich habe nur verschwommene Erinnerungen an diese Zeit, da ich noch sehr klein war. Ich erinnere mich, dass mein Vater ein Zimmer in der Nähe seiner Arbeitsstelle hatte und dass er am Sonntagnachmittag zu uns kam, am selben Abend jedoch wieder nach Lausanne zurückfuhr. Wir waren gern mit ihm zusammen. Zwar unternahmen wir nicht viel mit ihm, aber er ging mit uns oft nach Romont, wo wir ein Glas Saft zusammen tranken und dann nach Hause zurückkehrten. Ich mochte diese wenigen Augenblicke, die wir mit ihm verbrachten, weil ich meinen Vater lieb hatte.

Meine Großmutter hatte meinen Vater nicht liebt, im Gegenteil: Sie wollte am liebsten, dass er aus unserem Leben verschwand. Wenn wir von unserem Spaziergang zurück waren, verbrachten wir eine ganze Weile damit, all ihre Fragen zu beantworten. Sie wollte wissen, was wir gemacht hatten und was er gesagt hatte, und sie kommentierte und kritisierte unsere Antworten. Ich fand diese Gespräche sehr unangenehm, weil ich als Kind nicht begriff, dass mein Vater psychisch krank war. Ich hatte ihn einfach lieb, weil er mein Vater war. Noch heute erinnere ich mich daran, wie ich insgeheim immer an ihn dachte.

Im Jahr 1965, ich bin gerade fünfeinhalb, erkranke ich so schwer, dass meine Mutter jeden Tag nach der Arbeit mit mir zu Fuß ins Krankenhaus geht. Ich habe Urämie und muss regelmäßig zur Bluttransfusion. Ich bin ein schmächtiges, schwächliches Kind, und alle sagen, dass ich nicht weit kommen werde. Eines Tages höre ich zufällig eine Unterhaltung zwischen meiner Mutter und dem Arzt. Sie sprechen über mich und mir wird klar, dass ich sterben werde. Ich kann mich nicht erinnern, dass diese Neuigkeit ein Schock für mich gewesen sei. Vielmehr hilft sie mir, mich selbst vorzustellen, wie ich von Engeln umgeben im Paradies bin. Überhaupt bin ich gern im Krankenhaus, weil alle nett zu mir sind. Der Arzt hat mich gern und auch das Pflegepersonal kümmert sich sehr um mich. Fast sechs Monate lang liege ich auf Station. Eines Tages bin ich wieder gesund und kann nach Hause gehen. Mit Dr. Lang, der mich über die vielen Monate hinweg gepflegt hat, bleibe ich in Verbindung. Diese Zeit im Krankenhaus hat uns irgendwie zusammengeschweißt. Er hat mich ins Herz geschlossen und auch bei seiner Familie bin ich stets willkommen. Jeden Mittwoch darf ich zu ihm nach Hause kommen und eine Kindersendung im Fernsehen anschauen. Das sind fantastische Momente, denn meine Familie besitzt in dieser Zeit keinen eigenen Fernseher. Nur die wohlhabenden Familien können sich das leisten. Oft steckt mir mein Wohltäter einen Fünf-Francs-Schein zu. Dieser Mann hat mir viel bedeutet, ohne dass er es wusste, denn er hat mir gezeigt, wie viel ich ihm bedeutete. Als wir Romont unter dramatischen Umständen verlassen mussten, dachte ich, dass ich ihn niemals wiedersehen würde.

Bis zu einem Sonntag, dreißig Jahre später. Ich bin damals in der Messe in der Zisterzienserabtei La-Fille-Dieu in Romont und setze mich neben einen älteren Herrn. Beim Hinausgehen verabschiede ich mich und wünsche einen »schönen Sonntag«. Der ältere Herr lacht und antwortet: »Schönen Sonntag, heute ist mein Geburtstag!« Überrascht sehe ich ihn an: »Was für ein Zufall! Ich habe auch Geburtstag heute! Wie heißen Sie denn?« – »Ich bin Dr. Lang aus Romont.« – »Dr. Lang? Und ich bin Daniel Pittet!« Die Überraschung steht ihm ins Gesicht geschrieben. »Daniel Pittet? Der kleine Daniel?« Wir umarmen uns. Es ist genau der richtige Moment, sich bei ihm für all das zu bedanken, was er für mich getan hat. An diesem Tag kommt es mir so vor, als wäre er hundert Jahre alt. Dabei ist er erst fünfundsiebzig! Das Wiedersehen auf der Kirchenbank war wundervoll. Es war das letzte Mal, dass ich ihm begegnet bin. Zwei Jahre später erfahre ich von seinem Tod.

Zurück in meiner Kindheit, ich bin noch immer klein und schmächtig. Meine jüngste Schwester wird geboren und mein Vater verhält sich sehr merkwürdig. Er geht ins Bistro, trinkt ein paar Gläser zu viel und verbreitet ein ungeheuerliches Gerücht: Er verkündet, dass seine Kinder nicht von ihm seien. Jedes Kind stamme von einer angesehenen Persönlichkeit der Stadt. Meine älteste Schwester sei vom Pfarrer, mein Bruder vom Anwalt, ich selbst vom Doktor, mein kleiner Bruder stamme vom Sohn des Besitzers des Hauses, in dem meine Großmutter wohnt, und meine Schwester sei die Tochter des Oberamtmanns. Er bezeichnet diese Männer zugleich als die Geliebten meiner Mutter und die Väter seiner Kinder – mein Vater ist ein rebellischer Mann, ein kranker Rebell.

Diese aberwitzige Behauptung stürzt unsere Familie in die Katastrophe. Man fordert uns auf, Romont zu verlassen, da das Gerede eine zu große Belastung sei. »Sie können nichts dafür,...

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