Gegen die Thesen des EM hat sich ein erheblicher Kreis von Kritikern formiert. Die Kritik reicht von moderaten Einwänden bis hin zu massiven, schon polemisierenden Attacken. So bemerkt Hacker:
It says something about the nature of philosophy [...] at the end of the twentieth century that such views [EM, Anm. d. Verf.] are held by professional philosophers and are seriously debated [...]. In better times, such views would perhaps, and perhaps rightly, not be taken seriously.[28] (Hacker 2001: 63)
Da die Sichten aber diskutiert werden, sieht auch Hacker sich veranlasst, sich eingehender mit ihr zu beschäftigen. Seine und die ähnlich ausgerichteten Kritiken von Schroeder und Hanfling stehen im Vordergrund des folgenden Kapitels. Darüber hinaus werden die Dispute zwischen PMC und T. Nagel sowie F. Jackson bzgl. Qualia-basierter mentaler Zustände behandelt. Die erörterten Einwände beziehen sich auf die Defizite der AP (Kapitel 2.1), die reduktionistischen Ansätze (Kapitel 2.2) und den Inkohärenzvorwurf (Kapitel 2.3).
Die Einwände beziehen sich auf die von PMC oben angeführten drei Gründe, warum die AP wirklich falsch sein könnte.
a) Explanatorische Misserfolge
Der Vorwurf besagt, dass die AP bisher nicht in der Lage war, Phänomene wie Schlaf, Intelligenzunterschiede, Lernen, Geisteskrankheiten, etc. zu erklären. Dem ist kaum zu widersprechen, aber Erkenntnisse darüber erwartet man von den Wissenschaften und deshalb folgt nicht, dass die AP fehlgeleitet ist und ersetzt werden muss (vgl. Hanfling 2000: 248 u. Schröder 2004:119). Es ist einfach nicht ihre Aufgabe, weil das AP-Vokabular nichts mit einer Theorie zu tun hat und die damit formulierten Beobachtungen, Erklärungen und vor allem Verallgemeinerungen keine Gesetze sind (vgl. Hacker 2001: 76f.). Es ist nicht dem alltäglichen Begriffsrahmen anzulasten, dass er nicht in der Lage ist, zu den gewöhnlich verwendeten Begriffen wie 'Mücke', 'Tier', 'Huhn' und 'Elefant' zusammen mit alltäglichen Verallgemeinerungen eine Theorie der Evolutionsbiologie und entsprechender Gesetze aufzustellen.
Horgan und Woodward halten den Vorwurf sogar in zweifacher Weise für irreführend (Horgan, Woodward 1985 in: Christensen, Turner 1993 (ed.): 146f.). Erstens sagen sie ebenfalls, dass die AP keinen Beitrag zur Erklärung bestimmter Phänomene beitragen kann, dass das verwendete Vokabular aber eine stark begriffliche Übereinstimmung mit einer zwar noch nicht optimalen, aber durchaus erfolgreichen kognitiven Psychologie zeigt. In ihr erklären Theorien Lernen und Erinnerung annähernd mit den Begriffen, wie wir sie in der täglichen Praxis kennen. Zweitens stellen sie in Frage, ob überhaupt jede psychologische Theorie - und dann noch einheitlich - einen bestimmten Bereich erklären können muss. Es kann doch sein, dass dies für eine bestimmte Wissenschaft prinzipiell nicht möglich ist, weil die untersuchten Mechanismen so verschieden vom Betrachtungsgegenstand dieser Disziplin sind, dass sie nur von einem anderen Bereich erfolgreich behandelt werden können[29].
b) Die AP ist eine stagnierende Theorie, ohne Erkenntnisfortschritt seit 2500 Jahren
Der Vorwurf von PMC, dass in der AP seit den Griechen kaum mehr ein Fortschritt zu verzeichnen ist, trifft nicht zu, weil unklar bleibt, was mit Fortschritt in diesem Zusammenhang gemeint sein soll. Hackers Auffassung nach ist das alltäglich verwendete Vokabular inklusive des damit gebildeten Begriffsgefüges keine Theorie, von daher besteht kein Anlass, die AP in den 'Wettbewerb' mit den Wissenschaften zu stellen (Hacker 2001: 77). Mit der AP werden andere Ziele und Zwecke als theoriegeleitete verfolgt und das recht erfolgreich. Ob Theorie oder nicht, die Erklärung und Prognose des Verhaltens anderer Menschen lässt sich mit der AP nach wie vor meist adäquat beschreiben, von daher entbehrt sie der Erfordernis einer gravierenden Änderung. In Bezug auf Praktikabilität erfüllt sie durchaus in vollem Umfang ihre Aufgabe. Außerdem, so führen Horgan und Woodward an (Horgan, Woodward 1985, in: Christensen, Turner 1993: 147f.), sind in den angrenzenden Wissenschaften erhebliche Erfolge erzielt worden, die sich auch auf die AP ausgewirkt haben. So wissen wir heute - anders als noch im Mittelalter - dass Verhalten nicht nur von angeborenen Charaktereigenschaften, sondern auch erheblich von Umwelteinflüssen und vor allem Erziehung abhängt und dass das Unbewusste ebenfalls einen starken Einfluss hat.
Die AP wird - entgegen PMCs Behauptung - über viele Jahrhunderte hinweg entstanden sein und sich verändert haben, was auch sehr plausibel ist, da sie andernfalls z.B. bei den Griechen vor 2500 Jahren wie aus dem Nichts plötzlich aufgetaucht sein müsste. Sie hat sich schrittweise an die Erfordernisse menschlichen Zusammenlebens auch unter zeitversetzter späterer Einbeziehung wissenschaftlicher Erkenntnisse angepasst, ihr Begriffsumfang hat sich wesentlich erweitert und viele lang bestehende Begriffe haben eine Definiensänderung erfahren. So beschreibt der Begriff 'Erde' noch dasselbe Objekt, aber nicht mehr als Scheibe, sondern als Kugel. Und dass selbst die Kugel-Bezeichnung einem wissenschaftlichen Anspruch nicht mehr gerecht wird, ist für den täglichen Gebrauch zur Verständigung völlig irrelevant.
c) Inkohärenz der AP mit anderen Wissenschaften
Die Inkohärenz des Begriffsapparates der AP zu dem anderer Wissenschaften ist am ehesten nachvollziehbar, da PMC selbst konstatiert, dass die AP nicht wirklich im klassischen Sinne reduzierbar ist. Andere Philosophen, die den Theoriecharakter der AP ohnehin bestreiten, sehen nicht einmal Brückenprinzipien zu einer analog ähnlichen Theorie[30]. Von daher besteht kein Anlass, der AP hier ein Versagen anzulasten. Es liegt nicht an deren nichtreduzierbarem Vokabular, sondern an der falschen Annahme einer möglichen Reduktion selbst. Da die AP keine Theorie mit Gesetzen ist, taucht die Fragestellung einer Reduktion von vornherein nicht auf. Das Vokabular der Wirtschaftswissenschaften, Geschichte, Ethik und Ästhetik lässt sich genauso wenig auf das der Chemie, Biologie oder Physik zurückführen (Hacker 2001: 77).
Der Abschnitt behandelt antireduktionistische Betrachtungen unter den Aspekten, dass es keine Priorität zwischen Wissenschaften gibt (Kapitel 2.2.1), die AP überhaupt keine empirische Theorie ist (Kapitel 2.2.2) und mentale Zustände prinzipiell nicht auf physische Zustände zurückführbar sind (Kapitel 2.2.3).
Bevor auf die Probleme der AP als Theorie und ihren Reduktionsmöglichkeiten eingegangen wird, stellt sich die Frage, mit welcher Berechtigung vorrangig eine Überführung der AP oder Psychologie auf die Physik bzw. Neurophysiologie untersucht wird und nicht z.B. umgekehrt? Hier wird von vielen Autoren - und nicht nur Eliminativen Materialisten - automatisch ein Primat der Physik und ihr nahestehender Wissenschaften unterstellt. Dahinter steht die unbewiesene These, dass nur mittels der Naturwissenschaften - und schließlich letztlich mit der Physik - die 'wahren' Dinge und die wirkliche Welt erkennbar sind. Sie basiert auf der Annahme, dass es eine Einheitswissenschaft gibt und das wissenschaftliches Streben darauf hinausläuft, eine solche Einheit der Wissenschaften herbeizuführen. Dieser Gedanke geht auf die Logischen Empiristen und den Wiener Kreis zurück. Ihrer Vorstellung nach gibt es ein eindeutiges hierarchisches Klassifikationsschema, in das sich die ganze Welt einordnen lässt. Die Dinge der Welt auf einer bestimmten Ebene setzen sich immer aus den Elementen und Entitäten einer darunter liegenden Ebene zusammen. Auf der untersten Ebene dieser Hierarchie bildet die Grundlagenphysik mit Atomen und Molekülen sowie den physikalischen Naturgesetzen das Fundament des Ganzen (vgl. Oppenheim, Putnam 1958: 9f.). Letztlich soll die Physik diese Einheitswissenschaft sein, auf Basis derer sich die gesamte Welt erklären lässt.
Aber womit ist diese Sonderstellung begründet? Sind es die 82 verschieden aufgebauten stabilen Atome und eine Reihe von instabilen Elementen, die die gesamte Welt formen und durch die die metaphysische Annahme, dass alles Existierende materiell ist, vollständig erklärt wird? Diese Vereinfachung ist kein Kriterium für Wahrheit (Pauen 1996: 14f.). Problematisch erweist sich auch, wie die Nähe der einzelnen Wissenschaften zur 'wahren Natur' der Dinge zu ermitteln wäre. Jede Wissenschaft aus sich selbst heraus könnte das nicht, es wäre zirkulär und die andere Möglichkeit eines gewünschten unabhängigen Standpunktes wäre dogmatisch oder göttlich. Jede Wissenschaft - und damit auch die Physik - verfolgt ihre jeweilige Zweck- und Zielsetzung und es ist nicht erkennbar, warum einer einzelnen oder mehreren auserwählten der Status einer Metawissenschaft zukommen sollte.
Lässt man das Primat der Physik (oder Neurowissenschaft) fallen, entfällt auch PMCs zwangsweise Orientierung der AP an einer selbsterklärten Meta-Naturwissenschaft. Der Erfolg der AP könnte (und sollte ) dann an anderen - z.B. pragmatischen und normativen - Faktoren gemessen werden.
Es sei noch einmal vorangestellt, dass der Diskurs zwischen den Vertretern und den Kritikern des EM über die Frage, ob die AP eine Theorie ist oder nicht, insbesondere für die Befürworter in Bezug auf den Umgang mit der AP wichtig ist. Wenn die gewöhnlich verwendeten und verstandenen Begrifflichkeiten des Glaubens, Wünschens, Hoffens, usw. eine...