Sie sind hier
E-Book

Paul Churchlands 'Eliminativer Materialismus' und seine Kritiker

AutorBernd Schreiber
VerlagGRIN Verlag
Erscheinungsjahr2017
Seitenanzahl95 Seiten
ISBN9783668419896
FormatePUB/PDF
Kopierschutzkein Kopierschutz
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis34,99 EUR
Masterarbeit aus dem Jahr 2016 im Fachbereich Philosophie - Philosophie des 20. Jahrhunderts, Note: 1,3, FernUniversität Hagen (Philosophie), Sprache: Deutsch, Abstract: Paul Churchland ist einer der Hauptvertreter des 'Eliminativen Materialismus'. Im Rahmen der Masterarbeit wird seine Sichtweise diskutiert und der vielfältigen Kritik daran gegenübergestellt. Im Mittelpunkt der Untersuchung stehen die kontroversen Fragestellungen, ob es sich bei der Alltagspsychologie um eine Theorie handelt, für die eine Reduktion möglich oder eine Elimination nötig ist und ob die Neurowissenschaften einen konstruktiven Beitrag zur Lösung des Problems beitragen können. Die Auseinandersetzung mit den Thesen von Paul Churchland erfolgt insbesondere anhand der Argumentationen von Thomas Nagel und Frank Jackson sowie aus 'wittgensteinianischer' Richtung von Peter Hacker, Oswald Hanfling und Severin Schroeder. Geistige (mentale) Zustände wie Emotionen, Überzeugungen und Empfindungen gibt es genauso wenig wie es Hexen, Dämonen oder eine Zahnfee gibt. Diese kontraintuitive, radikale Sichtweise wird von einer Reihe von Philosophen unter dem Begriff 'Eliminativer Materialismus' vertreten. Der 'Eliminative Materialismus' ist damit eine Lösungsvariante des Körper-Geist-Problems (Leib-Seele-Problems), dem zentralen Thema der Philosophie des Geistes. Vereinfacht ausgedrückt wird beim Körper-Geist-Problem gefragt, wo Mentales stattfindet, was die 'wahre Natur' von geistigen Zuständen sowie Ereignissen ist und wie eine Verbindung mit der physischen Körperwelt gestaltet sein könnte? Wenn nun mentale Zustände überhaupt nicht existieren, sondern alles körperlich/materiell ist, wird die Fragestellung nach der Interaktion zwischen Körper und Geist obsolet und entpuppt sich als Scheinproblem.

Kaufen Sie hier:

Horizontale Tabs

Leseprobe

2. Argumente gegen den EM


Gegen die Thesen des EM hat sich ein erheblicher Kreis von Kritikern formiert. Die Kritik reicht von moderaten Einwänden bis hin zu massiven, schon polemisierenden Attacken. So bemerkt Hacker:

It says something about the nature of philosophy [...] at the end of the twentieth century that such views [EM, Anm. d. Verf.] are held by professional philosophers and are seriously debated [...]. In better times, such views would perhaps, and perhaps rightly, not be taken seriously.[28] (Hacker 2001: 63)

Da die Sichten aber diskutiert werden, sieht auch Hacker sich veranlasst, sich eingehender mit ihr zu beschäftigen. Seine und die ähnlich ausgerichteten Kritiken von Schroeder und Hanfling stehen im Vordergrund des folgenden Kapitels. Darüber hinaus werden die Dispute zwischen PMC und T. Nagel sowie F. Jackson bzgl. Qualia-basierter mentaler Zustände behandelt. Die erörterten Einwände beziehen sich auf die Defizite der AP (Kapitel 2.1), die reduktionistischen Ansätze (Kapitel 2.2) und den Inkohärenzvorwurf (Kapitel 2.3).

2.1 Einwände gegen die Defizite der AP


Die Einwände beziehen sich auf die von PMC oben angeführten drei Gründe, warum die AP wirklich falsch sein könnte.

a) Explanatorische Misserfolge

Der Vorwurf besagt, dass die AP bisher nicht in der Lage war, Phänomene wie Schlaf, Intelligenzunterschiede, Lernen, Geisteskrankheiten, etc. zu erklären. Dem ist kaum zu widersprechen, aber Erkenntnisse darüber erwartet man von den Wissenschaften und deshalb folgt nicht, dass die AP fehlgeleitet ist und ersetzt werden muss (vgl. Hanfling 2000: 248 u. Schröder 2004:119). Es ist einfach nicht ihre Aufgabe, weil das AP-Vokabular nichts mit einer Theorie zu tun hat und die damit formulierten Beobachtungen, Erklärungen und vor allem Verallgemeinerungen keine Gesetze sind (vgl. Hacker 2001: 76f.). Es ist nicht dem alltäglichen Begriffsrahmen anzulasten, dass er nicht in der Lage ist, zu den gewöhnlich verwendeten Begriffen wie 'Mücke', 'Tier', 'Huhn' und 'Elefant' zusammen mit alltäglichen Verallgemeinerungen eine Theorie der Evolutionsbiologie und entsprechender Gesetze aufzustellen.

Horgan und Woodward halten den Vorwurf sogar in zweifacher Weise für irreführend (Horgan, Woodward 1985 in: Christensen, Turner 1993 (ed.): 146f.). Erstens sagen sie ebenfalls, dass die AP keinen Beitrag zur Erklärung bestimmter Phänomene beitragen kann, dass das verwendete Vokabular aber eine stark begriffliche Übereinstimmung mit einer zwar noch nicht optimalen, aber durchaus erfolgreichen kognitiven Psychologie zeigt. In ihr erklären Theorien Lernen und Erinnerung annähernd mit den Begriffen, wie wir sie in der täglichen Praxis kennen. Zweitens stellen sie in Frage, ob überhaupt jede psychologische Theorie - und dann noch einheitlich - einen bestimmten Bereich erklären können muss. Es kann doch sein, dass dies für eine bestimmte Wissenschaft prinzipiell nicht möglich ist, weil die untersuchten Mechanismen so verschieden vom Betrachtungsgegenstand dieser Disziplin sind, dass sie nur von einem anderen Bereich erfolgreich behandelt werden können[29].

b) Die AP ist eine stagnierende Theorie, ohne Erkenntnisfortschritt seit 2500 Jahren

Der Vorwurf von PMC, dass in der AP seit den Griechen kaum mehr ein Fortschritt zu verzeichnen ist, trifft nicht zu, weil unklar bleibt, was mit Fortschritt in diesem Zusammenhang gemeint sein soll. Hackers Auffassung nach ist das alltäglich verwendete Vokabular inklusive des damit gebildeten Begriffsgefüges keine Theorie, von daher besteht kein Anlass, die AP in den 'Wettbewerb' mit den Wissenschaften zu stellen (Hacker 2001: 77). Mit der AP werden andere Ziele und Zwecke als theoriegeleitete verfolgt und das recht erfolgreich. Ob Theorie oder nicht, die Erklärung und Prognose des Verhaltens anderer Menschen lässt sich mit der AP nach wie vor meist adäquat beschreiben, von daher entbehrt sie der Erfordernis einer gravierenden Änderung. In Bezug auf Praktikabilität erfüllt sie durchaus in vollem Umfang ihre Aufgabe. Außerdem, so führen Horgan und Woodward an (Horgan, Woodward 1985, in: Christensen, Turner 1993: 147f.), sind in den angrenzenden Wissenschaften erhebliche Erfolge erzielt worden, die sich auch auf die AP ausgewirkt haben. So wissen wir heute - anders als noch im Mittelalter - dass Verhalten nicht nur von angeborenen Charaktereigenschaften, sondern auch erheblich von Umwelteinflüssen und vor allem Erziehung abhängt und dass das Unbewusste ebenfalls einen starken Einfluss hat.

Die AP wird - entgegen PMCs Behauptung - über viele Jahrhunderte hinweg entstanden sein und sich verändert haben, was auch sehr plausibel ist, da sie andernfalls z.B. bei den Griechen vor 2500 Jahren wie aus dem Nichts plötzlich aufgetaucht sein müsste. Sie hat sich schrittweise an die Erfordernisse menschlichen Zusammenlebens auch unter zeitversetzter späterer Einbeziehung wissenschaftlicher Erkenntnisse angepasst, ihr Begriffsumfang hat sich wesentlich erweitert und viele lang bestehende Begriffe haben eine Definiensänderung erfahren. So beschreibt der Begriff 'Erde' noch dasselbe Objekt, aber nicht mehr als Scheibe, sondern als Kugel. Und dass selbst die Kugel-Bezeichnung einem wissenschaftlichen Anspruch nicht mehr gerecht wird, ist für den täglichen Gebrauch zur Verständigung völlig irrelevant.

c) Inkohärenz der AP mit anderen Wissenschaften

Die Inkohärenz des Begriffsapparates der AP zu dem anderer Wissenschaften ist am ehesten nachvollziehbar, da PMC selbst konstatiert, dass die AP nicht wirklich im klassischen Sinne reduzierbar ist. Andere Philosophen, die den Theoriecharakter der AP ohnehin bestreiten, sehen nicht einmal Brückenprinzipien zu einer analog ähnlichen Theorie[30]. Von daher besteht kein Anlass, der AP hier ein Versagen anzulasten. Es liegt nicht an deren nichtreduzierbarem Vokabular, sondern an der falschen Annahme einer möglichen Reduktion selbst. Da die AP keine Theorie mit Gesetzen ist, taucht die Fragestellung einer Reduktion von vornherein nicht auf. Das Vokabular der Wirtschaftswissenschaften, Geschichte, Ethik und Ästhetik lässt sich genauso wenig auf das der Chemie, Biologie oder Physik zurückführen (Hacker 2001: 77).

2.2 Einwände gegen den Reduktionsansatz


Der Abschnitt behandelt antireduktionistische Betrachtungen unter den Aspekten, dass es keine Priorität zwischen Wissenschaften gibt (Kapitel 2.2.1), die AP überhaupt keine empirische Theorie ist (Kapitel 2.2.2) und mentale Zustände prinzipiell nicht auf physische Zustände zurückführbar sind (Kapitel 2.2.3).

2.2.1 Das Primat der Physik


Bevor auf die Probleme der AP als Theorie und ihren Reduktionsmöglichkeiten eingegangen wird, stellt sich die Frage, mit welcher Berechtigung vorrangig eine Überführung der AP oder Psychologie auf die Physik bzw. Neurophysiologie untersucht wird und nicht z.B. umgekehrt? Hier wird von vielen Autoren - und nicht nur Eliminativen Materialisten - automatisch ein Primat der Physik und ihr nahestehender Wissenschaften unterstellt. Dahinter steht die unbewiesene These, dass nur mittels der Naturwissenschaften - und schließlich letztlich mit der Physik - die 'wahren' Dinge und die wirkliche Welt erkennbar sind. Sie basiert auf der Annahme, dass es eine Einheitswissenschaft gibt und das wissenschaftliches Streben darauf hinausläuft, eine solche Einheit der Wissenschaften herbeizuführen. Dieser Gedanke geht auf die Logischen Empiristen und den Wiener Kreis zurück. Ihrer Vorstellung nach gibt es ein eindeutiges hierarchisches Klassifikationsschema, in das sich die ganze Welt einordnen lässt. Die Dinge der Welt auf einer bestimmten Ebene setzen sich immer aus den Elementen und Entitäten einer darunter liegenden Ebene zusammen. Auf der untersten Ebene dieser Hierarchie bildet die Grundlagenphysik mit Atomen und Molekülen sowie den physikalischen Naturgesetzen das Fundament des Ganzen (vgl. Oppenheim, Putnam 1958: 9f.). Letztlich soll die Physik diese Einheitswissenschaft sein, auf Basis derer sich die gesamte Welt erklären lässt.

Aber womit ist diese Sonderstellung begründet? Sind es die 82 verschieden aufgebauten stabilen Atome und eine Reihe von instabilen Elementen, die die gesamte Welt formen und durch die die metaphysische Annahme, dass alles Existierende materiell ist, vollständig erklärt wird? Diese Vereinfachung ist kein Kriterium für Wahrheit (Pauen 1996: 14f.). Problematisch erweist sich auch, wie die Nähe der einzelnen Wissenschaften zur 'wahren Natur' der Dinge zu ermitteln wäre. Jede Wissenschaft aus sich selbst heraus könnte das nicht, es wäre zirkulär und die andere Möglichkeit eines gewünschten unabhängigen Standpunktes wäre dogmatisch oder göttlich. Jede Wissenschaft - und damit auch die Physik - verfolgt ihre jeweilige Zweck- und Zielsetzung und es ist nicht erkennbar, warum einer einzelnen oder mehreren auserwählten der Status einer Metawissenschaft zukommen sollte.

Lässt man das Primat der Physik (oder Neurowissenschaft) fallen, entfällt auch PMCs zwangsweise Orientierung der AP an einer selbsterklärten Meta-Naturwissenschaft. Der Erfolg der AP könnte (und sollte ) dann an anderen - z.B. pragmatischen und normativen - Faktoren gemessen werden.

2.2.2 Die AP ist keine empirische Theorie


Es sei noch einmal vorangestellt, dass der Diskurs zwischen den Vertretern und den Kritikern des EM über die Frage, ob die AP eine Theorie ist oder nicht, insbesondere für die Befürworter in Bezug auf den Umgang mit der AP wichtig ist. Wenn die gewöhnlich verwendeten und verstandenen Begrifflichkeiten des Glaubens, Wünschens, Hoffens, usw. eine...

Blick ins Buch

Weitere E-Books zum Thema: Philosophiegeschichte - Ethik

Konflikt

E-Book Konflikt
Format: PDF

Ziel des vorliegenden Bandes ist es, das Thema Konflikt umfassend und in seiner ganzen Breite aus der Perspektive unterschiedlicher Disziplinen zu behandeln. Wie gehen Primaten, Menschen wie Tiere,…

Konflikt

E-Book Konflikt
Format: PDF

Ziel des vorliegenden Bandes ist es, das Thema Konflikt umfassend und in seiner ganzen Breite aus der Perspektive unterschiedlicher Disziplinen zu behandeln. Wie gehen Primaten, Menschen wie Tiere,…

Konflikt

E-Book Konflikt
Format: PDF

Ziel des vorliegenden Bandes ist es, das Thema Konflikt umfassend und in seiner ganzen Breite aus der Perspektive unterschiedlicher Disziplinen zu behandeln. Wie gehen Primaten, Menschen wie Tiere,…

Konflikt

E-Book Konflikt
Format: PDF

Ziel des vorliegenden Bandes ist es, das Thema Konflikt umfassend und in seiner ganzen Breite aus der Perspektive unterschiedlicher Disziplinen zu behandeln. Wie gehen Primaten, Menschen wie Tiere,…

Katharsiskonzeptionen vor Aristoteles

E-Book Katharsiskonzeptionen vor Aristoteles
Zum kulturellen Hintergrund des Tragödiensatzes Format: PDF

Aristotle uses the concept of catharsis at various points in his writings – in his works on reproduction, on zoology, on physics, and on politics. In his Poetics, the concept is…

Katharsiskonzeptionen vor Aristoteles

E-Book Katharsiskonzeptionen vor Aristoteles
Zum kulturellen Hintergrund des Tragödiensatzes Format: PDF

Aristotle uses the concept of catharsis at various points in his writings – in his works on reproduction, on zoology, on physics, and on politics. In his Poetics, the concept is…

Der Begriff des Skeptizismus

E-Book Der Begriff des Skeptizismus
Seine systematischen Formen, die pyrrhonische Skepsis und Hegels Herausforderung - Quellen und Studien zur PhilosophieISSN 78 Format: PDF

Must we acknowledge scepticism as an uncontrollable threat to our claims to knowledge?  Using the differences of its systematic forms in theoretical and practical philosophy, the author makes…

Weitere Zeitschriften

ARCH+.

ARCH+.

ARCH+ ist eine unabhängige, konzeptuelle Zeitschrift für Architektur und Urbanismus. Der Name ist zugleich Programm: mehr als Architektur. Jedes vierteljährlich erscheinende Heft beleuchtet ...

Berufsstart Gehalt

Berufsstart Gehalt

»Berufsstart Gehalt« erscheint jährlich zum Sommersemester im Mai mit einer Auflage von 50.000 Exemplaren und ermöglicht Unternehmen sich bei Studenten und Absolventen mit einer ...

Deutsche Tennis Zeitung

Deutsche Tennis Zeitung

Die DTZ – Deutsche Tennis Zeitung bietet Informationen aus allen Bereichen der deutschen Tennisszene –sie präsentiert sportliche Highlights, analysiert Entwicklungen und erläutert ...

DGIP-intern

DGIP-intern

Mitteilungen der Deutschen Gesellschaft für Individualpsychologie e.V. (DGIP) für ihre Mitglieder Die Mitglieder der DGIP erhalten viermal jährlich das Mitteilungsblatt „DGIP-intern“ ...

DSD Der Sicherheitsdienst

DSD Der Sicherheitsdienst

Der "DSD – Der Sicherheitsdienst" ist das Magazin der Sicherheitswirtschaft. Es erscheint viermal jährlich und mit einer Auflage von 11.000 Exemplaren. Der DSD informiert über aktuelle Themen ...

building & automation

building & automation

Das Fachmagazin building & automation bietet dem Elektrohandwerker und Elektroplaner eine umfassende Übersicht über alle Produktneuheiten aus der Gebäudeautomation, der Installationstechnik, dem ...

elektrobörse handel

elektrobörse handel

elektrobörse handel gibt einen facettenreichen Überblick über den Elektrogerätemarkt: Produktneuheiten und -trends, Branchennachrichten, Interviews, Messeberichte uvm.. In den monatlichen ...

Euphorion

Euphorion

EUPHORION wurde 1894 gegründet und widmet sich als „Zeitschrift für Literaturgeschichte“ dem gesamten Fachgebiet der deutschen Philologie. Mindestens ein Heft pro Jahrgang ist für die ...