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E-Book

Pflegeheime am Pranger

Wie schaffen wir eine bessere Altenhilfe

AutorMichael Graber-Dünow
VerlagMabuse-Verlag
Erscheinungsjahr2016
Seitenanzahl177 Seiten
ISBN9783863212735
FormatPDF/ePUB
KopierschutzWasserzeichen/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis12,99 EUR
Dieses Buch analysiert die organisatorische Struktur der Alten- und Pflegeheime, ihre Schwierigkeiten bei der Personalbemessung, die Bürokratisierung in der Pflege und einen allgemeinen Trend zur Überregulierung. Ein Muss für alle, welche die sozialpolitische Dimension der Heime verstehen wollen. Zugleich ein leidenschaftliches Plädoyer für eine bessere Altenhilfe.

Michael Graber-Dünow, geb. 1957, ist Dipl.-Sozialarbeiter, staatlich anerkannter Altenpfleger und seit 25 Jahren als Heimleiter in Frankfurt/Main tätig. Zahlreiche Buch- und Zeitschriftenveröffentlichungen zur sozialpolitischen Problematik der Altenhilfe sowie zu Milieutherapie und Kulturarbeit.

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Leseprobe

2PROBLEMBEREICHE DES HEIMLEBENS


2.1 Privatsphäre im Heim: „Wohnst Du noch oder lebst Du schon?“


Mit dem Umzug in ein Pflegeheim wird für den alten Menschen sein dortiges Zimmer zu seinem primären Wohnbereich und damit quasi zu seiner neuen Wohnung: Die Wohnung ist für jeden Menschen Rückzugsraum und Privatbereich; sie ist sein „Zuhause“, das jeder nicht nur nach seinen eigenen Wünschen und Vorstellungen gestalten kann, sondern in dem er, unter Beachtung der gesellschaftlichen Regeln, wie beispielsweise der Einhaltung der Nachtruhe, über beinahe uneingeschränkte Entscheidungsfreiheit verfügt. Dort kann der Mensch „er selbst“ sein und muss keinen Verhaltenserwartungen oder Rollenklischees entsprechen. In dem alten englischen Sprichwort „My home is my castle“ ist diese Bedeutung der eigenen Häuslichkeit treffend ausgedrückt. Aber gilt dies auch für Heimbewohner?

Die Werbefachleute eines Möbelgiganten haben sich den Slogan „Wohnst du noch oder lebst du schon?“ einfallen lassen. Auch wenn der Spruch auf den ersten Blick absurd erscheinen mag, beinhaltet er die Wahrheit, dass das Zuhause sehr viel mehr sein kann, als nur ein Wohnraum. Dies gilt vor allem für Menschen, deren Lebensvollzüge sich stark auf die eigene Wohnung konzentrieren. In der oben genannten Werbung mag dabei auf den amerikanischen Trend des „Cocooning“ angespielt werden1, doch für Menschen, die in ihrer Mobilität stark eingeschränkt sind, gilt dies in gleichem Maße, auch wenn ihr Rückzug in der Regel nicht freiwillig gewählt wurde, sondern aus den jeweiligen gesundheitlichen Einschränkungen resultiert.

Normalerweise spielt sich unser Leben an einer Vielzahl von Orten ab: am Arbeitsplatz, im Supermarkt, beim Sport, im Kino und Theater, in der Kneipe, bei Freunden … Für einen Heimbewohner konzentriert sich das Leben hingegen weitgehend auf das Heim und dort wiederum häufig auf sein Zimmer.

2.1.1 Die Bedeutung von Privatheit für die Bewohner

Dem eigenen Zimmer kommt somit große Bedeutung zu. Dies schlägt sich auch in den Ergebnissen der gerontologischen Forschung nieder: So zeigte beispielsweise bereits im Jahre 1968 eine Untersuchung, dass der überwiegende Teil der in Privatwohnungen lebenden alten Menschen mit einem „idealen Heim“ ein Einzelzimmer, das mit eigenen Möbeln eingerichtet werden kann, assoziierte.2 40 Jahre später, im Jahre 2008, bestätigte eine Studie des Instituts für Psychogerontologie der Universität Erlangen die Ergebnisse dieser und weiterer früherer Untersuchungen, wonach „bei kostenneutraler und vollkommener Wahlfreiheit zwischen Einzel- und Doppelzimmern, nur etwa 10-15 % der Heimbewohner und -bewohnerinnen sich für eine Pflege im Doppelzimmer entscheiden … werden.“3 Im Umkehrschluss heißt dies, dass sich 85 bis 90 Prozent der Betroffenen ein Einzelzimmer wünschen.

Nach der Pflegestatistik 2011 sind in Deutschland jedoch nur knapp 59,9 Prozent der Dauerpflegeplätze in Einzelzimmern4, während der Anteil von Doppelzimmern 39,2 Prozent beträgt. Die verbleibenden 0,9 Prozent der Plätze sind sogar noch immer in Drei- und Mehrbettzimmern.

Positiv ist in diesem Zusammenhang zu konstatieren, dass der Anteil von Einzelzimmern in den vergangenen Jahren kontinuierlich angestiegen ist. Dies ist auch den Bundesländern zu verdanken, die den Neu- bzw. Umbau von Heimen nur noch dann finanziell fördern, wenn dort ausschließlich Einzelzimmer entstehen. Trotz dieser positiven Entwicklung ist aber zugleich festzuhalten, dass nach wie vor ein großer Teil der Heimbewohner mit einem in der Regel völlig fremden Menschen in einem Doppelzimmer leben muss, obgleich dies nicht ihren eigenen Wohnpräferenzen entspricht.

Jeder der, beispielsweise einmal bei einer Tagung, das Zimmer mit einem fremden Menschen teilen musste, weiß aus eigener Erfahrung, dass das Zusammenleben auf engem Raum nur dann funktionieren kann, wenn man seine persönlichen Bedürfnisse einschränkt und in vielen Situationen Kompromisse findet. Während bei einer Tagung das Zimmer allerdings meist nur als Schlafraum dient, dessen Nutzung außerdem nur einen kurzen Zeitraum umfasst, konzentriert sich in einem Heim dort dauerhaft, in der Regel für den Rest des Lebens, ein großer Teil der Lebensvollzüge.

Bereits so alltägliche Entscheidungen, wie zum Beispiel ob das Fenster geöffnet oder geschlossen wird, welches Fernsehprogramm eingeschaltet wird oder wann abends das Licht gelöscht wird, sind nur noch im Einvernehmen mit dem Mitbewohner zu treffen. Gerade weil solche Fragen auf den ersten Blick banal erscheinen mögen, zeigen sie, wie rigide das Leben in einem Doppelzimmer in die Lebensgestaltung der Bewohner eingreift.5 Hinzu kommt unter Umständen die ständige Konfrontation mit Verhaltensweisen des Mitbewohners, die als unangenehm empfunden werden. Dazu können Störungen durch Stöhnen oder nächtliches Schnarchen sowie Geruchsbelästigungen aufgrund von Inkontinenz gehören. Es liegt auf der Hand, dass aus dieser Wohnsituation häufiger Konflikte mit dem Mitbewohner resultieren.

Auch die Möglichkeit, ungestört Besuch empfangen zu können und mit diesem private Themen zu besprechen, ist in einem Doppelzimmer stark eingeschränkt. Gleiches gilt für die Gestaltung des Raumes mit persönlichen Möbeln und Erinnerungsstücken, die allein schon aufgrund der begrenzten Fläche nur bedingt möglich ist.

Eine sehr große Belastung stellt außerdem die Konfrontation mit dem Sterben des Mitbewohners dar. Die Heimmindestbauverordnung fordert daher von allen Einrichtungen, die über Mehrbettzimmer verfügen, ein „Einzelzimmer zur vorrübergehenden Nutzung“6 zur Verfügung zu halten. Dieses soll als Ausweichmöglichkeit für Bewohner dienen, die entweder unter Konflikten mit Zimmernachbarn leiden oder aber deren Sterben nicht miterleben möchten. Leider wird dies von manchen Heimen missverstanden und der Sterbende wird in den Raum, der damit zum „Sterbezimmer“ wird, abgeschoben. Doch auch bei einer „ordnungsgemäßen Belegung“ dieses Zimmers ist es eine geradezu zynische Vorstellung, dass ein Bewohner abwarten muss, bis sein Mitbewohner verstorben ist, bevor er seinen eigenen Wohnraum endlich wieder wie gewohnt nutzen kann.

Der alte Mensch weiß außerdem, dass danach ein neuer Bewohner einziehen wird, den er mit seinen ganzen Besonderheiten in der Lebensgestaltung, seinen Gewohnheiten und „Macken“ nicht kennt und mit dem er erneut Alltagsarrangements aushandeln und finden muss. Dies führt häufig zu Verunsicherungen und Ängsten.

Einzelzimmer entsprechen aber nicht nur dem Wunsch des überwiegenden Teils der Betroffenen, sondern die gerontologische Forschung zeigt ebenso ihre positiven Auswirkungen auf die Lebenssituation der Bewohner.7 Zahlreiche Untersuchungen belegen, dass Bewohner von Einzelzimmern im Vergleich zu Menschen, die in einem Doppelzimmer leben müssen einen größeren Entscheidungs- und Kontrollspielraum haben, der für die Lebenszufriedenheit von Menschen unverzichtbar ist. (Es sei an dieser Stelle nur auf die „Theorie der erlernten Hilflosigkeit“ von Martin Seligman verwiesen.8) Einzelzimmerbewohner sind daher auch eher der Überzeugung, im Heim den Lebensalltag selbstverantwortlich gestalten sowie eigene Bedürfnisse und Wünsche verwirklichen zu können.

Die Annahme, dass Mehrbettzimmer die Kommunikation und die Kontakte der Bewohner untereinander fördern würden, hält sich zwar leider noch immer hartnäckig, ist aber – wie wir aus zahlreichen Untersuchungen wissen – einer der großen Irrtümer der Altenpflege. Gerade das Gegenteil ist der Fall: Bewohner von Einzelzimmern verfügen über mehr Sozialkontakte. Dies ist damit zu erklären, dass die Möglichkeit eines vorübergehenden Rückzugs auch die Phasen einer stärkeren Öffnung nach außen fördert. Das zwangsweise Zusammenleben auf engem Raum begünstigt hingegen nicht automatisch die Kommunikation.9

Es ist aus den genannten Gründen nicht verwunderlich, dass Bewohner von Einzelzimmern die Heimsituation insgesamt positiver bewerten.

Als weitere positive Auswirkungen von Einzelzimmern werden in der aktuellen Forschung genannt:10

•geringere Infektionsraten,

•mehr Kontrolle über das persönliche Territorium,

•besserer Schlaf,

•bessere Kontinenz.

•weniger Aufwand für Personal, Konflikte zu lösen,

•verbesserte Möglichkeiten einer Sterbebegleitung.

Zudem treten in Einrichtungen für Demenzkranke, die ihren Bewohnern mehr Privatheit und Möglichkeiten der Personalisierung der Räumlichkeiten...

Blick ins Buch
Inhaltsverzeichnis
Cover1
Inhalt6
Einführung10
1 Altenpflegeheime in Deutschland14
1.1 Trägerkonstellationen16
1.1.1 Das Pflegeheim als Renditeobjekt17
1.1.2 Bürokratische Wasserköpfe21
1.2 Die öffentliche Wahrnehmung21
1.3 Gründe für den Heimeinzug31
1.4 Wer lebt im Heim?33
1.5 Annäherung an das Heimleben37
2 Problembereiche des Heimlebens37
2.1 Privatsphäre im Heim:„Wohnst Du noch oder lebst Du schon?“37
2.1.1 Die Bedeutung von Privatheit für die Bewohner41
2.1.2 Personalisierung und Respektierungdes Wohnraums45
2.2 Tagesablaufgestaltung: „Der Bewohnersteht im Mittelpunkt und damit jedem im Weg.“49
2.3 Aktivitäten: „Diese Langeweile bringt michnoch um!“59
2.4 Zur Personalsituation: „Ich habe geradekeine Zeit!“63
3 Ursachen und Auswirkungen des Pflegenotstands63
3.1 Das Problem der Personalbemessung63
3.2 Belastungen der Pflegenden73
3.2.1 Die zweite Dimension des Pflegenotstandes77
3.2.2 Kostensenkung zu Lasten der Beschäftigten79
Exkurs: Outsourcen von Dienstleistungen79
3.2.3 Wege aus der Misere?83
3.2.4 Ein Beruf mit schlechtem Image85
3.2.5 Nachwuchssorgen87
4 Die Pflegeversicherung:Von der Lösung zum Problem89
4.1 Reformbemühungen97
4.2 Pflegebedürftigkeit –ein Begriff, der es in sich hat97
4.3 Rechtliche Neuerungen103
4.4 Pflegeversicherung abschaffen!105
Zwischenruf – Claus Fussek109
5 Was ist Qualität?119
5.1 Der Kunde ist König?119
5.2 Bürokratische Instrumente123
5.3 Positive Auswirkungen der Qualitätsdiskussion125
5.4 Im Dokumentationswahn129
6 Überregulierung der Heime131
Realsatire:Bettenbürokratie135
7 Mogelpackung Pflegenoten141
7.1 Qualitätsprüfungen verschlechternPflegequalität143
7.2 Weitere Kritikpunkte145
7.3 Kosmetische Korrekturennbenannt145
7.4 Unverantwortlich hohe Kosten145
7.5 Vermeintliche Kehrtwende153
8 Resümee155
Literaturverzeichnis167

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