Einleitung
Dasein, Entwicklung und Wesen des Films
Was ein Film ist? Das braucht heute, im Zeitalter der Technik, in einer Zeit der angespanntesten Bewegung, deren allgemein sichtbaren Niederschlag er bildet, kaum noch gesagt zu werden. Sein Name stammt aus dem Englischen und bedeutet einfach »Häutchen«. Es ist merkwürdig, welchen Zauber dieser unkomplizierte Name auf den naiven Menschen ausgeübt hat und noch dauernd ausübt, wieviel Sehnsucht, wieviel Träume und geheime Wünsche er weckt und in welchem Ausmaß er in dem schillernden fremden Sprachgewand »Film« Tausende von Menschen fasziniert hat, vom kleinsten Chorgirl über kluge Journalisten bis zu den Spitzen der Gesellschaft. Der Film ist in diesen dreißig Jahren zur einfachen Gegebenheit einer Alltäglichkeit geworden, über die gerade sein Spiel hinweghelfen und hinwegtäuschen will. Emilie Altenloh, die ein kluges Buch »Zur Soziologie des Kino« verfaßt hat, schreibt: »Jedenfalls vereinigt der Kino« (heute sagt man allgemein das Kino) »genug in sich, um das Leben zu ersetzen. Und damit gewinnt er eine mächtige Wirklichkeit, vor der alle Fragen, ob sein Dasein gut oder schlecht oder überhaupt berechtigt sei, nutzlos sind.«1
Wir wollen zunächst dem Gegenstand unserer Arbeit durch Analysierung in seine verschiedenen Teilgebiete näherzukommen suchen.
Es gibt mehrere Arten des Films. Je nach Inhalt, Bedeutung und Zielrichtung pflegt man einzuteilen in Spielfilm, Kultur- und Lehrfilm, Reklame- oder Propagandafilm. Als solcher ist er imstande, das Leben des Einzelnen in verschiedener Weise zu beeinflussen.
Es wird nicht uninteressant sein, hier einige Daten anzuführen. Die Filmweltproduktion belief sich schon 1913 auf täglich 600.000 Meter Film. Ein einziger Film wurde nach Kürschners geographisch-statistischem Jahrbuch 1914 von durchschnittlich 12.285.000 Menschen betrachtet. 1920 belief sich die tägliche Besucherzahl der deutschen Kinos auf 3,5 Millionen Menschen. Im gleichen Jahr betrug die Zahl der Lichtspielhäuser in Berlin 400, in Deutschland 4000, auf der ganzen Welt 50.000. Da seitdem viele kleine Theater zugunsten großer Konzerngründungen verschwunden sind, hat diese Zahl quantitativ eher etwas abgenommen. 1923 gab Amerika mindestens 400 Millionen Dollar für den Kinobesuch aus; die für Herstellung neuer Films in den Vereinigten Staaten aufgewandte Summe belief sich vom Juni 1923 bis Juni 1924 auf 200 Millionen Dollar. Das gesamte Kapital der in der amerikanischen Filmindustrie investierten Gelder schätzt man auf 1,25 Milliarden Dollar. Die Zahl seiner Kinos betrug 1925 etwa 18.000, ihre Einnahmen 550 Millionen Dollar am Tag. Es handelt sich bei diesen Zahlen in der Hauptsache um den Spielfilm, der die Kinoprogramms in erster Linie bestreitet.
Der Kultur- und Lehrfilm befaßt sich mit der Vermittlung von Werten der Wissenschaft und der Lösung von Fragen des öffentlichen Lebens. Hierher gehören auch die Industriefilme und die Berichterstatterfilme, ebenso Filme über Berufsberatungsfragen, Filme über Verkehrsordnung, über die Entwicklung bestimmter kaufmännischer Zweige. Diese Arbeit wird sich vorwiegend mit dem Spielfilm beschäftigen.
Noch ein anderes geht aus den obigen Zahlen hervor: Der Film bildet in wirtschaftlicher Beziehung ein starkes nationales Machtmittel. Er stellt Amerikas viertgrößte, Deutschlands drittgrößte Industrie dar. »Das ist in ökonomischer Hinsicht und in jeder anderen Beziehung erschütternd. Der dritte Teil der Lebenskraft wird darauf verwendet, durch die Verwandlung des Lebens in Spiel über das Leben hinwegzuhelfen.«2 In diesem Zusammenhang sei erwähnt, was Otto Foulon gelegentlich über den Film schreibt:
Wunder vernahm ich vom Riesenwurm
Von der Schlange, die ganze Welten verschlang.
Zum Reifen geringelt in hundert Windungen,
Wand sie sich satt zum trägen Schlaf.
Des glatten Leibes schlüpfrichter Gallert
Formt sich als Folge von tausend Gliedern,
Durchscheinend entschimmert dem blassen Gekröse
Zerkauter Welten verkleinerter Fraß.
Straßen und Städte, Türme und Tore,
Leben und Treiben mit Kind und Kegel,
Was weinte und lachte, was lebend war,
Das drängt sich in endloser Reihe im Darm.
Des fließenden Werdens flüchtiges Wesen
Im Raum ist durch Zauber entrückt der Zeit.
Des lebendigen Stromes erstarrte Tropfen
Behütet der Wurm bis zum hellenden Strahl.
Dann bäumt er sich auf und windet sich los.
Er würgt das Gewölle, ausbricht er die Brocken.
Im sehrenden Schein erstehen die Trümmer:
Sie leben – sie schweben – durch Raum und Zeit.3
Der Film bedeutet für viele einen Lebensberuf: Direkt, soweit er seine vielen technischen, künstlerischen und kaufmännischen Mitarbeiter umfaßt, indirekt durch Hineinbeziehen von Kunsthandwerk, Modekunst, Architektur, Malerei, Beleuchtungs-, Glas-, Eisen- und Postkartenindustrie, Optik, Feinmechanik, Chemie und anderes. Die Behauptung sagt nicht zu viel: Der Film beeinflußt auch äußerlich das Gesamtbild des öffentlichen Lebens.
Er hat einen neuen Typus der Gesellschaft geschaffen; durch seine großen Honorare eine Schicht emporgekommener Neureicher, durch seine Bilder zweifelhaftes Vorbild einer Talmi-Eleganz.
Zusammenfassend läßt sich sagen: Der Einfluß des Films ist ein bedeutender sowohl für die Gesamtheit, die Kultur und den ökonomischen Reichtum eines Landes, wie schließlich für das Leben eines jeden Einzelnen, sei es, daß dieser selbsttätig produktiv im Rahmen des Films tätig ist, sei es, daß diese Einwirkung als Aufnahme des fertigen Produktes im Kino von passivem Charakter ist. In letzterem Falle ist die Stärke seines Einflusses nicht nur abhängig von dem Film an sich, sondern auch von der entsprechenden, vielfach durch das Alter und durch sonstige innere und äußere Umstände bedingten Gefühlsdisposition des empfangenden Individuums.
Damit hoffe ich rein äußerlich die Berechtigung dargetan zu haben, daß dieser Gegenstand es verdient, einmal gründlich von allen Seiten einer kritischen Würdigung unterzogen zu werden. Ehe wir uns jedoch dem Hauptthema zuwenden, folgt ein kurzer entwicklungsgeschichtlicher Überblick von den theoretischen und praktischen Anfängen des Films bis zur Gegenwart, über sein Wesen und die allgemeine wie besondere kritische Stellungnahme zu ihm.
Vor etwa 30 Jahren ahnte wohl niemand, daß der Film einmal eine Rolle im öffentlichen Leben spielen würde. Dabei hatte bereits vor 2000 Jahren der römische Dichter Lukrez in »De natura rerum« eine Theorie des kinematographischen Vorgangs aufgestellt: »Eines der Bilder verschwindet, ein anderes in anderer Stellung tritt an seinen Platz und scheint sich auch zu bewegen.«4 Der Vorgang der Bewegungstäuschung ist nach Linke, Marbe und Lehmann ein psychologischer, der bei Lukrez allein erwähnte physiologische Effekt der sogenannten »Nachbildwirkung« hat nur unterstützende Bedeutung zur Behebung des Flimmerns der Kinobilder. Lehmann bezeichnet den psychologischen Vorgang bei der Aufnahme des Films durch den Beschauer als die »stroboskopische Täuschung«.5
Man vergaß den Ausspruch von Lukrez wieder, und als 1602 Athanasius Kircher aus Fulda die Zauberlaterne erfand, mit der er durchsichtige Bilder in vergrößertem Ausmaß auf eine verdunkelte weiße Wand werfen konnte, wird er sich kaum bewußt geworden sein, welch wichtigen Schritt zur Erfindung des Kinematographen, des Organismus der Bildbewegung, er hiermit vorwärtsgetan hatte. Erst 200 Jahre später, 1832, griffen Stampfer in Wien und Plateau in Brüssel die Gedanken des Lukrez wieder auf und schufen mit dem Stroboskop oder Lebensrad den ersten Apparat, der ein Bewegungsbild erzeugte, das undurchsichtig und daher zur Zeit immer nur einem oder einer sehr kleinen Schar von Beschauern zugänglich war. Dieses Lebensrad besteht aus einer kreisrunden Scheibe, in die eine Anzahl Spalte in radialer Richtung eingeschnitten sind und die um ihre Achse in rasche Drehung versetzt werden kann. Wenn man nun unter die einzelnen Schlitze je einen Bewegungsabschnitt ein und desselben Gegenstandes in zeitlicher und räumlicher Folge zeichnet und durch eine der Spalten in einen Spiegel blickt, so erscheint bei Drehung der Scheibe der dargestellte Gegenstand in Bewegung. Eine Verbesserung erfuhr das Lebensrad 1833 durch Horner, der die Wundertrommel baute, ein heute noch als Kinderspielzeug erhältlicher Apparat. Hier wurde der Bewegungsvorgang durch einen Spalt der Trommelwand beobachtet, deren Innenseite ein Bildband mit Bildern in zeitlich und örtlich aufeinanderfolgenden Bewegungsabschnitten eingelegt war. Der Boden der Trommel drehte sich um einen in der Mitte befindlichen Holzgriff. Die Anzahl der senkrechten Trommelwandspalten stimmte genau mit der Anzahl der Bewegungsphasen auf dem Bildband überein.
Die undurchsichtigen Bilder sind notwendigerweise zuerst Handzeichnungen; die Folge ist große Lückenhaftigkeit in der Zergliederung der einzelnen Bewegungsabschnitte und der dann folgenden Zusammensetzung zur Gesamtbewegung. Auch konnte nur eine sehr beschränkte Zahl von Zuschauern das lebende Bild gleichzeitig sehen. Erst nach der Erfindung der durchsichtigen Bilder, auf Glas gemalt, konnte man die Vorführung vielen Zuschauern zugleich deutlich machen. Wichtige Fortschritte waren die Erfindung der Photographie durch Daguerre und Nièpce 1837. Die photographischen Bilder übertrafen die gemalten natürlich weit an Genauigkeit der Bewegungswiedergabe.
Die erste allgemein hin sichtbare Bewegungsbildvorführung auf einer weißen Wand geschah 1853 durch eine Erfindung des österreichischen Professors Franz von Uchatius. Von da ab drängte der Film immer mehr zur...