1. Advent
Matthäus 21,1–11:
Ankunft im eigenen Leben
Frank Michael Lütze
I Eröffnung: Tochter Zion – freue dich?!
Die Perikopenrevision hat nur auf den ersten Blick das Proprium des Ersten Advents unverändert beibehalten. Nach wie vor eröffnet der Zug Jesu über den Ölberg und das »Hosianna dem Sohn Davids« (V. 9) gemäß der Matthäus-Fassung den Advent. Doch macht die nun festgelegte Erweiterung um zwei Verse (Mt 21,1–11 statt 21,1–9) deutlich, dass die Freude keineswegs ungeteilt ist, vielmehr der von den einen bejubelte Einzug – erst recht im Zusammenhang mit den folgenden Ereignissen im Tempel 21,12–17, die zu dieser Erzählung dazugehören! – auf andere durchaus befremdlich wirkt.
Geradezu meisterlich inszeniert Pier Paulo Pasolini in seinem Film Il Vangelo Secondo Matteo mithilfe Laiendarsteller den Kontrast (die Szene ist im Internet unter den Stichworten »pasolini vangelo tempio« leicht zu finden): Während humpelnde Alte und lärmende Straßenkinder Jesus begleiten und hinter ihm in das zum Tempel umfunktionierte Castel del Monte drängen, mit Zweigen fuchteln und ihr Hosianna herausschreien und damit selbst Pasolinis strengen Jesus zum Lachen bringen (zum ersten und wohl einzigen Mal im ganzen Film), reagieren die Granden des Hauses nachvollziehbar pikiert auf die chaotische, in jeder Hinsicht wenig würdige Szene. Tochter Zion, freue dich?! In einer Zeit, in der merkwürdige Imperative so dicht wie sonst nirgends im Kirchenjahr begegnen – Freue dich! Bereite dich! Öffne dein Herz! und abermals: Freue dich! –, könnte ein Ritardando, das um die Ambivalenz und Anstößigkeit Jesu weiß, geradezu entlastend wirken. Dazu braucht es freilich solider exegetischer Arbeit, um nicht in der einen oder anderen Weise einer Verkitschung der Szene zu erliegen.
II Erschließung des Textes: Das Heiligtum wird zum Heiltum
a) Jesu Weg von Betfage über den Ölberg ist in der Matthäusvariante weder ein klassischer Triumphzug noch der in den Bibelüberschriften angekündigte »Einzug in Jerusalem«. Ersterem hat die Revision nun Rechnung getragen, die die Perikope nicht länger mit der Aufforderung Sagt der Tochter Zion … und einem vollmundigen Hosianna in der Höhe! enden lässt, sondern Tochter Zions skeptische Reaktion noch hinzunimmt: »Wer ist denn dieser?« (V. 10) Das war ein richtiger, sachlich freilich noch kein ganz überzeugender Schritt: Der Zug Jesu bleibt auch im jetzigen Perikopenzuschnitt ein Weg ohne wirkliches Ziel. Die Markusvorlage kaschiert die erzählerische Verlegenheit, indem sie Jesus anschließend eine spontane, inhaltlich nicht motivierte Stadtbesichtigung machen lässt (Mk 10,11). Bei Matthäus hingegen ist – so zu Recht Luz und weitere Kommentatoren – der Tempel das eigentliche Ziel des Einzugs: Auf diesen Ort zielt der Herrschaftsanspruch Jesu, hier zeigt sich, was pra’ys (V. 5) praktisch meint – und hier kulminiert die schon den Einzug begleitende Rivalität zwischen Hosiannarufern zweifelhafter Provenienz und städtischer Aristokratie. Kurz: Es handelt sich bei Mt 21,1–17 um eine einzige durchgehende Erzählung. Wer sie – wie die Perikopenordnung – auf halbem Weg abbricht, läuft Gefahr, dem Jubel seinen eigentlichen Grund, dem Einziehenden sein Programm und nicht zuletzt dem damaligen wie heutigen Beobachter das Recht auf kritische Distanz zu nehmen.
b) Kratzt man ein wenig am adventlichen Blattgold, das aus dem bejubelten Weg den Ölberg herab eine Art messianische Krönungsmesse macht, kommen darunter Ambivalenzen zum Vorschein, die eine einfache erbauliche Adaption signifikant erschweren. Auffällig ist insbesondere die Spannung zwischen Demut und selbstbewusstem Herrschaftsanspruch: Der hier als »sanftmütig« gepriesen wird, lässt sein Reittier nicht, wie noch in Mk 11,3, zeitweilig ausborgen, sondern kurzerhand für den Kyrios konfiszieren; und jener Esel, der in Predigten der Spur von Sach 9,9 folgend gern zum Inbegriff der Demut wird, erinnert nicht zufällig an jenes königliche Maultier, auf dem ein echter Davidssohn wie einst Salomo (vgl. 1 Kön 1,38–40) seine Herrschaft antritt. Noch einmal gesteigert scheint der Anspruch schließlich, wenn der Einziehende das ihm geltende Hosianna selbst im Tempel nicht abwehrt, sondern mit dem Zitat aus Psalm 8 als Gotteslob (!) interpretiert und sich damit mehr oder weniger mit göttlicher Aura umgibt. Wie immer man diesen Anspruch theologisch einordnet (dazu s. u.): Sanftmütigkeit ist durchaus nicht der einzige Gefährt des Einziehenden, der keineswegs für alle Freud und Wonn mit sich bringt. Wer alle Ambivalenzen aus Mt 21 entfernt und daraus ein adventlich-romantisches Bild macht, hat wohl von dem, der da kommt, noch weniger verstanden als das Jerusalemer Establishment, das Anstoß an ihm nimmt.
c) Eine Predigt kann kaum darauf verzichten, den Herrschaftsanspruch des Einziehenden inhaltlich zu untermauern bzw. zu legitimieren. Meist geschieht das durch ergänzend genannte Eigenschaften, die bald dem Traditionsbild des gerechten Königs (gerecht, gütig, demütig – so die Adventslieder), bald moderneren Vorstellungen vom sanften Menschenfreund entlehnt sind. Bricht man aber die Erzählung nicht mit V. 11 ab, sondern lässt den Einziehenden an sein Ziel kommen, so wirken die folgenden Szenen im Tempel wie eine programmatische Selbstvorstellung, eine inauguration speech, die zeigt, was von dieser Herrschaft zu erwarten ist. Dabei bilden die sog. Tempelreinigung, die summarisch berichtete Heilung und das abschließende Lob der Kinder eine dynamische Einheit. Auch wenn die Interpretation insbesondere der »Tempelreinigung« mit Unsicherheiten im Detail behaftet ist (vgl. dazu Luz, 185–187), so dürfte doch der gemeinsame Nenner der drei Szenen darin bestehen, dass ein hierarchisch verwaltetes und für die Aristokratie profitables Heiligtum von Grund auf umgestaltet wird zu einem Heiltum, zu einem heilsamen Ort für Marginalisierte. Der Davidssohn zeigt sich, mit einem alten adventlichen Wort, als Heiland – und zwar vor allem als Heiland derer, die am Rand der Gesellschaft stehen. Dass sie fortwährend »Hosianna dem Sohn Davids!« rufen, ist insofern ebenso sprachlich unsinnig wie es sachlich doch Sinn macht: unsinnig, insofern »Hosianna« von Haus aus keine Akklamation, sondern die griechische Fassung einer Bitte (hebr. hoschiah na, hilf doch!) ist; sachlich dennoch passend, insofern ebendiese Hilfe exakt das Kernanliegen des Einziehenden ist.
d) Vor diesem Hintergrund kann mich die klassische protestantische Allegorisierung von Mt 21 als spiritueller Einzug Jesu ins gläubige Herz nur bedingt überzeugen. Es ist nicht nur der reichlich assoziative Umgang mit dem Bezugstext, der für Menschen, die nicht mit Macht hoch die Tür und Wie soll ich dich empfangen sozialisiert wurden, schwer nachvollziehbar ist. Vor allem nimmt eine rein individuelle Adaption dem Text jene politische Dimension, jene gesellschaftskritische Note, die spätestens dann unüberhörbar ist, wenn man Weg und Ziel, Ölberghosianna und Tempelhosianna zusammenhält. Der Hilf-doch-Messias gehört eben nicht nur in mein Herz, sondern wendet sich dorthin, wo Hilfe am allernötigsten ist; der Einziehende verändert nicht nur Herzen, sondern auch exklusive Selbstbilder und exkludierende Strukturen. Und wenn man denn unbedingt an einer spirituell-allegorischen Lesart festhalten und das eigene Herz als Tempel anbieten möchte (vgl. EG 166,2), dann soll man wenigstens die ganze Geschichte allegorisch lesen: Dann muss auch in diesem »Tempel« das wenig ästhetische Lob der Unmündigen und Unwürdigen seinen Ort haben.
III Impulse: Anstecken statt Aufrufen
Der Advent ist traditionell eine Zeit der Vorbereitungsimperative. Unser Text eignet sich dafür im Grunde denkbar schlecht: Denn Türen und Herzen öffnen, Weg bereiten, jubeln und Palmzweige streuen – von solchen Aktionen ist hier nicht im Imperativ, sondern im Indikativ die Rede. Das alles geschieht einfach, der Herr kommt, Menschen leben auf und können schlecht anders als sich freuen. Das geschieht, aber wo und wann, ist bei diesem Herrn chronisch schlecht voraussagbar; bisweilen spielt eben die beste Musik vor den Toren Jerusalems. Es könnte adventlicher sein, mit der Predigt den Blick darauf zu richten, erzählend die Freude in den Gesichtern von Menschen zu zeigen, als wie der Ansager eines Stars auf der Bühne zu stehen und periodisch wiederkehrend Applaus zu fordern für den, der derweil im Nachbarort auftritt. Pasolinis jubelnden Dreikäsehochs im Tempel, die mit ihren Zahnlücken kaum fehlerfrei Hosianna rufen können, kann man schwer widerstehen. Lassen sich in der Predigt ähnliche Szenen schildern von einem Herrn, der unverhofft auftaucht, und von Menschen, deren Freude darüber ansteckend ist? Während ich an der Predigtstudie sitze, schreibt ein Freund, der gerade in Afrika Theologie studiert, von einer solchen Begegnung. Ich würde sie in meiner Adventspredigt aufnehmen und drucke sie – mit Dank an den Autor – in anonymisierter Form ab:
Werkstück Predigt
Ich war vorgestern bei einem Freund zu Besuch, dessen Mitbewohner ein fröhlicher Muslim ist. In seinen Augen sind wir jetzt schon beide »Pastors«. Als ich mich vorstellte, bat er mich kurzerhand, ihm den Segen Gottes zuzusprechen. Immerhin sei unser Gott doch für uns alle da. So kam es dazu, dass in der kleinen vergitterten und etwas...