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Prekarität, Abstieg, Ausgrenzung

Die soziale Frage am Beginn des 21. Jahrhunderts

VerlagCampus Verlag
Erscheinungsjahr2009
Seitenanzahl424 Seiten
ISBN9783593405230
FormatPDF
KopierschutzWasserzeichen/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis31,99 EUR
Die soziale Frage ist in die politische Öffentlichkeit zurückgekehrt. Begriffe wie Prekarität, Ausgrenzung und Exklusion sind in aller Munde. Was aber wird genau mit diesen Begriffen bezeichnet? Lassen sich die sozialen Spaltungen, die meist von der Arbeitswelt ausgehen, damit angemessen analysieren? International bekannte Autoren wie unter anderen Robert Castel, Serge Paugam und Loïc Wacquant betrachten mit den »Aussteigern«, »Prekariern« und »Ausgegrenzten« unterschiedliche Gruppen und deren soziale Lage. Der Band stellt Anschlüsse an die internationale Debatte um die neue soziale Frage her und verdeutlicht, dass Prekarisierung in den einzelnen europäischen Ländern höchst Unterschiedliches bedeuten kann.

Robert Castel ist Forschungsdirektor an der Pariser École des Hautes Études en Sciences Sociales. Klaus Dörre ist Professor für Arbeits-, Industrie- und Wirtschaftssoziologie an der Friedrich Schiller-Universität Jena.

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Leseprobe
Die Wiederkehr der sozialen Unsicherheit Robert Castel Die Wiederkehr der sozialen Unsicherheit ist ein Hauptmerkmal gesellschaftlicher Entwicklung, an dem seit rund dreißig Jahren die Länder Westeuropas kranken, Deutschland ebenso wie Frankreich. Von einer 'Wiederkehr' zu sprechen bedeutet, im Vergleich zu einem vorhergehenden Zustand eine Verschlechterung zu diagnostizieren. Bis Mitte der 1970er Jahre profitierten die Lohnabhängigen der genannten Länder tatsächlich von dem, was ich an anderer Stelle als 'den sozialen Kompromiss des Industriekapitalismus' bezeichnet habe, von einem Kompromiss also, der sich in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg herausgebildet hatte. Er gewährleistete einen gewissen Ausgleich zwischen Marktinteressen einesteils, das heißt den Erwartungen der Unternehmen in Hinblick auf Produktivität und Wettbewerbsfähigkeit, und den Interessen der Welt der Arbeitenden anderenteils, was den Schutz und die Absicherung der großen Mehrheit der Arbeitnehmer anbelangt. Durchgesetzt wurde, mit anderen Worten, eine allgemeine soziale Absicherung, das so genannte soziale Netz, das die Mehrheit der Bevölkerung in den genannten Ländern vor den wichtigsten gesellschaftlichen Risiken schützte. Das ist der Zusammenhang, vor dessen Hintergrund nun die Wiederkehr der sozialen Unsicherheit zu beurteilen ist. Nachfolgend sollen in aller Kürze die wesentlichen Elemente des genannten Zusammenhangs in Erinnerung gerufen werden, um dann zu fragen, was in den vergangenen dreißig Jahren passiert ist. Welche neue Dynamik hat uns da erfasst, die sich als eine der Verunsicherung, der Prekarisierung zeigt, die früher vorhandene Strukturen in ihr Gegenteil verkehrt und bewirkt, dass Menschen heute in wachsender Zahl von neuem auf sich selbst gestellt sind, dazu verdammt, 'von der Hand in den Mund zu leben', wie es ehedem hieß, und einer ungewissen Zukunft entgegenzusehen? Was den Gang des erwähnten Transformationsprozesses in seinen allgemeinen Zügen angeht, besteht in der sozialwissenschaftlichen Debatte relative Einigkeit. Prekarisierungsprozesse durchziehen unsere Gesellschaften auf breiter Front und destabilisieren die sozialen Sicherungssysteme, die sich im Verlauf der Entwicklung des industriellen Kapitalismus herausgebildet hatten. Schwieriger hingegen sind die Folgen dieser Transformationen für die Sozialstruktur abzuschätzen. Welche Individuen und Gruppen sind besonders betroffen? Bilden sie eine neue gesellschaftliche Klasse, und wenn ja, welche Stellung kommt einer solchen Klasse in der Gesellschaft insgesamt zu? Lässt sich von einem neuen Proletariat oder Subproletariat sprechen, das sich aus den Opfern der augenblicklichen Veränderungen zusammensetzen würde? Das scheint zumindest teilweise der tiefere Sinn der bedeutsamen Debatte zu sein, die in Deutschland um den Ausdruck 'neue Unterschicht' stattfand und noch immer stattfindet. Ich bin unglücklicherweise nicht ausreichend vertraut mit den deutschen Verhältnissen, um in dieser Kontroverse direkt Stellung beziehen zu können. Ich kann allerdings versuchen, etwas über die Art und Weise zu sagen, in der die Frage in Frankreich formuliert wird, wo die Terminologie ein wenig anders ist oder anders eingesetzt wird. Man spricht dort vom Ausschluss, von der Prekarität und der Pauperisierung der Arbeitenden, doch sind das Ausdrücke, die auf die gleichen Probleme zielen - und dabei die gleichen Schwierigkeiten mit sich bringen. Denn darum ist es mir vor allem zu tun: die Komplexität der Fragestellung hervorzuheben, ohne zu behaupten, fertige Antworten zu haben. Tatsächlich scheint es mir gegenwärtig das Beste, die Bedeutung der Probleme hervorzuheben, die durch die Verschlechterung der sozialen Lage in Frankreich und in Deutschland aufgeworfen werden und die Herausforderungen für die Gesellschaft zu klären. Im günstigsten Fall wird es darum gehen, einer meiner Meinung nach weiterhin offenen Debatte über die Auswirkungen der anhaltenden sozioökonomischen Veränderungen ein paar Aspekte hinzuzufügen.
Inhaltsverzeichnis
Inhalt6
Vorwort10
Einleitung12
Die deutsche Sondersituation12
Die Prekarisierungsthese15
Die soziale Frage am Beginn des 21. Jahrhunderts – Theoriefolien, Begriffe, Zeitdiagnosen20
Die Wiederkehr der sozialen Unsicherheit22
1. Von der sozialen Absicherung zur sozialen Unsicherheit24
2. Folgen der Transformationsprozesse für die Sozialstruktur28
Prekarität im Finanzmarkt-Kapitalismus36
1. Landnahme und Prekarität37
2. Sozialer Kapitalismus und marginale Prekarität40
3. Finanzkapitalistische Landnahme und diskriminierende Prekarität42
4. Subjektive Verarbeitung diskriminierender Prekarität48
5. Disziplinierung und soziale Konflikte55
6. Ausblick und Schlussfolgerungen60
Die soziale Frage neu gestellt – Gesellschaftsanalysen der Prekarisierungs- und Geschlechterforschung66
1. Prekarisierungs- und Geschlechterforschung66
2. Geschichte rekonstruieren, um die Gegenwart zu verstehen70
3. Die Trias von Normalarbeitsverhältnis, Familie und Staat71
4. Ein Fazit mit Blick auf die gegenwärtige soziale Frage76
Die »Überzähligen« – Ausschluss aus dem Erwerbssystem, räumliche und soziale Ausgrenzung80
Zur Einführung82
Die Wiederkehr des Verdrängten – Unruhen, » Rasse « und soziale Spaltung in drei fortgeschrittenen Gesellschaften86
1. Gewalt von unten: Rassenunruhen oder Brotrevolten?90
2. Gewalt von oben: Entproletarisierung, Abstieg, Stigmatisierung97
3. Politische Entfremdung und das Dilemma der Strafverfolgung105
4. Schluss: Die Herausforderung für die (Staats-)Bürgerschaft111
Räumliche Segregation und innerstädtisches Getto114
1. Ausgrenzung und ihre Dimensionen116
2. Exklusion durch Segregation121
3. Der Forschungsstand128
4. Empirische Ergebnisse129
Warum Erwerbsausschluss kein Zustand ist132
1. Erwerbsintegration, unsichere Erwerbsbeteiligung und Erwerbsausschluss132
2. Erwerbsausschluss – eine »Grundformel« und ihre Tücken135
3. Ausschluss aus der Statistik – wie still ist die » stille Reserve «?137
4. Erwerbsausschluss durch Aktivierung?141
5. Erwerbsausschluss als »unmöglicher Zustand« und als Gegenstand der Arbeitsmarktbeobachtung143
Eigensinnige »Kunden« – Wie Hartz IV wirkt … und wie nicht146
1. »Strenge Zumutbarkeit« und Eigensinn: eine Typologie147
2. Phänomenologie der Nicht-Arbeit151
3. »Hartz IV wirkt« – aber anders155
Die Überzähligen – Teil der Arbeitsgesellschaft158
1. Die zentrale Bedeutung von Erwerbsarbeit160
2. Die elterliche Sorge als Verbindung zur Arbeitsgesellschaft163
3. Fazit167
Die »Prekarier« – Verstetigung unsicherer Beschäftigungs- und Lebensformen170
Zur Einführung172
Die Herausforderung der organischen Solidarität durch die Prekarisierung von Arbeit und Beschäftigung176
1. Eine doppelte Prekarisierung177
2. Formen der beruflichen Integration und ihre Wirkungen184
3. Unterschiede in Europa190
Das Prekariat – eine neue soziale Lage?198
1. Sozialwissenschaftliche Perspektiven der Prekaritätsdebatte200
2. Prekaritätserfahrungen und Grenzgänger203
3. Das Prekariat – eine neue soziale Lage?206
Die »Prekarier« – eine soziologische Kategorie? Anmerkungen aus einer geschlechtersoziologischen Perspektive210
1. Ein Plädoyer für Differenzierung210
2. Arbeit und Reproduktion211
3. Vulnerabilität durch Erwerbsarbeit214
4. Genderregime in der Transformation216
5. Neue interessenpolitische Konstellationen?218
Entsicherte Verhältnisse – veränderte Dynamiken sozialer Ein- und Entbindung220
1. Organisierte Moderne und Gegenwart221
2. Gestaltwandel des Sozialen223
3. Plädoyer für praxeologische Forschungsstrategien224
Verstetigung prekärer Lebensformen – ein Fall aus der Kinder- und Jugendhilfe230
1. Fallrekonstruktion und Analyse prekärer Lebensformen230
2. Fallbeispiel: »Familie Ziege« aus Mecklenburg-Vorpommern232
3. Entstehung, Reproduktion und Verstetigung von Prekarität239
Prekarisierung – jenseits von Stand und Klasse?242
1. Prekäre Erwerbsarbeit242
2. Prekäre Erwerbslage243
3. Prekäre Lebenslage246
4. Gefühlte Prekarisierung247
5. Ausblick251
Die »Absteiger« – Verunsicherung im Zentrum der Gesellschaft254
Zur Einführung256
»Neue Mitte«: Das Ende der Planwirtschaft260
1. Die »Mitte« als Chiffre gesellschaftlicher Transformation260
2. »Mitte« und Wohlfahrtsstaat: eine historische Paarbeziehung261
3. Eine »mittlere Katastrophe«: Die Krise der fordistischen Planungsökonomie265
4. Politik mit der »Mitte«: Von der Integrations- zur Ausgrenzungskategorie268
»Abstiegssorgen der Mitte« – Flexibilität benötigt Sicherheiten270
1. Zielstellung270
2. Die Diagnose »Abstiegssorgen«270
3. Ursachen der Abstiegssorgen272
4. Wo kann politische Steuerung ansetzen?278
5. Fazit281
Unsicherheit und kreative Arbeit – Stellungskämpfe von Soloselbständigen in der Kulturwirtschaft284
1. Die Kreativwirtschaft als Arbeitsmarkt286
2. »Kreative« in Berlin: die »digitale Bohème«288
3. Der Markt als Integrationsmaschine?289
4. Das Milieu als ständisch geprägter Rückzugsort293
5. »Kreative« im Spiegel der Prekaritätsdebatte294
Prekarisierung von Lernverhältnissen298
1. Die »Lernförmigkeit« der Arbeit301
2. Neue Schließungs- und Selektionsmechanismen303
Prekarität und verunsicherte Gesellschaftsmitte – Konsequenzen für die Ungleichheitstheorie308
1. Einleitung308
2. Konsequenzen für die Ungleichheitstheorie310
3. Schlussfolgerungen314
Die (Un-)Solidarischen – Partizipation und Selbstorganisation der Unorganisierbaren318
Zur Einführung320
Politische Verarbeitungsformen gefühlter sozialer Unsicherheit: » Attraktion Rechtspopulismus «324
1. Unsicherheit, Ungerechtigkeit und Machtlosigkeit325
2. Die populistische Lücke330
Solidarisierung im Feld der Kulturberufe?334
1. Kollektives Handeln bei marktgängiger Individualisierung337
2. »Selbstintegration« als Dimension von Professionalität340
3. Individualisierung, Professionalisierung, Solidarisierung?343
Gewinne der Selbstorganisierung? Das Beispiel Frauenbewegung346
1. Keine Handlungsfähigkeit ohne Lohnarbeit?347
2. Prekär und selbstorganisiert: Die Frauenbewegung350
3. Ausblick354
Gewerkschaften und Prekarität – neue Wege des Organizing358
1. Einleitung358
2. Gewerkschaftliche Organisierung in den USA359
3. Organizing in Deutschland364
4. Fazit366
Von der Anomie zur Organisierung: Die Pariser Banlieue370
1. Anomie und Desorganisation372
2. Le Mouvement de l’Immigration et des Banlieues376
Schlussbemerkung382
Literatur388
Autorinnen und Autoren422

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